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(Bild: Fraunhofer IPA)

Exoskelette können Mitarbeiter in der Montage entlasten. Hier beispielhaft die Omnibusproduktion von Evobus in Neu-Ulm.

Exoskelette können Mitarbeiter in der Montage entlasten. Hier beispielhaft die Omnibusproduktion von Evobus in Neu-Ulm. Daimler

Erkrankungen am Muskel-Skelett-System schaden nicht nur dem Mitarbeiter, sondern auch seiner Firma. So ergab die Erwerbstätigenbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2016, dass 25,2 % der Erwerbstätigen im Arbeitsalltag schwere Lasten heben und tragen. Für die Gesundheit nicht immer förderlich: Die Statistik über Arbeitsunfähigkeitstage zeigt zudem, dass Muskel-Skelett-System-Erkrankungen mit einem Spitzenwert von 24,3 % die häufigste Ursache krankheitsbedingter Fehltage sind. Insgesamt ergeben sich dadurch 543,4 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage, was einem Ausfall an Bruttowertschöpfung von 90 Milliarden Euro entspricht. Mit 13,2 Milliarden Euro Produktionsausfall und 20,8 Milliarden Euro Ausfall an Bruttowertschöpfung besteht bei Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems daher das größte Präventionspotenzial.

Fehltage und Arbeitsausfälle lassen sich unter anderem mithilfe von Exoskeletten reduzieren. Die am Körper getragenen Stützstrukturen sollen den Mitarbeiter bei schwerer körperlicher Belastung mit zusätzlicher Kraft versorgen und demenentsprechend Erkrankungen vorbeugen. Bisher kommen Exoskelette allerdings hauptsächlich in der Forschung zum Einsatz; in der Industrie ist die Akzeptanz noch gering. Mit dem Stuttgart Exo-Jacket haben Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA Anfang des Jahres erstmals einen Prototyp eines Exoskeletts für den Oberkörper vorgestellt, der den Träger mit zusätzlicher Kraft unterstützt, dabei aber auch schnelle und intuitive Bewegungen zulässt.

Das System entspricht den Anforderungen an Leichtbau, Antriebstechnik, Ergonomie, ist zudem benutzerfreundlich und bringt unter 10 kg auf die Waage. Um das Gewicht des Exoskeletts möglichst gering zu halten, setzen die Wissenschaftler leichte BLDC-Motoren mit über 6 000 min-1 ein. Das Antriebsmodul, das aus Motor, Getriebe und Positionssensor besteht, ist an Schulter und Ellenbogen angebracht und liefert daher eine direkte Kraftunterstützung. Damit ein Mitarbeiter beim Tragen eines Exoskeletts sicher arbeiten kann, ist eine mechanische Freilaufkupplung integriert. Sie kann das Antriebssystem vom Träger trennen.  Der Motor arbeitet außerdem nur dann, wenn er tatsächlich benötigt wird, um den Energieverbrauch niedrig zu halten.

Komplexe Bewegungen in drei Richtungen

An der Schulterpartie befindet sich eine Gelenkkette mit fünf Rotationsachsen, die der Schultergelenkgruppe in jede Position folgen. Auf diese Weise kann sich der Träger in drei Richtungen bewegen: nach oben, hinten und innen. Auch Überkopfmontagen lassen sich realisieren. Das Rückenmodul bauten die Stuttgarter Wissenschaftler analog zur menschlichen Wirbelsäule auf: Elastische Stäbe innerhalb der Wirbelkörper und zusätzliche Gummibänder außerhalb halten es  zusammen. Kräfte werden auf die Hüfte oder den Boden abgeleitet, dabei aber die Drehbewegungen (Rotation) und Beugung der Gelenke (Flexion) nicht eingeschränkt. Muss ein Mitarbeiter allerdings einen Gegenstand heben, erschwert das Exoskelett die ungesunde Flexion der Wirbelsäule.

Das Exoskelett versorgt den Träger mit zusätzlicher Kraft und lässt komplexe Bewegungen in drei Richtungen zu.

Das Exoskelett versorgt den Träger mit zusätzlicher Kraft und lässt komplexe Bewegungen in drei Richtungen zu. Fraunhofer IPA/Heike Quosdorf

Da nicht alle Mitarbeiter gleich groß sind, lässt sich das Exoskelett an verschiedene Körpergrößen anpassen: Dazu sind sowohl das Schienensystem zwischen den Antriebsmodulen als auch die Rückenlänge sowie Schulter- und Beckenbreite verstellbar. Ein Regler, der auf einem Multi-Core-Prozessor mit 32 bit und 200-Mhz-CPUs realisiert wurde, berechnet das erforderliche Moment jeden Gelenks.
Für jeden Arm ist ein eigener Controller vorgesehen, die jedoch miteinander kommunizieren.  Grundlage hierfür bilden Regelparameter, die mit objektiven, aber auch subjektiven Kriterien wie der menschlichen Empfindlichkeit bestimmt werden. Die Kommunikation und Übermittlung der Reglergrößen erfolgen in Echtzeit über eine CANopen-Kommunikationschnittstelle mit einer Datenübertragungsrate von 1 Mbit/s.

Testreihe in der Kabelmontage

Seit Oktober 2016 durchläuft das Stuttgart Exo-Jacket mehrere Praxistests. Unter anderem erproben die Wissenschaftler den Einsatz bei einem Bushersteller in der Kabelmontage. Sobald der Rahmen eines Busses fertiggestellt ist, verlegen die Mitarbeiter die Kabel im Dach: Dafür setzen sie Kabelbinder ein und befestigen darin die Kabel per Hand. Anschließend verschließen sie die Kabelbinder. Jeder Arbeitsschritt läuft über Kopf ab. Dabei haben die Mitarbeiter kaum Gelegenheit, ihre Arme zu senken und die Gliedmaßen zu entlasten. Da sie im Akkord arbeiten, werden Schultern und Ellenbogen stark in Mitleidenschaft gezogen.

Zusammen mit den Monteuren analysierten die Wissenschaftler die Bewegungen der Mitarbeiter und ermittelten kinematische Daten. Darunter: Position, Geschwindigkeit und Beschleunigung. Anschließend bestimmten sie das genaue Kräfteaufkommen, also die Kinetik der Arbeitsschritte. Dafür stellten die Forscher den Busrahmen in ihrem Labor nach und maßen mittels Sensoren den Kraftaufwand. Mit der generierten Datenbasis und einem Software-Tool konnten sie anschließend die Kinematik und Kinetik des Montagevorgangs für die beanspruchten Körperteile berechnen. Die Ergebnisse ermöglichen es den Forschern nun, die Exoskelett-Lösung exakt auf die Bewegungen der Mitarbeiter einzustellen. Im Oktober wurde das System fertiggestellt und wird nun weiter in der Praxis getestet.

Modulkasten für individuelle Exoskelette

Derzeit kostet die Exoskelett-Lösung je nach Ausstattung rund 35 000 bis 50 000 Euro. Langfristig wollen die Wissenschaftler jedoch einen Modulkasten für unterschiedliche Einsatzgebiete entwickeln. Je nach Tätigkeit können sich Unternehmen dann individuelle Lösungen zusammenstellen. Bis das Set als Hardware verfügbar ist, dauert es laut Einschätzung des Fraunhofer IPA noch rund zwei Jahre. Neben Überkopfarbeiten kann das Stuttgart Exo-Jacket auch bei Hebebewegungen unterstützen. Zum Beispiel entwickeln die Mitarbeiter derzeit Anwendungen für einen Flughafen. Hier sollen die Mitarbeiter am Gepäckband zusätzliche Kraft erhalten. Auch Lösungen für Paketzulieferer und Schleifprozesse in der Automobilindustrie sind angedacht.

Aussteller SPS IPC Drives 2016: Halle 8, Stand 300

Der Stuhl, der keiner ist

Auch Audi erprobt den 'Chairless Chair' in der Montage.

Auch Audi erprobt den 'Chairless Chair' in der Montage. Audi

Exoskelett als zweites Paar Beine: Auch Audi erprobt seit Anfang 2015 Exoskelette in der Montage, allerdings für den Bein­bereich: Der sogenannte Chairless Chair besteht aus Carbon, wiegt 2,4 kg und ermöglicht den Mitarbeitern das Sitzen ohne Stuhl. Das Exoskelett wird auf der Rückseite der Beine getragen, sodass sich Mitarbeiter während der Arbeit bewegen und hinsetzen können, wenn es der Montage­ablauf erfordert. Befestigt ist das Exoskellet mit Gurten an Hüfte, Knien und Knöcheln. Ziel ist es, Gesäß und Oberschenkel zu stützen. Zwei an die Beine angepasste Streben aus CFK lassen sich hydraulisch auf die Körpergröße und die Sitzposition einstellen. Das Körpergewicht wird so während des Sitzens in den Boden abgeleitet.

(mns)

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