Herr Holz, Sie sind seit sieben Monaten für die Heavy Industrial Solutions bei SEW Eurodrive verantwortlich. Welches Produktspektrum umfasst die Division?

Es umfasst die Verantwortung für die Industriegetriebe, also Großgetriebe, weltweit. Dazu gehören immer mehr auch Systemlösungen, also nicht nur das Sologetriebe. Der Trend in Europa geht klar in Richtung Antriebspakete und Systemlösungen. Das heißt, der Kunde möchte neben dem Getriebe auch Bremse, Kupplung, Motor, Umrichter und die Steuerung als komplettes System auf einer Stahl/Schweiss-Schwinge geliefert bekommen. Und darauf haben wir uns eingestellt. SEW hat, wie kaum ein anderer in der Branche, die mechanische, elektrische, elektronische und auch Softwarekompetenz in-house. Dies wollen wir auch für das Industriegetriebegeschäft nutzen. In China oder auch in den USA ist der Trend zu Systemen noch nicht so spürbar. Da verkaufen wir meist noch Sologetriebe mit gängigen Optionen.

Wenn Sie das Solution-Geschäft vorantreiben muss auch die Beratungskompetenz vorhanden sein.

In Europa kann man in etwa von zwei Drittel sogenannten Engineered to Order (ETO) und ein Drittel Assembled to Order (ATO) ausgehen. Das heißt, die Aufträge, bei denen wir keinen Konstruktionsanteil haben, sind eher in der Minderheit. In vielen Fällen müssen wir kundenbezogen konstruieren und anpassen. Wie auch unsere Wettbewerber im Industriegetriebegeschäft, haben wir in bestimmten Fällen nicht jede theoretisch mögliche Option in unserem Baukasten zur Verfügung und das führt unter anderem dazu, dass wir einen hohen Engineered-to-Order-Anteil haben. Und dies bedeutet, dass auch eine hohe Beratungskompetenz vorhanden sein muss.

Wie kann ich mir so ein Projekt vorstellen?

Da muss man differenzieren, ob wir uns mehr im Verdrängungswettbewerb bewegen oder ob es ein komplett neues Anlagenprojekt ist. Bei der Verdrängung müssen wir kritisch beurteilen, was wir als Unternehmen und unsere Antriebe mehr leisten, damit wir den Wettbewerber – häufig unter Beibehaltung bestimmter Anschlussmaße – auch ersetzen können. Und wenn es ein neues Projekt ist, dann können wir mehr an unserem Standardbaukasten orientierend auslegen. Da hat man häufig die Möglichkeit, mit dem Kunden gemeinsam in einem frühen Stadium eine Art Co-Engineering durchzuführen. Darüber hinaus haben derartige Projekte häufig internationalen Charakter, wo man grenzüberschreitend zu Beginn des Projektes intensive Koordinationstätigkeiten und Beratungsleistungen auf der Kundenseite (inklusive Endkunde, EPC usw.) und mit der eigenen Vertriebsorganisation durchführen muss. Unseren Kunden sind immer mehr global aktiv und stellen demzufolge auch entsprechende Anforderungen.

Sie müssen sicher auch mit mehreren anderen Abteilungen innerhalb von SEW zusammenarbeiten. Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit? Kaufe ich die Leistungen zum Beispiel bei der Division Servoantriebe zu?

Hauptschnittstellen intern sind klar das Engineering und die anderen Business Units. Die Produktverantwortung für Servoantriebe ist bei uns in der Business Unit Classic platziert. Dort kaufen wir im Bedarfsfall intern diese Produkte zu. Ähnliches gilt auch für andere SEW-Produkte.

Im Allgemeinen haben wir unseren Innovationsbereich nach Produktkategorien klassifiziert und so gibt es einen, ich sage mal zu den anderen Engineering-Bereichen abgegrenzten Bereich ­Industriegetriebe. Wir haben natürlich Schnittmengen, weil wir sowohl in der Anpassungskonstruktion als auch in der Serienkonstruktion die Anforderungen des Marktes kanalisieren müssen. Und dann haben wir auch Schnittstellen zur Logistik hier im Haus, wenn wir über die Produktreihen X aus dem Werk Bruchsal, unsere neuen Stirnrad-/Kegelstirnradgetriebe, und P, ­unsere Planetengetriebe, sprechen. Geht es um andere Produktreihen, die in Finnland, China oder Brasilien gefertigt werden, müssen wir natürlich auch das koordinieren und zu einem erfolgreichen Abschluss führen.

Bei einem Produkt, das schon seit Jahrzehnten auf dem Markt ist, sind die ­Innovationssprünge nicht mehr so groß. Wo gibt es noch Chancen entwicklungstechnisch anzusetzen?

Das ist sicherlich eine wesentliche Frage, die Sie ansprechen. Beispielsweise haben wir bei unserer X-Reihe durch ein intelligentes modulares Konzept bei den Verzahnungen erreicht, dass wir in der Antriebsstufe eine reduzierte Varianz und in den Vorstufen bei zwei aufeinanderfolgenden Größen identische Zahnräder verwendet werden können. Damit lässt sich mit einer geringen Anzahl von Teilen ein breites Spektrum abbilden. Auf Basis unserer Marktstrategie haben wir entschieden, bestimmte Prioritäts-Branchen und ­-Applikationen zu bedienen, wir sprechen von sogenannten Foma, also Field of Main Activities. Wir konzentrieren uns beispielsweise auf Material Handling, auf Mining, Cranes/Container Handling und auf die entsprechenden Applikationen, die dafür benötigt werden. Um einen möglichst großen Gravitationseffekt zu erzielen, setzen wir standardisierte Tochterprogramme ein. Damit ist sichergestellt, dass wir das Rad nicht ­immer wieder neu erfinden müssen, entsprechende Kundenanforderungen abbilden können und den Konstruktionsaufwand sowie die Komplexität möglichst gering halten.

Im Verdrängungswettbewerb kommt es auf die kleinsten Features an. Aber die Getriebe aller Hersteller unterscheiden sich heute nicht mehr groß?

Es ist äußerst wichtig, neben dem Produkt auch zusätzliche Mehrwerte wie kompetenten lokalen Service oder andere Dienstleistungen und Vorteile, wir sprechen von ‚Drives Benefits‘, unseren Kunden zu bieten.

Also das Stichwort ‚Drive Benefits‘ gilt auch für die Industriegetriebe?

Ja. Das gesamte Value Based Selling, wie man sagt, das wollen wir natürlich auch für das Industriegetriebegeschäft unseren Kunden offerieren. Typische Dienstleistungen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel das Variantenmanagement, die elektronische Bestellabwicklung, das Produkt-Labeling oder auch unser Ersatzteile-Shop. Für die Bestellung von Ersatzteilen gibt es übrigens auch eine App.

Das Thema Condition Monitoring ist sicherlich etwas, womit man punkten kann?

Dem Thema Condition Monitoring stellen wir uns bereits und können bei den Getriebemotoren schon ein umfassendes Spektrum abdecken, um potenzielle Produktionsausfälle beim Kunden zu minimieren. Bei den Industriegetrieben haben wir noch etwas Nachholbedarf. Wir haben beispielsweise Sensoren für Ölalterung und Schwingungen, aber es sind noch vergleichsweise einfache Lösungen. Das werden wir natürlich auch weiter pushen. Aber wie Sie schon richtig sagen: SEW ist mehr als nur das Produkt. Wir haben eine hohe Logistik- und Prozesskompetenz. Wir sind bereits bei zahlreichen Kunden langjähriger Lieferant und viele dieser Kunden haben auch einen Bedarf an Industriegetrieben. Da ist die Einstiegshürde relativ gering, weil uns diese Kunden von unserem klassischen Geschäft her bereits kennen. Wir können natürlich dem Kunden eine intensive, lokale Betreuung bieten, was Service betrifft. Ob das jetzt Reparaturen sind, Wartungen, Ersatzteilbelieferung, also Vieles, was auch immer mehr in Richtung präventiver Instandsetzung geht. Das haben wir uns auch auf die Fahne geschrieben und das bedingt natürlich auch, dass wir dann dezentral entsprechende Servicelevels vorhalten können. Nicht nur das Equipment, die Werkzeuge, sondern auch die Mitarbeiter, die dieses Geschäft lokal betreiben, müssen ein entsprechendes Qualitäts- oder Qualifikationsniveau haben. Das bedingt natürlich auch systematische Schulung.

Das Thema Energiesparen treibt die ganze Antriebs- und Automatisierungsbranche an. Wie sieht es für die Getriebelösungen aus? Ist das ein großes Thema?

Natürlich haben wir uns bereits dieser Herausforderung gestellt und können unseren Kunden energieeffiziente Lösungen anbieten. SEW kann auf eine Vielzahl realisierter Applikationen und Energiesparlösungen in verschiedensten Branchen zurückgreifen. Daher bieten wir auch eine Energieberatung an, um eine möglichst sinnvolle, der Anwendung und Aufgabe angepasste Kombination von Getriebe, Motor, Steuerungstechnik und Software mit unseren Kunden zu erzielen. Wir haben die entsprechenden Effizienzklassen bis IE 3 in unserem Programm, IE 4 ist in Vorbereitung. Allerdings haben wir von den Leistungsbereichen nach oben hin nicht alle Baugrößen in unserem Programm. Das heißt, wir müssen die größten Leistungsklassen ab 375 kW aktuell noch zukaufen. Da stellt sich künftig aber die Frage: Make or buy?

Als Ingenieur neigt man gerne zum Over-Engineering. Wie überzeugen Sie den Kunden von besseren konstruktiven Lösungen?

Wenn der Kunde kein Standardgetriebe aus unserem Katalog nehmen kann, dann ist man immer gut beraten, sich möglichst nah am Standard zu orientieren und den Kunden von dieser Lösung zu überzeugen. Dies erfordert eine technisch kompetente Beratung und Applikations-Know-how. Aber letztendlich führt auch der zunehmende Kostendruck bei unseren Kunden vermehrt zu standardnahen Lösungen, weil diese kostengünstiger zu realisieren sind. Engineering kostet eben auch Geld.

Das heißt also ‚maßgeschneidert aus dem Baukasten‘?

Wo immer es möglich ist. Mit unserer noch relativ neuen X-Reihe können wir unseren Kunden maßgeschneidert ein umfangreiches Programm bieten. Unsere Baugrößenabstimmung ist die feinste im Markt. Dies ermöglicht eine bessere Anpassung an die Maschine des Kunden und verhindert Über- beziehungsweise Unterdimensionierung. Dadurch ergeben sich auch Kosten- und Gewichtsersparnisse. Weitere Vorteile sind Wartungsfreundlichkeit und Flexibilität bei dem Anpassen an Kundenapplikationen durch unser robustes Universalgehäuse. Wir verfügen auch über modular aufgebaute Tochterprogramme, die branchenspezifisch oder applikationsspezifisch standardisiert sind, beispielsweise unser Tochterprogramm der Becherwerks- oder Förderbandantriebe.

Welches Potenzial gibt es denn noch im Getriebebereich? Wo könnten sich neue Lösungen auftun?

Wir beobachten sehr genau die Markt- und Technologietrends und berücksichtigen diese auch in unserer Strategie. Potenzial ist für uns ausreichend im Markt gegeben. Wir sehen vor allem in den Sektoren Material Handling, Mining/Minerals, Cranes/Container Handling sowie Umwelt/Recycling noch ausgezeichnete Wachstumsmöglichkeiten. Hier werden wir verstärkt weitere Applikationslösungen für das Fördern, Mischen, Pressen und Schreddern unseren Kunden anbieten.

Gibt es da überhaupt noch Möglichkeiten, die Industriegetriebe weiterzuentwickeln?

Diese sind zweifelsohne gegeben. So gibt es beispielsweise in der Forschung bereits Projekte mit Getrieben ohne Öl oder Zahnrädern aus spezifischen Kunststoffen. Ich sehe auch im Industriegetriebebereich weitere Optimierungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Mechatronik oder das Optimieren der Schnittstellen in einem Antriebssystem. Dies sind nur einige Beispiele, die potenzielle Weiterentwicklungsmöglichkeiten verdeutlichen sollen.

Harald Wollstadt

Chefredakteur der IEE

(hw)

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