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(Bild: Phoenix Contact)

Um Windenergienalgen besteigen zu können, braucht es einen Kletterschein. Autor Philip Dauer im Außeneinsatz.

Um Windenergienalgen besteigen zu können, braucht es einen Kletterschein. Autor Philip Dauer im Außeneinsatz. Phoenix Contact

Bei Windenergieanlagen handelt es sich nicht nur um die größten rotierenden, sondern gleichzeitig um die mit rund 20 Jahren am längsten betriebenen Maschinen. Daher müssen Ermüdungslasten-Nachweise geführt werden. Sie stellen sicher, dass die Anlagen sowohl langjähriger Belastung als auch extremen Lastspitzen, die durch außergewöhnliche Ereignisse entstehen, standhalten. Ein solcher Extremlastfall tritt dabei  statistisch betrachtet in der Realität nur einmal in 50 Jahren auf.

Zur Erprobung von Lösungen ist also ein Ansatz nötig, der bei der Entwicklung von Hard- und Software einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren an Ermüdungslasten berücksichtigt. Außerdem sollten sich extreme Lastsituationen nachstellen lassen – im Feld unmöglich. Denn entweder ist die Störgröße eine stochastische Variable oder aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht beeinflussbar. Wind lässt sich nicht beherrschen, ein Spannungseinbruch im Netz aufgrund der Kombination aus speziellen Windsituationen und einem Netzfehler kaum nachstellen. Trotzdem gibt es tausende geprüfte, sichere, zuverlässige und profitabel arbeitende Windenergieanlagen. Es liegt also eine Lösung vor.

Algorithmus gegen Modell

Im Hardware-in-the-loop-Prüfstand für Windenergieanlagen kommt ein offenes Controller-Design in Form der linuxbasierten Steuerung AXC 3051 zum Einsatz.

Im Hardware-in-the-loop-Prüfstand für Windenergieanlagen kommt ein offenes Controller-Design in Form der linuxbasierten Steuerung AXC 3051 zum Einsatz. Phoenix Contact

Lösungen für moderne Windenergieanlagen werden mit einem modellbasierten Ansatz entwickelt, wobei die Abbildung des physikalischen Verhaltens der Anlagen mit einem modalen Ansatz erfolgt und die daraus abgeleiteten Differenzialgleichungen im Zeitbereich numerisch gelöst werden. So lässt sich ein komplexes, nicht lineares System beschreiben, das erhebliche Kopplungen insbesondere der Aerodynamik und Elastik aufweist. Neben der Bewegung der Körper im Raum erhält der Entwickler die simulierten Lasten, die an den einzelnen Subsystemen und Schnittstellen wirken – im Zeitraffer und unter frei veränderlichen, kontrollierten Bedingungen. So lassen sich 20 Jahre Laufzeit in wenigen Tagen im virtuellen Zeitraffer sowie extreme Situationen anhand eines speziellen Satzes von Parametern nachstellen.

Mit den gängigen Modellen können Ergebnisse erreicht werden, die die Wirklichkeit hinreichend gut abbilden. Dabei kommen je nach Zielsetzung Tools wie Bladed, Fast oder Hawk2, aber auch selbst erstellte Modelle zum Einsatz. Phoenix Contact nutzt bei der Entwicklung der Modelle Software der Firma Morewind, die sich auf die Modellierung und Lastenberechnung von Windenergieanlagen spezialisiert hat. Nach der Modellierung wird in der Regel die Betriebsführungs- und Regler-Software mit industrieüblichen Tools wie Matlab in einem iterativen Verfahren entwickelt und auf einem PC stets Algorithmus gegen Modell getestet – Regler versus Model, also Software versus Software. Der Test ‚Software-in-the-loop‘ (SIL) ist in der Windindustrie gängige Praxis.

Kopplung von Anlagen- und Simulationssteuerung

Linuxbasierte Steuerung AXC 3051

Bei der Steuerung Axiocontrol AXC 3050 sind Funktionen wie schnelle Zähler und Event-Tasks direkt integriert. Sie ermöglichen kurze Reaktionszeiten, ohne dass spezielle I/O-Module verwendet werden müssen. Das robuste und EMV-feste Gehäuse eignet sich für die Nutzung in Windenergieanlagen und funktioniert auch in Offshore-Windparks. Um lokale Stationen (zum Beispiel in Nabe oder Gondel) aufzubauen, lassen sich die Module des I/O-Systems Axioline F an die modulare Steuerung anreihen. Über die drei Ethernet-Schnittstellen kann die Steuerung in bestehende Park-Netzwerke eingebunden und um weitere dezentrale I/O-Module ergänzt werden. Der Anwender hat hier die Wahl zwischen den Kommunikationsprotokollen Profinet, TCP/IP, UDP oder Modbus/TCP, wobei die Steuerung sowohl als Profinet-Controller als auch -Device fungiert. Ein USB-Anschluss ermöglicht das Loggen von Daten auf Wechselmedien und Updaten des Steuerungsprogramms. Bei Spannungsausfällen sichert die Axiocontrol-SPS alle Steuerungsdaten der Anwendung automatisch auf eine Flash-Karte.

Neben der Komplexität des physikalischen Systems sehen sich Entwickler von Betriebsführungs-Software moderner Windenergieanlagen mit einem zunehmenden Schwierigkeitsgrad bei den einzelnen Gewerken konfrontiert – vom Sensor über das Bussystem bis zum Aktor. Im Kontext von Industrie 4.0 wird sich dieser Effekt in Zukunft noch verstärken, da diese unmittelbar Einfluss auf die Komplexität der Kommunikationsinfrastruktur nimmt. An dieser Stelle kommt der Hardware-in-the-loop-Test (HIL) ins Spiel: Um beispielsweise auf eine aufwendige Modellierung des physikalischen Verhaltens spezifischer Hardware-Module zur Analogwert-Verarbeitung oder des Betriebssystem-Verhaltens der Zielplattform für die Anlagenautomatisierung zu verzichten, stellt Phoenix Contact ein zweistufiges Verfahren zur Verfügung.  Zunächst wird der Regelalgorithmus durch eine automatische Code-Generierung direkt aus Matlab für die Steuerung kompiliert und in die Entwicklungsumgebung PC Worx eingebunden. Dort verbindet der Entwickler den Regler, der durch SIL verifiziert wurde, mit der restlichen Software, beispielsweise der Netzbetreiber-Ankopplung, den Sensorik-Treibern oder der Daten-Logging-Software. Auf diesem Weg erhält man die vollständige Betriebsführungs-Software. Sie wird anschließend auf die Steuerung überspielt.

Parallel lässt sich das Anlagenmodell auf eine Linux-RT-basierte SPS kopieren und mit den Ein-/Ausgangsmodulen verbinden. Diese bilden jeweils das exakte Gegenstück zu den Modulen, die die Anlagensteuerung verwendet, und imitieren mit den Informationen aus dem Modell das entsprechende Systemverhalten. Die Anlagensteuerung wird dann mit der Simulationssteuerung gekoppelt und es entsteht ein geschlossener Regelkreis – Hardware versus Hardware – mit allen Totzeiten, dem Systemverhalten und Programmaufrufen in Echtzeit. Dabei bemerkt die Anlagensteuerung nicht, dass sie ein Modell anstatt einer realen Windenergieanlage regelt. Somit brauchen Betreiber zu Testzwecken keine Veränderungen an der Betriebsführungs-Software vornehmen. Der praktikable und wirtschaftliche Ansatz schafft Prozesssicherheit und erhöht gleichzeitig die Testqualität.

Anlagen-Retrofit auf Basis von Hardware-in-the-Loop

Viele Windenergieanlagen arbeiten mit Automatisierungssystemen, die zum Teil Jahrzehnte alt sind. Ersatzteile zu beschaffen ist daher aufwendig und teuer. Außerdem bieten die Lösungen nur eingeschränkten Zugriff auf die Anlagensteuerung und -diagnose. Mit einem Retrofit lassen sich dagegen neue gesetzliche Rahmenbedingungen erfüllen und teilweise die Einspeisevergütung steigern – ein klassisches Szenario für einen Hardware-in-the-loop-Prüfstand. Dazu wird die Windenergieanlage in einem ersten Schritt modelliert. In der Regel setzt dies vorab Messungen voraus und die Parameter des Modells müssen anschließend so weit angepasst werden, bis sie das reale Verhalten der Anlage last- und leistungsäquivalent widerspiegeln – das sogenannte Parameter-Fitting. Danach überführt der Entwickler das Modell auf die Simulationssteuerung und implementiert die notwendigen Schnittstellen (Sensor-Aktor-Simulation) so, dass die zu ersetzende Anlagen-SPS (Black Box, an  Simulationssteuerung angeschlossen), nicht bemerkt, dass sie ein Modell und keine reale Windenergieanlage regelt.

Die Simulation erzeugt dann Normwindfehler und reproduziert in Echtzeit Referenzlasten sowie Erträge mithilfe der alten SPS. Im nächsten Schritt verbindet der Entwickler die neu entworfene Steuerung mit der gleichen Simulations-SPS wie die auszutauschende Anlagensteuerung und legt identische Lastfälle zugrunde. In diesem Zusammenhang lassen sich aktuelle Regelungs-Algorithmen wie prädiktive modellbasierte Regler in Kombination mit aktueller Sensorik – wie dem Rotor Blade Tension Monitoring – einsetzen, um ertrags- und lastoptimiert zu regeln. Wie bei der alten Steuerung werden die Simulationsergebnisse auf einen Analyserechner transferiert, sodass sie sich vergleichen lassen. Mit dem neuen Automatisierungskonzept können nicht nur Erträge verbessert, sondern auch Lasten reduziert werden.

Verlängerung der Lebensdauer

Mithilfe neuer Sensorik wie dem Rotor-Blade-Tension-Monitoring-System können Betreiber die Laufzeit von Anlagen verlängern. So lässt sich die Referenzbelastung eines Gewerks mit dem HIL-Prüfstand unter verschiedenen Belastungsszenarien kosteneffizient ermitteln. Dazu muss nur die zu ersetzende Black Box mit einer Echtzeit-Simulation gekoppelt und die Lasten auf den ursprünglich angenommenen Lebenszeitraum extrapoliert werden. In der realen Anlage kommt dazu die vorab im SIL-/HIL-Verfahren optimierte Soft- und Hardware zur Anwendung. Online lässt sich ein Lastenzeugnis generieren, das sich aus den tatsächlichen Lasten ergibt. Diese stets aktuelle Information ist jederzeit mit der Referenzlast vergleichbar. Erweist sich die Referenzlast als kleiner als die tatsächliche Last, ist die maximale Lebensdauer erreicht und ein Weiterbetrieb nicht zulässig. Liegt die tatsächliche Last unter der Referenzlast, können Betreiber die Windenergieanlage weiterhin einsetzen.

Rotor-Blade-Tension-Monitoring-System

Die Monitoring-Lösung RBTM (Rotor Blade Tension Monitoring) dient der kontinuierlichen Schwingungs-Überwachung der Rotorblätter einer Windenergieanlage (WEA).  Mithilfe von Dehnungsmessstreifen, die in die Rotorblätter eingeklebt sind, lassen sich die Beanspruchungen der Rotorblätter messen. Beim Überschreiten eingestellter Grenzwerte kann über frei programmierbare Digitalausgänge ein Alarm gesetzt werden. Zusätzlich stehen Daten für eine Analyse zur Verfügung. Die Datenübertragung erfolgt entweder über ein optional erhältliches Modem oder direkt über den in der WEA verfügbaren Feldbus. Dabei lässt sich die Monitoring-Lösung in nahezu jede Busumgebung wie Profinet, Profibus, Modbus oder CAN integrieren. Je nachdem, ob das System nachgerüstet oder direkt in das elektrische Design der Anlage eingeplant werden soll, stehen zwei verschiedene Versionen zur Verfügung: Für Retrofits bietet sich die Box-Lösung an, bei der ein fertig konfektionierter Schaltschrank zum Einbau in die Nabe geliefert wird. Eine Lösung auf SD-Karte ist für Anwender gedacht, die die Steuerung und die I/O-Module in die Pitch-Schaltschränke einbauen möchten.

Philipp Dauer

arbeitet im Bereich ‚Industry Solutions Wind‘ bei der Phoenix Contact Electronics GmbH in Bad Pyrmont.

(mns)

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Phoenix Contact Electronics GmbH

Dringenauer Str. 30
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