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Die strengen Bewertungskriterien beim Euro NCAP (European New Car Assessment Program – Europäisches Neuwagen-Bewertungsprogramm) bedeuten für Automobilhersteller eine neue Herausforderung. Das Programm bewertet mit einem Fünf-Sterne-System die Sicherheit von neuen Fahrzeugmodellen, unter anderem anhand von Crashtests. Diese Bewertung besteht aus vier Teilbereichen: Insassenschutz für Erwachsene und Kinder, Fußgängerschutz und unterstützende Sicherheitssysteme.

Entscheidend: Aktive Sicherheitssysteme

Bild 1: Simulationsumgebung für die Durchführung von virtuellen Euro-NCAP-Tests.

Bild 1: Simulationsumgebung für die Durchführung von virtuellen Euro-NCAP-Tests. dSPACE

Für das Erreichen der maximal möglichen fünf Sterne spielen aktive Sicherheitssysteme zur Unfallvermeidung eine wachsende Rolle. Konkret werden in der Bewertung ab 2014 der Spurhalteassistent (Lane Departure Warning, LDW) sowie das autonome Notbremssystem (Autonomous Emergency Braking, AEB) für den innerstädtischen Einsatz (AEB City) und den Überlandeinsatz (AEB Inter-Urban) berücksichtigt. Ab 2016 wird dann der Notbremsassistent mit Erkennung von „ungeschützten Verkehrsteilnehmern“ (Vulnerable Road Users, VRU) wie beispielsweise Fußgängern (AEB VRU oder AEB Pedestrian) folgen. Dabei gibt es die Herausforderung, die Sicherheitssysteme so auszulegen, dass sie einerseits in jeder Gefahrensituation tatsächlich wie beabsichtigt reagieren („True Positives“), andererseits aber auch nicht überreagieren und beispielsweise eine Notbremsung einleiten, obwohl es gar nicht nötig wäre („False Positives“). Im Rahmen von Euro NCAP sind bisher lediglich die True Positives von Bedeutung.

Bild 2: Euro-NCAP-Testprotokolle für AEB City, AEB Inter-Urban und AEB VRU/Pedestrian.

Bild 2: Euro-NCAP-Testprotokolle für AEB City, AEB Inter-Urban und AEB VRU/Pedestrian.dSPACE

Die Überprüfung der Robustheit des Systems stellt allerdings für Automobilhersteller eine zusätzliche Aufgabe dar. dSPACE bietet für die Absicherung von aktiven Sicherheitssystemen eine umfangreiche Testumgebung mittels Model-in-the-Loop- (MIL), Software-in-the-Loop- (SIL) und Hardware-in-the-Loop-Simulation (HIL) an. Virtuelle Testfahrten auf Basis der Euro-NCAP-Testprotokolle ermöglichen damit bereits in frühen Entwicklungsphasen die Überprüfung der entsprechenden Steuergeräte-Software sowie die Bewertung des aktiven Sicherheitssystems. Bild 1 zeigt die MIL/SIL-Testumgebung, die auf folgenden Komponenten basiert:

  • VEOS, die PC-basierte Simulationsplattform zur virtuellen Absicherung von Steuergeräte-Software
  • Automotive Simulation Models (ASM) zur Simulation des Fahrzeugverhaltens, der Umfeldsensorik, des Fahrers und der Verkehrsumgebung
  • ModelDesk zur Definition von Testszenarien und Parametrierung der ASM
  • MotionDesk zur 3D-Visualisierung von virtuellen Testfahrten
  • AutomationDesk zur grafischen Beschreibung von Testsequenzen, automatischen Testdurchführung und Auswertung
  • TargetLink zur automatischen Seriencode-Generierung aus Simulink/Stateflow

Tests gemäß Euro-NCAP-Vorgaben

Bild 3: AutomationDesk-Projekt (links) und Darstellung in MotionDesk (rechts).

Bild 3: AutomationDesk-Projekt (links) und Darstellung in MotionDesk (rechts).dSPACE

ModelDesk bietet eine Bibliothek mit unmittelbar einsetzbaren Testszenarien entsprechend den Euro-NCAP-Testprotokollen an, zum Beispiel für die Anwendungsfälle AEB City, AEB Inter-Urban und AEB VRU/Pedestrian. Bild 2 zeigt ausgewählte Testprotokolle, wobei die Szenarien für den aktiven Fußgängerschutz von Euro NCAP noch vorläufig sind. Das zugehörige AutomationDesk-Projekt und die Darstellung eines Testszenarios in MotionDesk sind in Abbildung 3 verdeutlicht. In AutomationDesk steht ein Testkatalog mit fertig konfigurierten Tests zur Verfügung, deren Handhabung bewusst einfach gehalten wurde. Nach dem Laden des Testprojektes lassen sich die zu testenden Funktionen des Steuergeräts (autonomes Bremsen, Kollisionswarnung) zusammen oder einzeln auswählen und die geplante Testtiefe gemäß den Euro-NCAP-Kategorien festlegen. Wahlweise besteht dabei auch die Möglichkeit, das gesamte Projekt mit nur wenigen Klicks zu starten.

Bild 4: Von AutomationDesk generierter Euro-NCAP-Testbericht.

Bild 4: Von AutomationDesk generierter Euro-NCAP-Testbericht.dSPACE

Während der automatischen Testausführung werden die einzelnen Komponenten der Testumgebung mittels geeigneter Bibliotheken ferngesteuert. Dabei ist stets für die Euro-NCAP-konforme Auswahl, Parametrierung, Durchführung, Bewertung und detaillierte Protokollierung einzelner Testszenarien gesorgt. Zudem lässt sich der Testverlauf in MotionDesk in Echtzeit verfolgen und plausibilisieren. Der in AutomationDesk zum Abschluss einer Testausführung generierte Bericht umfasst alle relevanten Informationen und stellt sie in drei unterschiedlichen Detailstufen zusammen. Die Übersicht (Bild 4) präsenhtiert das Gesamtergebnis (Total score) für einen Testbereich (hier AEB Inter-Urban) in kompakter Form. Dazu gehört neben der grafischen Beschreibung zugehöriger Testszenarien auch die entsprechende Punkteverteilung in Tabellenform. Vom Ergebnisbaum (links im Bild) kann der Anwender dann zu etwas detaillierteren Berichten einzelner Testreihen navigieren. Diese geben Auskunft über die wesentlichen Ergebnisse einzelner Testläufe in der betreffenden Testreihe, deren Bewertung und die zugehörige Punktevergabe. Ferner sind dort die Detailberichte zu einzelnen Testläufen verlinkt. Diese enthalten sämtliche Testdetails von der individuellen Parametrierung über die Darstellung der Messergebnisse in tabellarischer und grafischer Form bis hin zur Bewertung.

Optimierter Testrahmen für Fahrerassistenzsysteme

Bild 5: Erweiterung des Parameterraums bei Euro-NCAP-Tests.

Bild 5: Erweiterung des Parameterraums bei Euro-NCAP-Tests.dSPACE

Bei der Ausführung von Tests in AutomationDesk kommt ein speziell zur Absicherung von Fahrerassistenzsystemen entwickelter Testrahmen zum Einsatz, der ohne großen Aufwand als Basis für weitere Tests verwendbar ist. Nachdem der Anwender die gewünschten Testszenarien in ModelDesk definiert hat, benötigt er bis zum fertigen Test im Wesentlichen nur drei Schritte. Im ersten Schritt konfiguriert er zunächst den Testrahmen passend zu seiner speziellen Testumgebung, indem er unter anderem die Testplattform (VEOS oder HIL-Simulator), die zu messenden Signale und die Testparameter sowie das fertige ModelDesk-Testszenario festlegt. Im zweiten Schritt hat der Anwender dann prinzipiell die Möglichkeit, das Testszenario für jeden einzelnen Testlauf individuell zu parametrieren (zum Beispiel Geschwindigkeit des Testfahrzeugs). Im dritten Schritt schließlich bietet der Testrahmen einen gesonderten Bereich an, in dem der Anwender seine spezifische Testauswertung und Protokollierung integriert. Alle anderen für eine Testausführung nötigen Schritte wie die Auswahl und Aktivierung der Testszenarien in ModelDesk, das Herunterladen von Testparametern auf die Plattform, die Manöversteuerung, die Datenerfassung und Ähnliches sind bereits umgesetzt und im Testrahmen integriert. Sie laufen zum gegebenen Zeitpunkt automatisch im Hintergrund ab. Mit dieser Entwicklungsumgebung kann sich ein Testentwickler auf seine wesentlichen Aufgaben konzentrieren; er braucht insbesondere keine speziellen Kenntnisse mehr, zum Beispiel hinsichtlich der Bedienung der Tool-Automatisierung.

Tests über Euro-NCAP-Vorgaben hinaus

Ohne entsprechende Fahrerassistenzsysteme wie LDW und AEB gibt's beim Euro-NCAP-Test bald keine fünf Punkte mehr.

Ohne entsprechende Fahrerassistenzsysteme wie LDW und AEB gibt's beim Euro-NCAP-Test bald keine fünf Punkte mehr.dSPACE

Die vorgestellten Testszenarien sind typische Vertreter für Tests zur Absicherung von spezifiziertem Systemverhalten in genau dafür vorgesehenen Situationen. Sie behandeln oft sicherheitsrelevante Aspekte und sind daher obligatorisch. Insbesondere bei Systemen mit Umfelderkennung, die im Alltag mit einer Vielfalt unerwarteter Verkehrssituationen konfrontiert werden, reicht diese klassische Vorgehensweise nicht mehr aus. Um die notwendige Robustheit zu gewährleisten und dadurch die Akzeptanz beim Kunden zu erhöhen, gilt es, derartige Systeme umfangreich und über das Verhalten in erwarteten Normal- und Grenzbereichen hinaus auch mit Bezug auf falsche Reaktionen in scheinbar irrelevanten Situationen im Rahmen von sogenannten False-Positive-Tests zu untersuchen. Auch wenn dies beim Entwickler zunächst ein gewisses Umdenken erfordert, ist dafür in vielen Fällen die Weiterverwendung der bereits verfügbaren Euro-NCAP-Testszenarien durch geeignete Erweiterung des Parameterraums möglich (Bild 5).

Euro-NCAP-Tests simulieren

Mit der passenden Toolkette lassen sich Euro-NCAP-Tests für Systeme wie LDW (Spurverlassenswarnung) und AEB (automatische Notfallbremse) auf dem PC simulieren. Dadurch sinkt der Testaufwand bei den physikalischen Fahrtests in signifikantem Umfang.

Dies gilt insbesondere für die Auslegung der Systeme mit Fußgängererkennung, bei denen zusätzlich zu den Euro-NCAP-Vorgaben der bereits vorhandene Parameterraum zum Beispiel um die Gehrichtung des Fußgängers (αPed) erweitert wird. Die Gehrichtung wird dabei durch Ausrichtung des Fußgängers, bezogen auf den relevanten Straßenrand, als Winkelmaß angegeben. Demnach bewegt er sich bei einem sehr flachen oder weiten Winkel quasi entlang eines Fahrbandrandes in oder gegen die Fahrtrichtung und löst damit bei einem robusten System keine Reaktion aus. Ein Winkel von 90° deckt hingegen das entsprechende Ausgangsszenario aus Euro NCAP ab. Die vergleichsweise einfache Variation eines Winkelmaßes adressiert bereits sowohl die klassischen als auch die True-Positive-Tests.

Als weiterer Schritt ist die Erweiterung des Wertebereiches für die Geschwindigkeit des Fußgängers vorstellbar (VPed). Insbesondere durch Kombination von Gehwinkel und -geschwindigkeit lassen sich die Schwellenwerte für die Empfindlichkeit eines Systems genauer untersuchen. Automotive Simulation Models (ASM) stellen für derartige Tests geeignete Sensor- und Objektmodelle bereit, die eine Systembewertung bereits in der Simulation erlauben. Anwender haben damit die Möglichkeit, die Rate der unnötigen Aktivierungen frühzeitig zu bestimmen und durch Software-Anpassungen im Rahmen der Systemauslegung zu beeinflussen. Dabei ist es möglich, charakteristische Eigenschaften von Erwachsenen und Kindern (zum Beispiel Größe und Beinlänge) in ModelDesk zu definieren, diese Attribute durch die Sensormodelle in der Simulation auszuwerten und in MotionDesk die Bewegung sehr realitätsnah zu animieren, was insbesondere im Rahmen von HIL-Systemen des Typs Kamera-in-the-Loop von Bedeutung ist.

Dipl.-Ing. Gregor Hordys

ist Forschungsingenieur im Produktmanagement bei dSPACE und Spezialist für die Themen V2X, Euro NCAP und Testautomatisierung.

Dipl.-Ing. André Rolfsmeier

ist Lead Product Manager Advanced Applications and Technologies bei dSPACE.

(av)

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