Unter solchen Bedingungen zu arbeiten, bedeutet eine höhere Belastung des gesamten Kraftwerks. Insbesondere für die dickwandigen Komponenten, durch die der Dampf vom Dampferzeuger zur Turbine transportiert wird und wo die größten Temperaturwechsel auftreten. Denn der Start eines Kraftwerks kann im Extremfall einen Temperaturanstieg in diesen Bauteilen um beinahe 500 °C mit sich bringen. Beim Abschalten sieht es ähnlich aus, nur im umgekehrten Verhältnis. Um sicherzustellen, dass für eine konstante Energieversorgung gesorgt ist und der variierende Bedarf erfüllt werden kann, wird die Anzahl der Ein- und Ausschaltwechsel in der Zukunft rapide zunehmen.

Bei häufigen steilen Temperaturtransienten sind Komponenten wie Behälter, Ventile, und Sammler Materialermüdung und Rissbildung ausgesetzt. In Folge dessen kann sich deren Lebensdauer verkürzen, was einen negativen Effekt auf die betriebliche Leistungsfähigkeit, die Instandhaltung und auf die Energieproduktion hat. Für Axel Schulz, den koordinierenden Ingenieur im Team für Belastungsberechnung und Design, beim TÜV Nord Systec in Hamburg, ist die Auswertung und Lösung der ingenieursmäßigen Herausforderungen von Temperaturzyklen für die Strom- und Chemieindustrie ein primärer Fokus. Diese Projekte haben in der letzten Zeit in Folge des neuen Energieprogramms in Deutschland an Bedeutung gewonnen. „Die Deutsche Regierung hat einen ambitionierten Plan aufgestellt, um Nuklearenergie bis 2022 durch Wind- und Solarenergie zu ersetzen“, erläutert Schulz. „Um die schwankende Energieproduktion der neuen Technologien auszugleichen, haben wir einen erhöhten Bedarf an schnell-startenden Kraftwerken.“ Da die Energieindustrie allmählich grüner wird, ist es wahrscheinlich, dass dieser Trend sich weltweit durchsetzt.

Funktionsweise von Kraftwerken verbessern

Als Antwort auf die sich verändernden Bedingungen hat der
TÜV Nord ein ‚Cycle Optimized Operation Program‘ (Coop) entworfen, um Anlagenstandards, Leistung und Management zu verbessern. „Wenn Evaluierung und Versuche realitätsnahe Ergebnisse liefern“, sagt Schulz, „kann die Planung der Betriebs- und Leerlaufzeiten viel effizienter vorgenommen werden, und Kosten können kontrolliert werden.“ In Deutschland sind die Vorschriften für Kraftwerke nicht nur besonders strikt, sondern auch extrem konservativ und -basieren auf übervereinfachten Annahmen: momentan werden die An- und -Abfahrprozesse als näherungs-quasi-statische Vorgänge berechnet und Wärmeübertragungskoeffizienten nicht berücksichtigt – die Dampftemperatur ist der Wandtemperatur gleichgesetzt. Aufgrund dieser Vereinfachungen können Ermüdungen und Schädigungswahrscheinlichkeiten an Bauteilen und Baugruppen deutlich überbewertet werden.

Im ersten Modul des zweiteiligen Coop-Prozesses verwenden die Ingenieure Abaqus-Fluid-Structure-Interaction (FSI) genannte Funktionalitäten, um tatsächliche Wärmeübertragungsbedingungen innerhalb einer Komponente zu simulieren. Dies führt zu einer realistischeren Bewertung der Bauteilbelastung und zu weniger konservativen Auslegungsvorschriften. Weiter ermöglicht die Abaqus-FSI-Simulation eine verbesserte innere Form der Komponenten, um Druckverluste, Belastungen und Lärmemissionen zu verringern. Das zweite Modul des Coop verwendet auch ‚Extended Finite Element Methods‘ (XFEM) und ermöglicht Rissausbreitungsanalysen, um Rissgeometrie und Risswachstum zu berechnen. Diese Analysen erlauben es dem Ingenieur-Team neue Sicherheitsstandards zu bestimmen und die Lebensdauer genauer einzuschätzen. „Durch die Verwendung von Simulation können wir bessere Empfehlungen für Vorschriften machen und präzisere Inspektionsintervalle vorschlagen. Ungeplante Wartungen und kostspielige Reparaturen können vermieden werden“, stellt Schulz fest.

Versuchsergebnisse verifizieren Simulation

Um die Methodik des Coop-Programms zu validieren, hat das TÜV-Nord-Team eine Analyse an zwei chemischen Prozessbehältern vorgenommen; an Komponenten, die in der chemischen Herstellung verwendet werden und die auch häufigen Leerlaufzeiten und extremen Temperaturwechseln ausgesetzt sind. „Wir haben uns entschlossen, diese Behälter zu untersuchen, da wir der Chemieindustrie Dienstleistungen anbieten, und diese Prozessbehälter haben Betriebsbedingungen, die den Frischdampfkomponenten sehr ähneln, die es in Kraftwerken mit schnellen Zykluszeiten gibt“, sagt Schulz. In diesen für die Studie ausgewählten Behälter hatten sich Risse gebildet, sodass das Team der Ingenieure FEA-Ergebnisse mit physikalischen Messergebnissen vergleichen konnte.

Die Prozessbehälter wurden mit Standzargen-Dehnungsfugen konstruiert, die aus warmfestem Stahl hergestellt und so entworfen sind, dass sie die thermische Belastung während eines Zyklus verringern. Während des Anfahrens wurde der Behälter mit 490 °C heißem Medium beaufschlagt. Während des Abschaltens wurde Wasser mit einer Temperatur von 50 °C eingefüllt, das die Temperatur des Behälters in 45 Minuten um 250 °C herunter kühlte. Der Behälter war den Belastungen, die diese extremen Temperaturwechsel mit sich bringen rund 200 Mal im Jahr oder einmal alle 33 Stunden ausgesetzt. Das Ergebnis dieser häufigen und extremen Lastwechsel war, dass sich in allen 82 Dehnungsfugen Risse gebildet hatten. Die Risse befanden sich an der gleichen Position, variierten aber in Länge und Tiefe, abhängig von ihrer Betriebsdauer. Die Ingenieure konnten aufgrund der symmetrischen Form und der relativ konstanten Betriebsbelastung für ihre -Simulation einen 15°-Sektor-Abschnitt dieses Prozessbehälters modellieren.

Als Teil des ersten Coop-Moduls führte das Team eine sequentiell gekoppelte thermische Stressanalyse durch. In diesem speziellen Fall war eine weiterführende FSI-Berechnung nicht erforderlich. Sie bauten diese Simulation mit tatsächlichen Betriebsdaten für Temperatur (Wärmeübertragung), Massenstrom (Geschwindigkeit) und Druck sowie der gegebenen Komponentengeometrie auf. Die Ergebnisse zeigten, dass ein Belastungsmaximum von schätzungsweise 1,15 MPa (linear-elastisch) sowohl beim Aufheizen als auch beim Abkühlen auftrat, wenn die Temperaturtransiente am steilsten war. Im Rahmen der Ermüdungsanalyse konnte die Lebensdauer der Baugruppe auf 400 Zyklen, oder circa zwei Jahre, berechnet werden.
Im zweiten Coop-Modul verwendete das Ingenieurteam die Ergebnisse der realen Spannungsberechnungen als Ausgangspunkt und führten dann eine Shape-optimierung durch, indem sie die Form der Dehnungsfugen änderten – dieselbe Technik kann auch für eine Behälterform verwendet werden. Sie stellten fest, dass geringfügige Änderungen der Form die Ermüdungsfestigkeit verbessern können und dass die resultierende Druckverluste und lokalen Biegespannungen verringert werden können, wenn die Geometrien hinsichtlich der Durchflussverbesserung geändert werden.

Um die Interaktionen zwischen Behälterbeanspruchung, Ermüdung, Rissgeometrie und Rissausbreitung besser verstehen zu können, benutzte das Team die Einsatzmöglichkeiten von XFEM in Abaqus mit Konturintegralberechnungen. „Die XFEM-Methode ermöglicht es, Risswachstum über die Elemente zu studieren, wie es bisher nicht möglich war“, erklärt Schulz. „Die Konturintegralberechnung befähigt uns, die Werte der Belastungsintensität für eine ganze Serie von Risstiefen und -formen zu analysieren.“ Diese Analysen zeigten, dass die größten Belastungen auftreten, wenn der Behälter sich am schnellsten aufheizt. Die Belastung nimmt mit steigender Risstiefe ab und der Riss wächst an der Außenseite der Zarge schneller, als an der Innenseite.

Dann verglich das Team seine Simulationen mit physikalischen Versuchen, bei denen es Belastungs- und Rissmessungen an den Behältern selbst durchführten, um die Abaqus-FEA-Ergebnisse zu verifizieren. „Sowohl für die Spannungsverteilung als auch für das Risswachstum stellten wir eine gute Übereinstimmung zwischen den Abaqus-Ergebnissen und den Versuchsresultaten fest“, sagte Schulz. „Es wurde erkennbar, dass mit zunehmender Zyklenzahl, beziehungsweise mit zunehmender Risstiefe das Risswachstum abnimmt.“

Simulation ermöglicht klarere Einsichten

Für den TÜV Nord hat die realistische Simulation ein Fenster in die Black-Box des Kraftwerkbetriebes geschaffen. Mit einem besseren Einblick und einem höheren Verständnis der Spannungen thermischer Zyklen kann das Ingenieurteam Empfehlungen an Anlagenbetreiber geben, die Energiewerkbetriebsprozesse und Aufbau der Systemkomponenten verbessern. Laut Schulz umfassen die Verbesserungen insbesondere die Dauer der An- und Abfahrzeiten sowie ein präziseres Timing der Wartungs-, Service- und Inspektionszyklen. Das Design der Komponenten kann in Richtung einer höheren Lebensdauer verbessert werden. Verringert man beispielsweise das Spannungs- und Ermüdungslevel einer Frischdampfkomponente, könnte man Ersatzteilkosten in Höhe von 200.000 Euro einsparen. Das Coop-Programm ist so konzipiert, dass ungeplante Reparaturen verhindert und Reinvestments verringert werden können.
„Seit Anfang 2011 arbeiten wir in Deutschland mit dem Coop-Konzept und bald werden wir es sowohl für Energie- als auch für Chemieindustriekunden weltweit einsetzen“, sagte Schulz. „Durch das Einbeziehen fortgeschrittener FEA-Werkzeuge in unsere Methodik, tragen wir dazu bei, verlässlichere und flexiblere Kraftwerke zu schaffen.“ Hohe Flexibilität wird sehr wahrscheinlich eine unerlässliche Fähigkeit für Energieunternehmen werden, die danach streben, die Spitzen- und Talwerte der zukünftigen Energieversorgung zu beherrschen.

Volkmar Schönfeld

: Product Sales Representative bei der Dassault Systemes Deutschland GmbH.

(mf)

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