Die Standards für Audio Video-Übertragung eignen sich für industrielle Anwendungen mit harten Echtzeiteigenschaften: IEEE 802.1AS erlaubt die zeitliche Synchronisierung aller Netzwerkteilnehmer ähnlich wie IEEE 1588v2.

Die Standards für Audio Video-Übertragung eignen sich für industrielle Anwendungen mit harten Echtzeiteigenschaften: IEEE 802.1AS erlaubt die zeitliche Synchronisierung aller Netzwerkteilnehmer ähnlich wie IEEE 1588v2.

Im Kern ist Standard-Ethernet, wie es IEEE 802.3 und 802.1 definieren, weder deterministisch noch echtzeitfähig; auf den ersten Blick also scheinbar ungeeignet für Automatisierungsaufgaben, bei denen es auf ein planbares Zeitverhalten und garantierte Reaktionszeiten auf Ereignisse ankommt. Dennoch hat sich Ethernet als universelle Kommunikationstechnologie auch in der Industrieautomation durchgesetzt. Typische Vertreter sind Profinet, Ethernet/IP, Modbus TCP oder Foundation HSE. Ethernet hat allerdings einen großen Vorteil: Es ist ungeheuer schnell. Hält man die Netzlast niedrig, wiegt dies bei den meisten Anwendungen den fehlenden Determinismus auf. Mit zusätzlichen Mechanismen auf Applikationsebene wie Geräteparame-trierung, -steuerung und -überwachung beispielsweise bei Profinet werden viele Anforderungen der Industrieautomatisierung abgedeckt. Allerdings gibt es viele Applikationen, die harte Echtzeitanforderungen stellen, also eine Synchronisation von Ereignissen mit Auflösungen deutlich unter 1 ms. An erster Stelle stehen hier Motion-Control-Applikationen, aber auch andere Prozesse, die eine präzise zeitliche Synchronisation erfordern.

Die IEEE Task Group Time Sensitive Networking (TSN) arbeitet an Kommunikationsmechanismen für ein hart echtzeitfähiges Standard-Ethernet.

Die IEEE Task Group Time Sensitive Networking (TSN) arbeitet an Kommunikationsmechanismen für ein hart echtzeitfähiges Standard-Ethernet.Sdecoret, Fotolia.com

Für diese Anwendungen haben sich spezielle Ethernet-Systeme etabliert. Die nutzen zwar die physikalische Schicht von Ethernet, legen darüber aber eine eigene, generell nicht standardkonforme Protokollebene: Profinet IRT, Ethercat oder Sercos III. Für deren Implementierung ist eine spezielle Hardwareunterstützung notwendig, da die Standardbausteine für Ethernet die speziellen Protokoll-Erweiterungen nicht implementiert haben. Damit sind diese Systeme nicht konform zu den Standards IEEE 802.1 und 802.3, das heißt: Es handelt sich letztlich um Insel-lösungen für bestimmte Applikationen.

Ein spezieller Vertreter von Echtzeit-Ethernet stellt Powerlink dar. Dessen Basis bildet ein Zeitscheibenverfahren, das alle Netzwerkteilnehmer softwareseitig umsetzen. Um bei diesem System die Echtzeiteigenschaften zu gewährleisten, sind anstatt Switches heutzutage nicht mehr übliche Hubs notwendig. Außerdem müssen sämtliche Netzwerk-Teilnehmer Powerlink unterstützen, sonst wird die Kommunikation gestört.

Allen derzeit verfügbaren Lösungen decken einen wichtigen Bedarf ab, fristen aber ein Inseldasein und unterstützen letztlich weder die horizontale noch die vertikale Integration von Ethernet.

IEEE 802 standardisiert neue Echtzeitmechanismen

Auf die besonderen Anforderungen des im Vergleich zum Gesamtmarkt für Ethernet kleinen Segments Industrieautomation wurde bei der Weiterentwicklung der Ethernet-Standards nur wenig Beachtung geschenkt. Jetzt erhält die Automatisierung allerdings Schützenhilfe von einem anderen, weitaus größerem Anwendungssegment, das ebenfalls Mechanismen zur Echtzeitkommunikation benötigt – die Übertragung von Audio- und Video-Strömen über das Netzwerk. Dieser Use Case erfordert ebenso verlässliche Synchronisationsmechanismen wie die Automation. Mit Hinblick auf diese Anwendung hat die IEEE 802.1 unter dem Begriff ‚AVB – Audio Video Bridging’ mehrere Standards verabschiedet, die verbesserte Echtzeitfähigkeiten in Ethernet einbringen. Im Einzelnen sind das:

  • IEEE 802.1AS – Zeitsynchronisation,
  • IEEE 802.1Q-2011 – Traffic Shaping und Stream-Reservierung und
  • IEEE 802.1BA – AVB Systems.

Standard-Echtzeitfähigkeit – so funktioniert‘s

Die Echtzeitfähigkeit wird durch das Zusammenspiel aller IEEE 802.1 AVB Technologien erreicht: IEEE Std. 802.1BA ­beschreibt das AVB-Gesamtsystem. Darin werden die Anforderungen an AVB-konforme Geräte definiert und die Koexistenz von AVB und Standard-Ethernet sowie anderer Netzwerktechnologien wie IEEE 802.11 Wireless LAN aufgezeigt.

Alle Teilnehmer benötigen eine verlässliche Zeitbasis. Hierfür gibt es den in der Automatisierungstechnik verbreiteten Standard IEEE 1588-2008 zur Zeitsynchronisation, an den sich auch der AVB- Mechanismus IEEE 802.1AS anlehnt. Formal ist dies ein Profil der IEEE 1588-2008, unterscheidet sich aber beispielsweise hinsichtlich der definierten Geräteklassen oder der unterstützten Transporttechnologie: IEEE 802.1AS schließt die in IEEE 1588-2008 spezifizierten Layer-3- Transportmechanismen aus und nutzt lediglich Layer 2. Hervorzuheben ist, dass IEE802.1AS auch drahtlose Netzwerke spezifiziert. Die Netzwerkteilnehmer ermitteln die Laufzeiten im Netz und können sich auf eine Grandmaster-Uhr synchronisieren. Alle AVB-fähigen Geräte, Switche und Endstationen müssen 802.1AS beherrschen. Damit wird sichergestellt, dass alle AVB-Geräte mit einer gemeinsamen Zeitbasis arbeiten.

IEEE Std. 802.1Qat: Wesentlicher Kern von AVB sind Streams – Datenströme von einer Quelle (Talker) zu einem oder mehreren Konsumenten (Listener). Diese AVB-Streams haben Priorität vor allen anderen Netzwerkdaten. Die erforderliche Bandbreite und der Pfad durch das Netzwerk werden durch das Stream-­Reservation-Protokoll (SRP) geplant. Jeder AVB-Switch ist dabei für die Überwachung der an seinen Ports verfügbaren Bandbreite verantwortlich. Der Talker schickt ein Paket, mit dem er seinen Stream im Netz ankündigt. Die Listener können sich für den Bezug des Streams anmelden. Dabei wird der Weg den die Datenpakete im Netzwerk nehmen festgelegt und die Bandbreite reserviert. Überschreitet die Anforderung eines Streams die noch verfügbare Bandbreite eines Switch-Ports, kann der Stream nicht übertragen werden. Dieser Ablauf sorgt dafür, dass nur Kommunikationsbeziehungen aufgebaut werden, für die eine konstante, garantierte Dienstqualität zur Verfügung steht. Gleichzeitig ermittelt das SRP in den Switches die maximale Latenz eines Streams. AVB spezifiziert in der Generation 1 zwei Stream-Klassen, die unterschiedliche Anforderungen an die Verzögerung vom Talker zum Listener erfüllen: Klasse A ist für eine maximale Verzögerung von 2 ms unter normalen Bedingungen spezifiziert, während die Klasse B 50 ms Latenz garantiert.

Die Standards für Audio Video-Übertragung eignen sich für industrielle Anwendungen mit harten Echtzeiteigenschaften: IEEE 802.1AS erlaubt die zeitliche Synchronisierung aller Netzwerkteilnehmer ähnlich wie IEEE 1588v2.

Die Standards für Audio Video-Übertragung eignen sich für industrielle Anwendungen mit harten Echtzeiteigenschaften: IEEE 802.1AS erlaubt die zeitliche Synchronisierung aller Netzwerkteilnehmer ähnlich wie IEEE 1588v2.Belden

Für die eigentliche Übertragung der Daten muss die höchste Priorität für den AVB-Datenverkehr gewährleistet sein. Gleichzeitig darf der ‚gewöhnliche‘ Datenverkehr aufgrund der höher priorisierten Streams aber nicht zum Erliegen kommen. Die ‚Forwarding and Scheduling Enhancements‘ von IEEE 802.1Qav definieren dazu den ‚Credit-Based Shaper’, den AVB-fähige Switche anstatt der bislang verwendeten Vermittlungssteuerung mit festen Prioritäten nutzen. Dieses Verfahren ermöglicht es, Frames von AVB-Streams mit hoher Priorität Vorrang bei der Vermittlung gegenüber Standard-Ethernet-Frames mit niedriger Priorität zu gewähren. Es speist den Datenverkehr so ins Netz ein, dass zwischen den hochprioren AVB-Paketen genug Lücken bleiben, um auch den übrigen Datenverkehr sicher zu übertragen. Hochpriore AVB-Frames können so maximal 75 % der Bandbreite an einem Switchport über ein definiertes Zeitintervall belegen. Der Credit-Wert wird beim Abschicken von AVB-Frames verringert und füllt sich wieder auf, nachdem ein Datenpaket niedriger Priorität übertragen wurde. Jeder AVB-Teilnehmer muss diesen Mechanismus umsetzen, wie natürlich auch alle anderen AVB-Standards. Durch dieses Verfahren werden bereits an der Quelle nur so viele Daten eingespeist, wie sich im Netzwerk auch verträglich übertragen lassen. Die Vorplanung über das Stream-Reservation-Protokoll stellt sicher, dass die dafür notwendige Kapazität auch bereitsteht. IEEE Std. 802.1Qat und 802.1Qav wurden in die IEEE 802.1Q-2011 integriert.

An der Entwicklung dieser Standards arbeiten auch die großen Hersteller der Ethernet-Chipsätze für Endgeräte und Infrastrukturkomponenten mit. Hierin liegt die große Chance: Erstmals unterstützt Standard-Ethernet weitergehende Mechanismen für den Datenverkehr in Echtzeit. Für diesen, als Generation 1 bezeichneten Standard gibt es bereits die ersten Produkte am Markt.

IEEE 802 entdeckt die Industrieautomation

Warum Generation 1? Weil die 2. Generation mit nochmals erweiterten Möglichkeiten in Vorbereitung ist. An der
Definition der Ziele und erweiterten Mechanismen dieser Generation 2 engagieren sich federführend Vertreter von Hirschmann Automation & Control, Siemens sowie der Hochschule Deggendorf. Bei den Erweiterungen liegt das Augenmerk auf den Anforderungen für die Industrieautomation. Inzwischen sind aber auch Vertreter namhafter Automobilhersteller und -Zulieferer in der Arbeitsgruppe aktiv. Deren Ziel: Die Nutzung der Echtzeittechnologien auch für Anwendungen von Ethernet im KFZ. Hierfür wurden in der IEEE 802.1-Arbeitsgruppe bereits mehrere neue Projekte gestartet:

Das Projekt IEEE P802.1ASbt spezifiziert Erweiterungen und Verbesserungen zur IEEE Std. 802.1AS. Dies umfasst unter anderem Themen wie hochverfügbare Zeitsynchronisation, etwa die Spezifikation von Redundanzmechanismen für die Zeitsynchronisation sowie die Unterstützung mehrerer Zeitdomänen zur Übertragung verschiedener Uhrzeiten.

IEEE P802.1Qbv: Der für AVB-Generatoin 1 standardisierte Shaper ermöglicht es, die höchst mögliche Latenz für einen Stream zu ermitteln. Die sich daraus ergebende Latenzgarantie liegt im Bereich von wenigen Millisekunden. Das Standardisierungsprojekt IEEE P802.1Qbv definiert einen neuen zeitbasierten Shaper (Time Aware Shaper), der sowohl eine zeitbasierte Einspeisung von Nachrichten in ein Netzwerk, als auch die zeitbasierte Weiterleitung der Nachrichten im Netzwerk (in den Switches) beschreibt. Dadurch kann für diese neue Art von Traffic (Scheduled Traffic) eine minimale Latenz garantiert werden. Die Verbindung dieses Verfahrens mit Cut-through Switching verringert die Latenz zusätzlich. In Gigabit-Netzwerken lassen sich Latenzen im Bereich von wenigen Mikrosekunden je durchlaufenem Netzwerkswitch erreichen.

Der Time Aware Shaper ist eine Erweiterung von AVB für die Generation 2 (TSN), mit dem für zeitkritische Daten zu genau definierten Zeiträumen der Kommunikationsweg exklusiv freigehalten werden kann.

Der Time Aware Shaper ist eine Erweiterung von AVB für die Generation 2 (TSN), mit dem für zeitkritische Daten zu genau definierten Zeiträumen der Kommunikationsweg exklusiv freigehalten werden kann.Belden

IEEE P802.1Qca: Dieses Projekt definiert im Wesentlichen Erweiterungen für Shortest Path Bridging (SPB). SPB ist ein Layer-2-Routing-Protokoll, das eine Kommunikation auf dem kürzesten Pfad durch ein Netzwerk ermöglicht. Dadurch lassen sich Netzwerke effizienter nutzen und kürzere Rekonfigurationszeiten erreichen, als dies zum Beispiel mit dem Rapid-Spanning-Tree-Protokoll (RSTP) möglich wäre. Die Erweiterungen ermöglichen es zum einen AVB in Verbindung mit SPB zu verwenden. Zum anderen werden neue Mechanismen definiert, mithilfe derer sich auf Basis eines Routing-algorithmus redundante Pfade durch das Netzwerk ermitteln und nutzen lassen.

IEEE P802.1Qbu: Zur Verbesserung der Konvergenz der bestehenden Traffic-Klassen und Verringerung der Latenz des Datenverkehrs, soll in diesem Projekt ein Preemption-Mechanismus definiert werden. Dieser Mechanismus erlaubt es, dass der Switch die Übertragung eines, sich bereits in der Übertragung befindlichen Daten-Frames unterbrechen kann, um ein höher priores Frame zu übertragen. Danach wird die Übertragung das unterbrochenen Framen fortgesetzt. Da dieser Mechanismus eine Unterstützung in den unteren Layern im ISO/OSI-Model voraussetzt, sind Änderungen in den Standards der IEEE 802.3 notwendig, an denen die neue gegründete IEEE 802.3 DMLT Study Group arbeitet: Die ‚Distinguished Minimum Latency Traffic in a Converged Traffic Environment Study Group’ wurde im November 2012 gegründet und soll Mechanismen zur Verringerung der Latenz und Verbesserung der Konvergenz von verschiedenen Traffic-Klassen untersuchen. Geplant ist, dass diese Study Group eng mit der IEEE 802.1 Working Group zusammenarbeitet, um ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das sowohl die künftigen Anforderungen im Automobil als auch der Industrie erfüllt. Auch ein neuer Name ist vorgesehen: Entsprechend ihrer neuen Ausrichtung hat sich die AVB Task Group im November 2012 in Time Sensitive Networking (TSN) Task Group umbenannt.

Die Echtzeitmechanismen, die durch AVB oder künftig TSN zur Verfügung stehen, bilden eine neue Basis im Ethernet-Standard, auf den die industriellen Applikationsprotokolle aufbauen können. Die ­heute noch erforderlichen, nicht dem Ethernet-Standard entsprechenden Spezialprotokolle sind dann obsolet. Der Grund: Existierende, standardkonforme Protokolle, beispielsweise Profinet RT, Ethernet/IP oder Modbus/IP können die künftig in den Ethernet-Chipsätzen verfügbaren Echtzeitmechanismen von AVB/TSN verwenden. Endanwender werden sich noch gedulden müssen. Für Gerätehersteller ist aber jetzt der Zeitpunkt, sich mit AVB Generation 1 zu beschäftigen und ihre Produkte und Protokolle für den Einsatz der zweiten Generation (TSN) vorzubereiten.

Dr. Peter Fröhlich,

ist Director Business Development bei Hirschmann Automation & Control in Neckartenzlingen sowie Professor für Embedded Systems an der Hochschule ­Deggendorf.

Christian Boiger

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Deggendorf.

Oliver Kleineberg

ist Program Manager Tofino Security bei Byres Security in Lantzville Canada.

(sk)

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