Beispielanwendung für haptische Eingabegeräte. ifak

Beispielanwendung für haptische Eingabegeräte. (Bild: ifak)

Es gibt bereits Ansätze zur Realisierung einer haptischen Interaktion – auf Basis verteilter Vibrationssensoren oder elektrostatischer Kräfte. Diese erfordern jedoch stets eine hohe Dichte an Aktoren, um ein haptisches Feedback auf der kompletten Displayfläche zu realisieren. Eine lokale Auslenkung lässt sich ebenso mithilfe einer Interferenz elastischer Wellen (Mehrpfadausbreitung und Überlagerung) auf Platten erreichen. Insbesondere die Umkehrbarkeit von strukturelastischen Wellen auf Oberflächen, ermöglicht es, mit einer reduzierten Anzahl an Aktoren viele zeitlich und lokal begrenzte Vibrationszentren durch Refokussierung des Schalls zu erzeugen. Sogar die Nachbildung von Strukturen durch den Wechsel vibrierender und nicht vibrierender Flächen sowie eine Rückkopplung bei bestimmten Interaktionen, wie das Berühren eines Tastenfeldes, sind technisch möglich. Der Nutzer berührungssensitiver Bildschirme erhält so eine lokal begrenzte haptische Rückmeldung.

Abstecher in die Theorie

Oberflächenauslenkung in einem Punkt: Prinzip einer vibro-haptischen Interaktion in einem Fokuspunkt auf einer Platte durch zeitliche und örtliche Überlagerung elastischer Wellen – ausgehend von einer reduzierten Anzahl von Schallwandlern. ifak

Oberflächenauslenkung in einem Punkt: Prinzip einer vibro-haptischen Interaktion in einem Fokuspunkt auf einer Platte durch zeitliche und örtliche Überlagerung elastischer Wellen – ausgehend von einer reduzierten Anzahl von Schallwandlern. ifak

Die bei dem Verfahren genutzte Methode der Zeitumkehr (time reversal) kommt bereits in der Medizintechnik, Werkstoffprüfung oder Lokalisierung von Fingerberührungen auf Oberflächen erfolgreich zum Einsatz. Das Verfahren ermöglicht bereits mit wenigen elektroakustischen Wandlern die Realisierung fühlbarer lokal begrenzter Oberflächenauslenkungen durch Überlagerung vibroakustischer Wellen. Die Refokussierung basiert auf der Umkehrbarkeit akustischer Wellen zwischen zwei festen Sende- und Empfangspunkten in linearen isotropen, schwach dämpfenden Medien.

Die ideale Replikation eines Quellsignals über die Zeitumkehr erfordert einen sogenannten idealen Zeitumkehrspiegel. Dieser Spiegel besteht aus unendlich vielen Empfängern, die die Schallquelle vollständig umschließen und das gesamte akustische Feld aufzeichnen. Die zeitliche Inversion jedes dieser Empfangssignale und deren synchrone Aussendung würde zu einer konstruktiven örtlichen und zeitlichen Interferenz und Replikation des gesendeten Originalsignals im Punkt der ursprünglichen Quelle führen.

Vom idealen zum realen Zeitumkehrspiegel

Auf abgeschlossenen Systemen wie Platten lässt sich ein Zeitumkehrspiegel auch mit einer reduzierten Anzahl von Empfangspunkten realisieren. Voraussetzung hierfür ist eine gering dämpfende Platte. In diesem Fall würden (nach bestimmter Zeit) in Folge der Mehrfachreflexionen an den Plattenrändern einer sich auf der Platte ausbreitenden Welle die Messpunkte sämtliche Signalpfade und -anteile enthalten. Durch Dämpfungs- und Abstrahlungseffekte sowie den Verlusten in den elektro-akustischen Wandlern selbst, ist dieser Zeitumkehrspiegel nicht ideal realisierbar. Dennoch hat der zweite Ansatz das Potenzial, technisch umsetzbar zu sein.

Verschiedene Faktoren erschweren derzeit die Umsetzung des Verfahrens. Unter anderem ist das die physikalische Wellenlänge, welche die minimale Ausdehnung des vibrierenden Bereichs begrenzt. Typischerweise bestehen berührungsempfindliche Systeme aus Glas oder Kunststoff mit Plattendicken von wenigen Millimetern. Aufgrund der Vielzahl von elastischen Wellenmoden, die auf diesen Platten ausbreitungsfähig sind, ist es zudem für die Auslegung eines haptischen Systems auf das Empfindlichkeitsmaximum der Finger essenziell, eine geeignete Wellenform anzuregen, wenn möglich monomodal im Bereich der Fühlschwellen. Als weitere Hürde erweist sich die effiziente Einprägung der notwendigen elastischen Energie zur Erzeugung einer Oberflächenauslenkung mit vertretbarem Aufwand.

1×1 der Haptik: Wie Finger fühlen

Für die Interaktion einer Person mit einem Eingabebildschirm ist die Wahrnehmungsschwelle des Tastsinns der Finger die wesentliche Größe. Entsprechend der unterschiedlichen Mechano-Rezeptoren der Finger (Druck, Dehnung, Vibration, Berührung) wird zwischen statisch passiver (taktiler) und dynamisch aktiver (haptischer) Wahrnehmung unterschieden. Bei einer Bewegung des Fingers über eine glatte Oberfläche lassen sich Rauigkeiten beziehungsweise Erhebungen ab etwa 1 µm erfassen. Wohingegen die Wahrnehmungsschwelle für statische, unbewegte Höhenunterschiede mit über 1 mm um ein Vielfaches höher liegt. Folglich ist aus Sicht der benötigten mechanischen Energie für die Umsetzung einer fühlbaren Rückkopplung ein vibrierendes System vorteilhafter.

Einteilung der am häufigsten vorkommenden Mechano-Rezeptoren der Finger: Vater-Pacini-Körperchen mit einer maximalen Sensitivität für Vibrationen senkrecht zur Hautoberfläche ab 5 µm Auslenkung mit einer Frequenz zwischen 40 Hz und 300 Hz; Meissner-Zelle zur aktiven Erkennung von Erhebungen (bei Bewegung der Hand) ab 1 µm; Ruffini-Körperchen (rechts) zur Erfassung horizontaler Auslenkungen ab 0,2 µm. ifak

Einteilung der am häufigsten vorkommenden Mechano-Rezeptoren der Finger: Vater-Pacini-Körperchen mit einer maximalen Sensitivität für Vibrationen senkrecht zur Hautoberfläche ab 5 µm Auslenkung mit einer Frequenz zwischen 40 Hz und 300 Hz; Meissner-Zelle zur aktiven Erkennung von Erhebungen (bei Bewegung der Hand) ab 1 µm; Ruffini-Körperchen (rechts) zur Erfassung horizontaler Auslenkungen ab 0,2 µm. ifak

Zu den relevanten und am häufigsten vorkommenden Rezeptoren zählen langsam adaptierende Merkel-Zellen (empfindlich für anhaltende senkrechte Druckreize), Ruffini-Körperchen (empfindlich für Gewebsdehnung und Scherung), schnell adaptierende Meissner-Körperchen (empfindlich für Berührung und Druckveränderungen bis zu 1 µm) und sehr schnell adaptierende Vater-Pacini-Körperchen (empfindlich für Vibration). In Summe hängt die haptisch perzeptorische Fühlschwelle der Finger von der vertikalen und horizontalen Auslenkung (akustische Energie), der Anregungsfrequenz (Wellenlänge) und der Form der transienten Auslenkung (Wiederholfrequenz und Gradient der Auslenkung) ab. Die auf senkrechte Beschleunigungen reagierenden Vater-Pacini-Körperchen weisen ihre höchste Empfindlichkeit bei Vibrationsfrequenzen im Bereich zwischen f = 40 Hz und 300 Hz auf. Die zugehörige perzeptorische Schwelle für vertikale Auslenkungen beginnt bei etwa 5 µm. Zudem ermöglichen Ruffini-Körperchen die Erfassung von transversalen Auslenkungen ab etwa 0,2 µm. Die Meissner-Zellen senken wiederum die Fühlschwelle, wenn der Finger über die Oberfläche bewegt wird. Ein lokal begrenzte haptische Rückkopplung – beispielsweise als Reaktion auf das Berühren einer virtuellen Taste auf dem Touchscreen – müsste demnach durch Auslenkung der Oberfläche über 5 µm mit Wiederholraten von 300 Hz erfolgen. Die entsprechende Auslenkung lässt sich durch verschiedene elektrodynamische (akustische Körperschallwandler) oder piezoelektrische Aktoren mit geringem Aufwand erzeugen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, die Vibration lokal auf die Größe der berührten Taste zu begrenzen.

Ausbreitung elastischer Wellen auf Displays

Displaydiagonale und  Material beeinflussen Fokussierung und Stärke der Vibrationen. Wellenlänge der A0-Mode für verschiedene Materialien (links).   ifak

Displaydiagonale und
Material beeinflussen Fokussierung und Stärke der Vibrationen. Wellenlänge der A0-Mode für verschiedene Materialien (links).
ifak

Mit dem Ziel, möglichst wenige akusto-elektrische Wandler außerhalb der haptischen Interaktionsfläche einzusetzen, und vorrangig die Mehrpfadausbreitung elastischer Wellen für die Fokussierung zu nutzen, haben die elastischen und geometrischen Eigenschaften des Bildschirms wesentlichen Einfluss auf die Qualität der Fokuspunkte. Aus der Vielzahl an Wellenmoden ist vorrangig die asymmetrische Biegewelle (A0-Mode) mit einer ausreichenden senkrechten Auslenkung und genügend kleinen Wellenlängen im Frequenzbereich f < 300 Hz für das Verfahren nutzbar.

Darstellung der transienten Wellenform in Relation zur Wellenlänge, Fühlschwelle und effektiver (gefühlter) Ausdehnung des Fokus­bereichs (rechts). ifak

Darstellung der transienten Wellenform in Relation zur Wellenlänge, Fühlschwelle und effektiver (gefühlter) Ausdehnung des Fokus­bereichs (rechts). ifak

Im Bereich des haptischen Empfindlichkeitsmaximums variiert beim aufgeführten Beispiel die Wellenlänge des A0-Modes von 160 bis 290 mm (Wellenlänge). Die halbe Wellenlänge kann an dieser Stelle als Richtwert für die minimal erreichbare laterale Signalbreite (Ausdehnung des Vibrationsfokus) genutzt werden. Wobei die effektiv fühlbare Fokusbreite zusätzlich von der Fühlschwelle und der eingeprägten Signalenergie abhängt.
Mit steigender Frequenz lässt sich die Fokusgröße wesentlich verringern. Allerdings steigt dann die erforderliche Signalenergie aufgrund der kleineren Oberflächenauslenkung für die höheren Moden und der abnehmenden Fühlempfindlichkeit der Finger (für höhere Frequenzen) proportional. Weiterhin entstünden durch die Abstrahlung in Luft akustisch wahrnehmbare Störsignale. Zudem hat die Materialauswahl großen Einfluss auf die Fokusweite: Bei gleicher Wellenlänge entsteht bei Glas eine nahezu doppelte Fokusweite im Vergleich zu Acryl.

Was heute machbar ist: Noch nichts für kleine Displays

Ausdehnung des  Fokusbereiches im Zeitumkehrpunkt für eine Glas- und Acrylplatte gleicher  Dimensionen (500 x 500 x 2 mm). Bei Glas ist die Fokusweite fast doppelt so breit. ifak

Ausdehnung des
Fokusbereiches im Zeitumkehrpunkt für eine Glas- und Acrylplatte gleicher
Dimensionen (500 x 500 x 2 mm). Bei Glas ist die Fokusweite fast doppelt so breit. ifak

Bisherige Studien zeigen: Auf Plattenstrukturen ist die Synthese einer zeitlich und örtlich definierten Auslenkung unter Anwendung der Zeitumkehr von elastischen Wellen möglich. Abhängig von der Signalenergie und dem Plattenmaterial lässt sich der transiente Impuls für den haptisch fühlbaren Bereich von 300 Hz und Auslenkungen von mehr als 5 µm realisieren. Aufgrund der Abhängigkeit von Wellenlänge und lateraler Fokusbreite erscheint die Umsetzung vorrangig für größere Systeme aussichtsreich.

Die Aussage wurde bereits in einem einfachen Messaufbau validiert. Mithilfe von lose mit einer Kunststoffplate gekoppelten Körperschallwandlern lassen sich mit einem Lasertriangulationssensor hinreichende Messwerte der realen und erwarteten Auslenkung zwischen 5 und 20 µm ermitteln. Zudem unterlegt eine bisher nicht veröffentlichte Studie mit rund 70 Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts die ‚blinde‘ Erkennung des Fokus in Abhängigkeit der subjektiven Fühlschwellen am gleichen Laboraufbau. Folglich erscheint die Realisierung einer robusten und gering störanfälligen haptischen Interaktion auf Grundlage elastischer Wellen für ‚größere‘ berührungssensitive Bildschirme im industriellen Bereich oder an öffentlichen Automaten aussichtsreich.

Hannover Messe 2016: Halle 9, Stand D69

Sebastian Wöckel, Hendrik Arndt und Dr. Ulrike Steinmann

arbeiten am Institut für Automation und Kommunikation (ifak) in Magdeburg.

(sk)

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Unternehmen

ifak Institut f. Automation u. Kommunikation e.V. Magdeburg

Werner-Heisenberg-Str. 1
39106 Magdeburg
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