Enabler fürs IIoT. Hypothesen rund um Single Pair Ethernet, RJ45 und die Stecker.

Das SPE-Steckgesicht nach IEC 63171-6 in verschiedenen Umhausungen. (Bild: Harting)

Single Pair Ethernet (SPE) ist kein Zufallsprodukt, sondern die Antwort auf eine wichtige Frage: Wie müssen künftige Automatisierungslösungen aussehen, damit sie erfolgreich am Markt umgesetzt werden können. Diese Herausforderung treibt derzeit drei Branchen besonders um: die Automobilindustrie, die Industrieautomatisierung und die Gebäudeautomatisierung.

Alle drei Anwendungsfelder benötigen für den nächsten Schritt in den jeweiligen Automatisierungslösungen ungehinderten Zugang zu den Sensor-/ Aktornetzwerken. Nur so lässt sich etwa im Auto autonomes Fahren umsetzen, in der Industrie der durchgängige Herstellungsprozess nach Industrie 4.0 oder intelligente Gebäude realisieren.

Die Kommunikation von und zwischen den SPS oder anderen Steuerungen ist heute weitestgehend schon Ethernet-basiert. Dabei wird überwiegend Fast Ethernet genutzt (100Mbit/s mit vieradriger Verkabelung). EtherNet/IP nutzt schon länger achtadrige Ethernet-Schnittstellen. Bei SPE geht es primär um den Anschluss der Feldebene, also um das Sensor-/Aktornetzwerk, das unterhalb der SPS-Ebene angeordnet ist. Die Verbindung zur Feldebene erfolgt heute noch fast ausschließlich über Systeme wie CAN-Bus/Devicenet, Modbus, ASi oder IO-Link.

Diese Überlegungen treiben die Entwicklung von SPE voran – und nichts Anderes. Dass mit SPE die Verkabelung einfacher und Steckverbinder kleiner werden, ist ein zusätzlicher positiver Effekt, aber nicht das Ziel für die Innovation SPE.

Warum über den Stecker streiten?

Enabler fürs IIoT. Hypothesen rund um Single Pair Ethernet, RJ45 und die Stecker.

Rainer Schmidt, Harting: „Single Pair Ethernet wird nur aus einem einzigen Grund entwickelt. Es soll die Lücke zwischen der klassischen IT und der immer wichtiger werdenden Sensorik schließen.“ Harting

Alle größeren Steckerhersteller sind in der ­internationalen Standardisierung involviert, der eine mehr, der andere weniger. Alle Anbieter tun das, um Innovationen zu fördern und über technische Standards, Märkte zu ent­wickeln und damit Nachfrage nach standardisierten Produkten zu erzeugen.

Übrigens: Eine Differenzierung im Produkt ist für jeden Hersteller dennoch möglich. Schließlich werden Steckgesichter standardisiert, keine Produkte mit Größe, Farbe, Material, Anschlusstechnik oder zusätzliche Features. Es geht gerade in der Netzwerktechnik um Massenmärkte – und somit um Kompatibilität. Was aber jetzt gerade in Deutschland passiert ist, dass einzelne Hersteller – im Wesentlichen zwei – das Ergebnis bei der internationalen Standardisierung ignorieren. Natürlich können sie das tun. Ob es dabei dann aber überhaupt einen Gewinner gibt, wage ich zu bezweifeln.

Meines Erachtens führen diese Aktivitäten nur zu Unsicherheit beim Anwender und zur Verzögerung bei der Marktentwicklung von IoT/IIoT. Und davon hat niemand etwas.

Es gibt durchaus auch Hersteller, die nach dem ISO/IEC-Auswahlprozess ihre Vorschläge zum SPE-Steckgesicht zurückgezogen haben. Andere verfolgen ihre Vorschläge einfach nicht mehr weiter. Wenn man deren Vertreter fragt warum: „Wir wollen IoT/IIoT machen und nicht über einen Stecker streiten!“.

Umsetzung von SPE in den drei Sektoren

Hypothese 1

Ein SPE-Steckgesicht muss RJ45-rückwärtskompatibel sein.

Im Auto muss SPE einfach und schnell implementiert werden können und trotz teils extremen Bedingungen funktionieren. Für Autobauer heißt das: einfache Ansteuerung aller relevanten Komponenten mittels SPE. Die Verkabelung dazu wird im Allgemeinen ungeschirmt und mit eigens entwickelter Verbindungstechnik erfolgen. Diese Verbindungstechnik ist immer geprägt von einfachem Design, welches Vorteile von Steckverbindern und Klemmentechnik vereint und sehr platzsparend in Blöcken zusammengefasst werden kann. Schon jetzt werden erste Modellreihen mit SPE ausgeliefert. In zehn Jahren wird diese Technik Standard sein und spätestens dann den CAN-Bus oder vergleichbare Lösungen vollständig abgelöst haben.

Bei der Industrieautomatisierung sieht das im Grunde ähnlich aus. Auch hier spielen extreme Umgebungsbedingungen wie Temperaturbereiche, Schock und Vibration aber auch der IP-Schutz vor Staub und Nässe eine wichtige Rolle beim Design der Verbindungstechnik. Allerdings werden in der Industrie zum absolut überwiegenden Teil geschirmte Verkabelungen eingesetzt, um eine hohe Störfestigkeit sicherzustellen. Somit orientiert sich das Design der SPE-Steckverbinder in der Industrieautomatisierung an bereits etablierten robusten geschirmten IP20-Verbindern bis hin zu IP65/67 geschützten Varianten in M12 oder M8.

Auch in der Industrie ist die Ablösung der Busse beziehungsweise der Bus-basierten Kommunikationsprotokolle durch Ethernet weitestgehend vollzogen, beispielsweise die Ablösung von Profibus durch Profinet. Jetzt überlegt die Industrie, wie sie die Feldebene am besten einbeziehen lässt – mit Hilfe von SPE!

Interview mit Roland Bent: „Die aktuellen Diskussionen zu Single Pair Ethernet werden der Breite des Themas nicht gerecht“

Was bewirkt SPE in der Gebäudeautomatisierung? Hier ist wohl die spannendste Geschichte zu erwarten. Das hat damit zu tun, dass es für die Gebäudeautomatisierung Lösungen wie KNX, LON, EchoNet, TRON und weitere gibt, die sich strategisch entscheiden müssen, wie und in welchem Umfang sie künftig SPE nutzen wollen. Denn in der Gebäudeautomatisierung existiert ein solch einheitliches Plattformmodell noch gar nicht. Single Pair Ethernet stößt daher gerade dort einen Prozess an, der unter Umständen die gesamte Netzstruktur in der Gebäude­automatisierung verändert.

Über den Innovationsdruck von SPE in der Sensortechnik werden die Anbieter an der Technologie SPE aber nicht vorbeikommen. Ob sie diesen Technologiewechsel dann aber auch noch für weitreichendere Veränderungen, zum Beispiel hin zu komplett Ethernet-basierten Systemen, nutzen werden, bleibt abzuwarten. Bei der Verkabelung in Gebäuden kommen sowohl ungeschirmte als auch geschirmte Lösungen zum Einsatz. Überwiegend im Innenbereich installiert, müssen die hier verwendeten Leitungen bei weitem nicht die Robustheit wie in der Industrie aufweisen. RJ45 hat bislang in der Gebäudeautomatisierung, wenn überhaupt, als Service- und Prüfinterface eine Rolle gespielt. Ansonsten kommen hier als Anschlusstechnik besonders Terminalblöcke mit Schraub- oder Klemmtechnik zum Einsatz.

In allen drei Bereichen, Auto, Industrie und Gebäude, spielt RJ45 bei der Einführung von SPE überhaupt keine Rolle. In allen drei Bereichen gibt es bei Sensoren und Aktoren auch keine installierte RJ45 Basis, die bei der Einführung von SPE irgendwo berücksichtigt werden müsste.

Somit sind Überlegungen zur Rückwärtskompatibilität von SPE-Verbindungstechnik zu RJ45 Verkabelungen natürlich zulässig aber nicht wirklich sinnvoll. Es fehlen schlichtweg die Anwendungen.

Hypothese 1, dass ein SPE-Steckgesicht RJ45 rückwärtskompatibel sein muss, ist somit entlarvt.

Die Anforderungen der Sektoren definieren den Stecker

Hypothese 2

Steckverbinderhersteller können sich nicht auf ein SPE-Steckgesicht einigen.

Enabler fürs IIoT. Hypothesen rund um Single Pair Ethernet, RJ45 und die Stecker.

Entstehung eines IIoT-Standards auf Basis von Single Pair Ethernet nach IEC 63171-6. SPE Industrial Partner Network

Auch zeigt die kurze Beleuchtung der SPE-Anwendungsbereiche: jeder Sektor hat seine eigene Historie und vor allem, jeder hat sein ganz spezielles Anforderungsprofil.

Das führt auch zu speziellen Designs der SPE-Steckgesichter. So wird es nicht die eine Lösung geben, wie sie von verschiedenen Seiten immer wieder eingefordert wird. Forciert wird die Forderung nach ‚dem einen‘ einheitlichen SPE-Steckgesicht von Anwendern, Experten und (natürlich auch) von der Fachpresse. Auch Hersteller aktiver Komponenten (Switche) haben das Problem: welche SPE-Buchse baue ich denn in mein Gerät?

Die Forderung nach einem einheitlichen SPE-Steckgesicht betrifft im Grunde nur Industrie und Gebäude. Der Sektor Automotive ist außen vor, da abgeschlossene, fertig designte Netzwerke im Auto installiert werden und die Hersteller aufgrund der enormen Stückzahlen ihre individuellen Varianten durchsetzen können.

In Industrie und Gebäude geht es dagegen um Netzwerke, die ständige verändert, erweitert, diagnostiziert und modernisiert werden. Dementsprechend spielt hier die Steckkompatibilität zum Anschluss, Austausch oder Upgrade von Geräten eine wichtige Rolle. Da es sich aber vom Anforderungsprofil und vom Einsatzgebiet her schlichtweg um zwei unterschiedliche Märkte handelt, ist das im Grunde nicht dramatisch. Aber natürlich gibt es Überlappungen, wo ein einziges SPE-Steck­gesicht auch wieder von Vorteil wäre.

Wirklich kritisch ist es nur, wenn in einem Markt mehrere Steckgesichter promoted werden. Das widerspricht der Idee von Kompatibilität, Standardisierung und Verbreitung und arbeitet somit gegen die Idee von IIoT. Und genau das passiert leider im Moment in der Industrie.

Es wird also keinen SPE-Stecker geben, der alles abdeckt. Vielmehr kristallisiert sich heraus, dass es drei Lösungen an SPE-Steckgesichtern geben wird:

  • fürs Auto (oder auch mehrere, je nach Hersteller)
  • für die Industrie
  • für die Gebäudeinstallation

Nochmals zum Verständnis: Die Steckerhersteller sind kein homogenes Gebilde, sondern sind Wettbewerber an einem Markt, der letztlich darüber entscheidet, welches Produkt viel und gern eingesetzt wird und welches durchfällt. Der Anwender hat dadurch die Auswahl und entscheidet welchem Produkt er den Vorzug gibt. Die Forderung nach einer ‚Einigung‘ kann natürlich auch so interpretiert werden: Wer übernimmt die Technologieführerschaft?

Diese Frage ist berechtigt und auch beantwortet: Sowohl für die Industrie als auch für das Gebäude haben sich mit den Firmen Harting und CommScope zwei Technologieführer in ihrem jeweiligen Bereich an die Spitze der SPE-Initiative gesetzt. (Lesen Sie dazu: Single Pair Ethernet: SPE Industrial Partner Network gewinnt weitere Mitglieder)

Die Anwendungsfelder Industrie und Gebäude werden seit einiger Zeit – zumindest was die Einbindung der SPE-Verkabelung in die Strukturierte Gebäudeverkabelung betrifft – in der Normenreihe ISO/IEC 11801 diskutiert und spezifiziert. Dort gibt es mit der ISO/IEC 11801-3 einen Industrieteil und mit der ISO/IEC 11801-6 einen Teil für die Gebäudedienste/Gebäudeautomatisierung.

Viele Arbeitskreise ein Ziel – eine funktionierende Kommunikation

Diese Tatsache hat die IEEE802.3 (Ethernet-Standardisierung) veranlasst, das zuständige Komitee nach einer Empfehlung für ein SPE-Steckgesicht zu fragen. Diese Anfrage führte innerhalb der SC 25/WG 3 Anfang 2018 zu einem Auswahlprozess. Als Basis für diesen Auswahlprozess wurde von SC 25/WG 3 ein Anforderungsprofil für SPE-Steckgesichter erstellt. Teil dieser Anforderung war die Zusicherung aller Hersteller/Bewerber, das eingereichte Steckgesicht bei Erfolg auch zu Normen, um Steckkompatibilität zu gewährleisten und eine Patentfreiheit sicherzustellen. An diesem Auswahlprozess nahmen diverse Hersteller, die allesamt auch in der internationalen Normung aktiv sind, teil, stellten ihre Konzepte vor und brachten ihr Know-how in die Diskussion ein.

Die Wahl (ballot) wurde nach den Regeln der ISO/IEC durchgeführt und 25 Länder beteiligten sich durch ihre NCs – National Comittees. Dabei hat jedes Land jeweils nur eine Stimme. Im Juni 2018 gab es für das SPE-Industriesteckgesicht nach IEC 63171-6 (Harting-Konzept) eine absolute Mehrheit, wie auch für das SPE-Steckgesicht nach IEC 63171-1 (CommScope-Konzept) für die Gebäude­installation.

Hypothese Nummer 2: Die Steckverbinderhersteller können sich nicht auf ein SPE Steckgesicht einigen, stimmt also nicht. Denn über die internationale Normung bei ISO/IEC hat eine solche Einigung Mitte 2018 stattgefunden. Denn natürlich arbeiten in den nationalen und internationalen Normungskomitees Experten einzelner Hersteller.

Lesen Sie auch: Interview zu Single Pair Ethernet: „Normativ ist aus unserer Sicht alles klar“

Mit der Festlegung der ISO/IEC auf jeweils ein SPE-Steckgesicht für die Industrie (IEC 63171-6) und die Gebäudeinstallation (IEC 63171-1) gehen die Arbeiten an den weiterführenden Verkabelungsnormen nun sukzessive weiter. Dabei werden die Beschlüsse zum SPE-Steckgesicht konsequent in die entsprechenden Papiere von ISO/IEC, TIA und IEEE eingearbeitet. Die IEEE802.3 hat diese Empfehlung aufgegriffen und beide Steckgesichter in IEEE802.3cg aufgenommen. Das einheitliche SPE-Steckgesicht für die Industrie nach IEC63171-6 wird konsequent in alle relevanten Verkabelungsnormen übernommen und dort verbindlich vorgeschrieben. Das betrifft im Einzelnen:

  • ISO/IEC 11801-3 AMD-1: Information Technology — Generic cabling for customer premises (Strukturierte Verkabelung) Teil 3: Industrie, AMD-1: SPE
  • ANSI/TIA-1005-B Telecommunications Infrastructure Standard for Industrial Premises – SPE cabling
  • IEC 61918 Ed 4.0 AMD-1: Industrial communication networks – Installation of communication networks in industrial premises, AMD-1 SPE

Industrieautomation – diskret versus kontinuierlich

Hypothese 3

Die Prozessautomatisierung bestimmt den Werdegang von SPE.

Die Prozessautomation nimmt in der Industrie eine Sonderstellung ein: Öl- und Gasindustrie, Chemie- und Pharmabranche aber auch Bergbau, Wasserwirtschaft, Zementfertigung haben ein spezielles Anforderungsprofil, geprägt vor allem von SPE-Übertragungsstrecken bis 1.000 m (IEEE802.3cg). Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Querschnitte der Kupferkabel (AWG16/18) und sieht neben den klassischen Steckverbindungen auch Anschlussblöcke (Klemmentechnik) vor. Weiterhin spielt das Thema Ex-Schutz entsprechend IEC/EN 60079-0 und IEC/EN 60079-7 eine wichtige Rolle. Somit muss die Anschlusstechnik in einigen Einsatzfällen der PA den Vorschriften zur Eigensicherheit genügen, was wiederum ein spezielles Design nach sich zieht.

Auch Lösungen zur Fernspeisung (remote powering) sind davon betroffen. Das bedeutet wiederum höhere Leistungsanforderungen, die PoDL (Power over Data Line) nicht oder nur teilweise erfüllt. Somit werden Anbieter von PA Lösungen auch auf eigene Fernspeisungskonzepte zurückgreifen. Nun ist allerdings die Frage, welche Marktrelevanz die Prozessautomatisierung für die Entwicklung von IIoT und SPE hat. Die Prozessautomatisierung hat einen einstelligen Prozentanteil am gesamten Automatisierungsvolumen. Der Ex-Schutz davon wiederum nur einen Bruchteil. Am Ende löst sich damit auch die letzte Hypothese auf – die Prozessautomatisierung bestimme den Werdegang von SPE. Die Prozessautomatisierung ist lediglich ein spezieller Anwendungsfall für SPE in der Industrie. Aufgrund der speziellen Anforderungen der PA sind teilweise auch Anpassungen bei SPE Komponenten erforderlich. Somit ist PA nicht der Schrittmacher für SPE. SPE gibt der PA erst die Möglichkeit, die Innovation bei der Entwicklung von TCP/IP-Netzen umzusetzen.

Lange wurde diskutiert und leider auch viele Hypothesen aufgestellt, die für Verunsicherung sorgen. Das Ende dieser Hypothesen bedeutet den Beginn einer neuen realen Welt.

Rainer Schmidt

Business Development Manager, Cable ­Systems bei Harting Electronics in Espelkamp.

(sk)

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