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(Bild: Mesago/Thomas Klerks)

Fehlfunktionen elektronischer Baugruppen können mitunter lebensbedrohlich sein. Die Anlagerung von Luftfeuchtigkeit, Korrosion, die elektrostatisch bedingte Anziehung von Staub auf der Oberfläche oder Kondensatbildung können das Board verschmutzen.

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Die Podiumsdiskussion während der SMT Hybrid Packaging 2017 hatte zum Thema die Baugruppenzuverlässigkeit und Reinigung.“ Mesago/Thomas Klerks

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Olaf Römer von ATEcare (l.), spezialisiert auf Testen und Inspizieren, erklärte anschaulich, warum Haarrisse auf der beschichteten Oberfläche einer elektronischen Baugruppe nicht ohne Weiteres zu detektieren seien. Helmut Schweigart von Zestron Europe setzte sich mit Reinheitszuverlässigkeitsfragen auseinander. Mesago/Thomas Klerks

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Die Reinigung in der Fertigung von elektronischen Baugruppen hat einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis, die Zuverlässigkeit und den Yield, ist Helmut Schweigart von Zestron Europe überzeugt. Stephan Baur von BMK, reinigt Baugruppen, wenn die Anforderungen gegeben sind, da No-Clean-Flussmittel zum Einsatz kommen. Durch die Moderation führte Marisa Robles. Mesago/Thomas Klerks

Diese Verunreinigungen verursachen unter Umständen Kurzschlüsse und damit Langzeitschäden und Fehlfunktionen in der Elektronik. Eine wesentliche Rolle hinsichtlich Fehlfunktionen spielt die elektrochemische Migration (ECM), wird es häufig als Auslöser diskutiert, wenn Fehlfunktionen im Feld auftreten. Was also ist zu beachten, damit die Schutzbeschichtung am Ende auch wirklich schützt?

„Elektrochemische Migration ist meiner Meinung nach extrem selten vorzufinden“, hat Stephan Baur, Mitgründer und Gesellschafter von BMK, die Erfahrung gemacht. Er muss es wissen, denn als EMS-Anbieter gehört die Schutzbeschichtung zum Dienstleistungsportfolio dazu. Der Jahresdurchsatz lackierter Baugruppen, die jährlich bei BMK vom Band laufen, beziffert er mit 1 Mio. Stück, wobei 10 verschiedene Lacke an mehreren Lackieranlagen beziehungsweise Lackierlinien zum Einsatz kommen. Für den reibungslosen Ablauf und einer hohen Beschichtungsqualität sorgen rund 40 Mitarbeiter. „Wenn wir Elektrochemische Migration bei Rückläufern aus dem Feld gesehen haben, dann konnte man immer eine von außen stammende Verunreinigung feststellen“, merkt er ergänzend an und nennt als Beispiel ausgelaufenes Elektrolyt von Elektrolytkondensatoren. „Eine Elektromigration aus einer Betauung heraus konnten wir bisher nicht feststellen.“ Immerhin finden die von BMK gefertigten Baugruppen in vielen Bereichen ihre Anwendung, wie etwa in der Wasserwirtschaft, Smart Metering oder Industrie-PCs, die sehr viele Umrichter respektive Wechselrichter bedingen.

Notwendige Vorarbeit zum Baugruppenschutz

Auch wenn Elektrochemische Migration als ein eher seltenes Phänomen erscheinen mag, Feuchtigkeit ist und bleibt ein hartnäckiger Feind der elektronischen Baugruppe. Sie ist für Störungen und auch für Kriechströme verantwortlich. Nicht selten sind die Schädigungen so gravierend, dass es zum Ausfall der elektronischen Baugruppe kommt. Aber auch die Miniaturisierung fordert ihren Tribut. Mit den sich immer mehr reduzierenden Leiterbahnabständen steigt die dazwischenliegende Spannung immens. Daher ist es mehr denn je erforderlich, unter wirtschaftlich optimalen Bedingungen die Funktionsfähigkeit der Geräte auch im späteren Einsatz sicherzustellen.

Definitionen

Unter Elektromigration (EM) versteht man einen durch Strom also Elektronendruck bedingten Materialtransport von Metallatomen/-ionen aus dem Kristallgitter und deren Ersatz durch Leerstellen. Dabei entstehen oft exzentrische Auswüchse an den Oberflächen bzw. Körnern und ein Versagen der Bauteile durch Leitungsunterbrechung aufgrund der Fehlstellen.

Unter Elektrochemischer Migration (ECM) versteht man eine meist dendritisch aussehende Kurzschlußbildung zwischen zwei Potentialen. Getrieben wird der Mechanismus durch die galvanische Wasserzersetzung nach Betauung oder in stabilen Feuchtigkeitsfilmen. Die entstehende Alkalität löst Metallionen aus anodischen Lötstellen oder Leitern, die sich dendritenbildend  an Massekontakten wieder abscheiden. Verunreinigungen begünstigen die Betauung.

Einer der wichtigsten Stellhebel für einen effektiven Baugruppenschutz ist das richtige Leiterplattenlayout. Bereits bei der Designphase gilt es, das Anforderungsprofil genau auszuloten und kritische Stellen nach Möglichkeit zu entschärfen, weshalb Baur bekräftigt: „Das Leiterplattenlayout ist, wenn man lackieren oder beschichten will, essenziell. Wir haben mit den Entwicklungsmannschaften mehrerer unserer Kunden Workshops durchgeführt, um aufzuzeigen, was beim Lackieren im DFM – also Design for Manufacturability – zu beachten ist. Man kann unheimlich viel Geld zum Fenster rauswerfen, wenn man sich nicht um DFM kümmert.“ Dabei gelte es, darauf zu achten, dass die zu lackierenden Bauteile und jene, die auf gar keinen Fall lackiert werden dürfen wie Stecker oder Kontaktierungen, auf der Platine sehr weit voneinander entfernt platziert werden. Der dadurch gewonnene Sicherheitsabstand sorgt idealerweise dafür, dass die gefährdeten Zonen außerhalb einer möglichen Reichweite der in der Regel sehr niedrigviskosen und damit kriechfreudigen Lacke liegen.

Teilnehmer der Podiumsdiskussion

  • Stephan Baur, Mitgründer und Gesellschafter von BMK Group
  • Dr. Nils Kopp, Leiter Forschung & Entwicklung von Elsold
  • Olaf Römer, Geschäftsführer von ATEcare
  • Dr. Helmut Schweigart, Leiter Technologieentwicklung von Zestron Europe
  • Gianfranco Sinistra, Process Engineer Conformal Coating, Forschung & Entwicklung von Rehm Thermal Systems

Moderation: Marisa Robles, Chefredakteurin Productronic

Ist No-Clean die Wunderwaffe?

Dr. Nils Kopp, Leiter Forschung & Entwicklung von Elsold, macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: „Wenn wir über Flussmittel reden, sind wir direkt bei der Thematik, dass auch Rückstände von Flussmitteln für Verunreinigungen sorgen können.“ Chemie ist für den Lötprozess unabdingbar, bekräftigt er. Denn das in Lotpasten enthaltene Flussmittel sorgt für eine Benetzung der Bauelementanschlussmetallisierung und der Kupferfläche der Leiterplatte. Jedoch: „Nach dem Lötprozess kann es potentiell ein Risiko darstellen, da wir durch die enthaltenen Säuren oder die Halogenide tatsächlich Probleme wie Leitfähigkeit oder im schlimmsten Fall Elektrochemische Migration bekommen.“ Je nach Lötprozess variiert zudem das Risiko der Flussmittelrückstände. Während der klassische Wellenlötprozess da relativ unkritisch ist, weil die gesamten Flussmittelrückstände mit der Lötwärme in Berührung kommen und inaktiv werden, sind Prozesse wie im Selektivlötprozess erheblich kritischer: „Hier sind zum Beispiel auch vom Fraunhofer IZM spezielle Tests entwickelt worden, wodurch wir sicherstellen können, dass auch Rückstände, die nicht der Wärme ausgesetzt wurden, keine Elektrochemische Migration verursachen. Wir testen unsere modernen Flussmittel entsprechend dem vom Fraunhofer entwickelten Verfahren, um dem Anwender eine hohe Sicherheit bieten zu können.“

Da stärker aktivierte Flussmittel häufig Säuren oder Chloride enthalten, die sich beim Löten nicht zersetzen und nach dem Lötprozess auf der Baugruppenoberfläche noch aktiv sind, müssen diese Rückstände unmittelbar nach dem Lötprozess von den Baugruppen abgewaschen werden, um eine Korrosion zu verhindern. „Üblicherweise werden unsere Baugruppen vor dem Lackieren nicht gewaschen. Wir bringen also den Lack auf die vermeintliche ionische Verunreinigung auf“, erläutert Stephan Baur von BMK. Der EMS verwendet ausschließlich No-Clean-Flussmittel. „Letztendlich muss das System oder die Baugruppe mit ihrer Beschichtung und Conformal Coating die Anforderungen, die aus dem Feld kommen, aushalten können.“ Dass dies machbar ist, dafür sorgen Hersteller von Lotprodukten wie Elsold: „Wir testen unsere No-Clean-Flussmittel entsprechend der Flussmittel-ISO-Klassifizierung. Selbst wenn normale Feuchte an die Bauteile gelangen sollte, weil beispielsweise nicht korrekt beschichtet wurde, haben Rückstände von No-Clean-Flussmittel keine Auswirkung auf die Zuverlässigkeit der Baugruppe“, betont Nils Kopp von Elsold.

Solider Schutz durch Reinigung

Das sieht Dr. Helmut Schweigart, Leiter Technologieentwicklung von Zestron Europe differenzierter: „Bei uns landen die Fälle, die schief gegangen sind.“ Die Flussmittel würden qualifiziert um hohe Kriechstromsicherheiten zu bekommen, räumt er ein, aber: „Man muss sich bewusst machen, dass dies nichts mit elektrochemischer Migration zu tun hat. Auch wenn es in der Normung drin steht, als Begriff.“ Hingegen müsse eine Baugruppe vor einer Betauung im Feld geschützt werden – und zwar mit einem geschlossenen, sauberen Lackfilm. Denn durch die Laminationen der Leiterplatte oder wenn entsprechende Porenkanäle im Lack vorhanden sind, kann die Feuchtigkeit durchtunneln und eine elektrische Verbindung erzeugen, die das Brückenwachstum vorantreibt. „Damit das ganze funktionieren kann, ist es wichtig, dass alle Komponenten auf den Lack angepasst sind. Ich sage auch nicht: Es muss unbedingt gereinigt werden, sondern es braucht angepasste Situationen. Immer wieder ist reinigen aber die einfachste Anpassung.“

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Wie sich eine vor Umwelteinflüssen sichere Elektronik mit entsprechender Schutzbeschichtung realisieren lässt, erklärten Experten entlang der Baugruppenfertigung. Mesago/Thomas Klerks

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Dr. Nils Kopp von Elsold (r.) weiß um die Risiken der Flussmittelrückstände auf der Platinenoberfläche. Für ihn ist wichtig, dass Flussmittel und Reinigungsmedien gut aufeinander abgestimmt sind. Gianfranco Sinistra von Rehm tauchte das Publikum ins Reich der Beschichtungen ein. Mesago/Thomas Klerks

Dabei reduzieren sich die Verunreinigungen nicht nur auf das Flussmittel mit seinen Harzrückständen, sondern auch die Komponenten selbst tragen mit ihren Formtrennmitteln zur Verunreinigung bei. Durch die unterschiedlichen Bauteile können rund dreißig verschiedene Materialien vereint sein, auf denen der Lack überall gleichmäßig gut haften muss, weshalb Schweigart nochmals vertieft: „Ausschlaggebend ist wirklich die gesamte Konfiguration der Baugruppe, die Haftungsbedingungen schaffen muss, so dass der Lack sich sauber verankern kann. Wenn das sichergestellt ist, dann ist eine gute Schutzlackierung vorhanden, die das Wasser von der Baugruppe fernzuhalten vermag, so dass sich die Baugruppe auch auf Tauchfahrt schicken lässt.“

Qualifikation der Reinheit

Die Reinigung in der Fertigung von elektronischen Baugruppen hat einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis, die Zuverlässigkeit und den Yield. Ohne Reinigung ist eine erfolgreiche Produktion nicht möglich, weshalb beim Schablonendruck, bei den Pipetten der Bestückautomaten und auch in den Lötanlagen konsequent Reinigungsintervalle stattfinden. Die Reinigung elektronischer Baugruppen jedoch wird bislang eher stiefmütterlich behandelt, da viele vor den zusätzlichen Kosten zurückscheuen. Die richtige Auswahl des Reinigungsmediums hängt letztendlich vom geeigneten Kosten-/Nutzen-Verhältnis ab, weist Schweigart hin: „Eine Baugruppe zu fertigen, kostet Geld, und der Endnutzer möchte so wenig Geld wie möglich dafür ausgeben. Also muss man immer schauen, dass man Bedingungen bekommt, so dass man so kostengünstig wie möglich arbeiten kann. Dementsprechend gilt dies auch für die Auswahl des Reinigungsprozesses.“ Idealerweise sollte man dabei die Systemlieferanten entlang der Lieferkette mit ins Boot holen, bekräftigt er: „Sie können vieles über die Lieferkette abfangen. Wenn Sie alles auf den Reinigungsprozess schieben, dann schieben Sie auch jede Menge Dreck und vor allen Dingen auch die verschiedenartigsten Verunreinigungen in diesen Prozess. Das wirkt sich auf die Badstandzeiten und den damit verbundenen Kosten aus. Genauso wirkt sich die vollständige NoCleanumsetzung kostentreibend mit teureren spezifizierten Komponenten und dem ganzen nötigen Testaufwand aus.“

Für Nils Kopp von Elsold steht außer Frage, dass alle Schritte zueinander passen müssen – auch aus Flussmittel-Sicht. Gerade weil verschiedene Flussmittel-Systeme zum Einsatz kommen. Würde eine Reinigung nicht vollständig durchgeführt, könne es auch passieren, dass die Situation deutlich schlimmer wird, als wenn gar nicht gereinigt würde: „Das Harz bildet an sich einen Schutzfilm. Entferne ich jedoch nur diesen Schutzfilm, dann bleiben beispielsweise Chloride auf der Platinenoberfläche zurück, wodurch ich die Situation deutlich verschlimmert habe.“ Kooperationen zu Reinigungsmedien-Herstellern wie Zestron, ermöglichen es, mehr Transparenz bei der richtigen Auswahl von Flussmittel und dem jeweils optimal geeigneten Reiniger zu schaffen, bekräftigt Kopp: „Schließlich muss alles zusammenpassen: die für die Applikationsform einzusetzenden Flussmittel und Reiniger bis hin zur Kompatibilität zu den entsprechenden Lacksystemen.“

Helmut Schweigart von Zestron hakt nach: „Für die Qualifikation der Reinheit sollte man unbedingt zweistufig vorgehen. Einerseits ist ein Validierungsprozess nötig, andererseits ein reproduzierbarer Prozess.“ Im Validierungsprozess ermittelt man die geforderten und gewünschten Reinheiten. Idealerweise sollte dieser auf der Norm IPC 9202 aufsetzen, betont Schweigart: „Mit einer Ionenchromatographie und Widerstandsmessung sind Sie definitiv auf der sicheren Seite. Dann haben Sie die Validierung. Danach müssen Sie darauf vertrauen, dass der Prozess immer das gleiche macht.“ Und während die einen auf das Ionen-Äquivalent schwören, setzen andere auf die Verfolgbarkeit über die Leitfähigkeit des Spülwassers. „Da gibt es die verschiedensten Konzepte. Entscheidend ist, dass der Aufwand, der getrieben wird, in dem Gesamtkontext wie der ökonomischen Verträglichkeit in der jeweiligen Fertigung hineinpassen muss. Da gibt es mit Sicherheit nicht die universell glücklich machende Lösung“, setzt Schweigart nach. Je nachdem, welcher Aufwand der Kunde einfordere, könne man die verschiedensten Messwerte wiederverwenden und auch quer das Monitoring der Stabilität des Reinigungsprozesses nutzen.

Der Weg zum effektiven Baugruppenschutz

Dr. Helmut Schweigart ist Leiter Technologieentwicklung von Zestron und gleichzeitig bei der Gesellschaft für Korrosionsschutz (GfKORR) als Leiter des Arbeitskreises Korrosionsschutz für Elektronik- und Mikrosystemtechnik engagiert. Der Arbeitskreis beschäftigt sich mit dem komplexen Themenfeld der Baugruppenbeschichtung und damit auch mit Reinheitszuverlässigkeitsfragen. „Entscheidend bei komplexen Themen ist, wie man den Zugang hierzu bekommt. Und im Grunde genommen, ist das relativ einfach machbar“, erläutert er mit Blick auf die wenigen Normen. „Es gibt drei bis vier Normen und wenn man sich da intensiv durcharbeitet, dann hat man zu dem ganzen Themenfeld einen guten Zugang.“ Noch einfacher gehe es mit dem Leitfaden für die Verarbeitung und Anwendung von Schutzlacken, der von der Gesellschaft für Korrosionsschutz erarbeitet wurde. Dieser steht – anders als bei den IPC-Normen – als Fließtext zur Verfügung. Das erleichtert die Einarbeitung, da neben der Auswahl des jeweiligen Lacksystems auch Details der Verarbeitungsparameter erläutert werden. „Auch hierzu finden Sie ganz explizit Hinweise, unter welchen Bedingungen sich Lacke verarbeiten lassen und wie typische Fehler aussehen, um sie entsprechend zu vermeiden.“ Schließlich gilt: Wenn ein gewisses Verständnis für Komplexität vorhanden ist, lässt es sich auch fundierter über Budgets diskutieren.

Beschichtung als zuverlässigen Baugruppenschutz

Beschichten ist eine häufig angewandte Methode, um elektronische Baugruppen vor Umwelteinflüssen zu schützen. Beim Beschichten sensibler Elektronik ist eine Sache besonders wichtig: Präzision. Gianfranco Sinistra, Process Engineer Conformal Coating, Forschung & Entwicklung von Rehm Thermal Systems, steckt die Claims fest: Zunächst muss geklärt werden, was die Baugruppe im Feld überhaupt aushalten muss, wo sie eingesetzt wird und ob sie beispielsweise Vibrationen ausgesetzt ist. Für die richtige Lackauswahl sind diese Fragestellungen unabdingbar: „Wenn ich ein System in der Vibrationskammer oder in einem Auto habe, dann kann ich keinen knallharten Lack verwenden, sondern benötige einen, der sozusagen mitgehen kann. Es ist zudem ein Unterschied, ob die Baugruppe mit Säuren in Berührung kommt oder ob es sich nur um das Risiko einer Betauung handelt – das alles ist im Vorfeld zu klären.“

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Auch in der Beschichtung selbst steht alles in Wechselwirkung zueinander: Der richtige Lack für den entsprechende Baugruppen-Einsatz kann nur mit den richtigen Applikatoren mit angepassten Prozessschritten erfolgen, betont Gianfranco Sinistra von Rehm. Nils Kopp sieht in No-Clean-Flussmitteln durchaus einen Lösungsansatz, da sie qualifiziert sind, um hohe Kriechstromsicherheiten zu bieten. Mesago/Thomas Klerks

Im zweiten Schritt ist zu klären, was alles auf der Leiterplatte beschichtet werden muss: „Wenn das Design nicht stimmt – und das stimmt leider doch nicht immer – dann muss ich mit anderen Lösungen arbeiten.“ Gemeint ist, wenn sich neben einem Stecker eine ganze Reihe kleiner zu lackierender SMT-Bauteile befinden. Zäh fließende Dickschichtlacke sind hier geeignet, auch weil sie die Kapillarwirkung verhindern. Eine weitere probate Lösung sieht Sinistra im Einsatz von Dam-and-Fill-Verfahren.“Das sind so die ersten Punkte, die man vorher klären sollte, um dann zu entscheiden, welche Applikatoren der Lackieranlage mit welchem Material zum Einsatz kommen sollen.“ Für wenig zugängliche, oder versteckte Bauteile, die dennoch zu beschichten sind, hält Sinistra ebenfalls Lösungen parat, wie etwa verschiedene Düsengeometrien und Verdrängungstechnologien.

Praxisbezogen wirft Stephan Baur von BMK noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion: „Warum das Lackieren so genau sein muss, liegt vor allem daran, dass es sich in der Regel um sehr niedrigviskose Lacke handelt, deren benetzende Eigenschaften sich auf einmal auch dort befinden, wo man es gar nicht vermuten und noch weniger haben will. Das kann man wirklich mit Kriechöl vergleichen.“ BMK verwendet Lacke auf Acryl- oder auf Polyurethan-Basis. Hohe Präzision beim Auftrag ist daher ein absolutes Muss, denn: „Wenn man mit dem Abkleben oder dem etwas umständlichen Dam-and-Fill anfangen muss, dann ist dies schlicht mit Zusatzkosten verbunden. Und das sollte man vermeiden.“ Mit verschiedenen Messsystemen könne man solche Vorhangbreiten vorher abmessen, pariert Gianfranco Sinistra von Rehm: „Da kann man auch randgenau arbeiten.“

Inspektion oder Ratespiel?

Die Beschichtung stellt eine Herausforderung dar, und daher rückt die Inspektion in besonderen Fokus. Einerseits wird vor dem Beschichtungsprozess eine tiefere Inspektion bis hinab zur Kleinteilsuche beziehungsweise Schmutz gewünscht, was zwangsläufig zu höheren Pseudofehlerraten führt. Andererseits erhoffen sich Kunden, mit AOIs künftig auch kleinste Risse und feinste Haarrisse zweifelsfrei detektieren zu können und zwar im Linientakt. Wie schafft man diesen Spagat? Für Olaf Römer, Geschäftsführer von ATEcare, ist diese Frage nicht so ohne Weiteres zu beantworten: „Die AOI-Systeme sind bei allen Elektronikfertigern ein Standardsystem geworden. Die meisten der Systeme sind in der Lage, Oberflächen genauso wie Verschmutzungsgrade wie Lötrückstände zu inspizieren.“

Mittlerweile haben sich auch die 3D-Systeme soweit durchgesetzt, dass man auch Höhenunterschiede sehr schön erkennen kann – so auch, welche Schichtdicken wie gleichmäßig aufgebracht wurden. Römer räumt jedoch ein: „Natürlich sind Verunreinigungen, Schaumbild, Blasenbildung oder feinste Haarrisse kritisch, weil ich eine Dimension vorgeben muss, wonach das System überhaupt suchen kann. Daraus resultiert eine relativ hohe Pseudofehlerlastigkeit. Zudem muss ich mich dann entscheiden, ob ich das als Fehler aufnehme, oder als akzeptierbare Verschmutzung hinnehme.“ Eine Baugruppe ist keine flache Oberfläche, sondern sie weist eine extrem große Topologie auf, was die Fehlerdetektion auf Beschichtungen erschwert, vor allem wenn es um Haarrisse geht. „Selbst mit Röntgentechnologie lassen sich Risse nur dann finden, wenn ich weiß wo sie sind. Daher ist der vorhin beschriebene Analysevorgang für den Prozess viel wichtiger. Schaumbildung oder kleinste Haarrisse sind meiner Meinung nach automatisch nicht zu dedizieren.“ Auch Stephan Baur von BMK pflichtet ihm bei: „Lack zu inspizieren ist schwierig, weil man ja oft nicht ganz genau weiß, wonach man überhaupt sucht. Und man muss die Kriterien vorher ganz genau definieren. Nach einer komischen Störung, Blase oder Riss zu suchen, von dem man überhaupt nicht weiß, wo der Fehler denn sein könnte, das ist für AOIs äußert schwierig abzubilden.“

Ist Closed-Loop zum Beschichtungssystem eine gangbare Alternative? Vielleicht. Denn alle gängigen Inspektionstechnologien wie AOI oder 3D-AOI lassen sich nicht ohne Weiteres auf den Beschichtungsprozess umlegen. Wenngleich gerade im 3D-Bereich die optische Abtastung wie im French-Pattern-Verfahren eine gute Lösung zur Fehlerdetektion der elektronischen Baugruppe ist, so weisen Lacke oft sich widerspiegelnde oder reflektierende Oberflächen auf, wodurch „3D-AOI hier nicht unbedingt das wünschenswerte Medium ist, was man dazu benutzen kann.“ Um also zuverlässig Schichtdicken vermessen zu können, seien ganz andere Technologien notwendig: „Ich würde kein Standard-AOI für solche Sachen empfehlen“, resümiert Römer und verweist dabei auf Testaufbauten, die explizit auf solche Lösungen zugeschnitten sind. Das wiederum ist nur dann sinnvoll, wenn sich Stückzahl und Produkt rechnen.

Digitalisierte Welt

Nicht nur reproduzierbar, sondern auch rückverfolgbar in der Reinigung und Beschichtung – das ist heute problemlos möglich. Die Experten erläutern wie es geht:

  • Dr. Helmut Schweigart, Zestron: Beim Reinigungsprozess ist in der Zwischenzeit eine hundertprozentige Nachverfolgbarkeit durchführbar. Der Reinigungsprozess lässt sich mit allen Mitteln aufschlüsseln – auch hinsichtlich der statistischen Qualitätskontrolle. Von der Reinigung über die Spülstufen kann man den Prozess messen, über Konzentrationsverfolgung, Temperatur- und Durchflussverfolgung, etc. Auch bei der Reinigungsanlage lasse sich die Parameter für die Anlagensteuerung nutzen, wodurch man auch diese Daten mit den Baugruppen korreliert zur Verfügung hat. Je nach Aufwand lässt sich die Traceability chargenweise bis hin zur Einlaufkontrolle treiben. Mittels Barcode lassen sich diese Werte individuell der Baugruppe zuordnen, selbst in welchen Zustand die Baugruppe durch die Anlage gelaufen ist.
  • Gianfranco Sinistra, Rehm: Wir können sehr viel digital steuern, überwachen, automatisch einlesen, Benutzerdaten, Algorithmen in der Software, die dem Benutzer helfen über Libraries der Materialdatenbank. Auch auf bestimmte Lacke bezogene Maschineneinstellungen lassen sich speichern und jederzeit wieder abrufen. Mittels Barcodes sind alle Prozesse wie Heizung, Durchfluss, Viskositätskontrollen und Gewicht des Lacksystems hinterlegt. Nach dedizierten Zyklen wird das Gewicht nochmals ermittelt, um festzustellen, ob die Mengen noch passen. Auch Unterbrechungen des Prozesses seitens des Users kann die Lackieranlage mittels Software protokollieren. Traceability-konform ist das für jede Baugruppe möglich.

 

Marisa Robles

Chefredakteurin Productronic

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