Der Standort des Unternehmens BASF Pharmachemikalien in Minden produziert rund 50 medizinische Wirkstoffe. Eine große Anzahl von Medikamenten – vom Schmerzmittel über Nasenspray bis hin zu Tabletten gegen Bluthochdruck – hat ihren Ursprung dort. 2010 stand, nach 25 Jahren zuverlässigem Betrieb, das alte Prozessleitsystem in einer der Mehrprodukte-Linien zur Grunderneuerung an. Denn die Zahl der Störungen einzelner Komponenten nahm zu und Ersatzteile waren immer schwieriger zu beschaffen.

„Außerdem waren die Umrüstarbeiten der Anlage sehr aufwendig“, führt Dr. Nicolaus Bahr, Betriebsleiter bei der BASF, aus. „Die zurzeit etwa 15 unterschiedlichen Produkte, die auf dieser Anlage laufen, werden in ganz verschiedenen organischen Synthesen produziert. Produktwechsel erfordern deshalb nicht nur Reinigung und mechanischen Umbau, sondern auch komplexe verfahrens- und messtechnische Umstellungen, weil praktisch alle Parameter, Grenzwerte, Zeiten und Mischungsverhältnisse differieren.“ Da das  Abwasser- und Abgassystem der gekammerten Anlage mit insgesamt zehn 4.000-l-Kesseln außerdem für das Handling hochtoxischer und karzinogener Stoffe ausgelegt ist, müssen deswegen je nach herzustellendem Produkt auch die Schutzmaßnahmen entsprechend angepasst werden.

Anwender im Detail

BASF Pharmachemikalien

Das BASF-Tochterunternehmen BASF Pharmachemikalien mit Standort Minden in Nordrhein-Westfalen produziert seit 75 Jahren Wirkstoffe für die Pharmaindustrie. BASF betreibt in Minden laut eigenen Angaben die weltweit größten Produktionsanlagen für synthetisches Coffein, Theophyllin, Ephedrine und Pseudoephedrin. Zurzeit arbeiten dort über 300 Mitarbeiter.

„Um bei einem Produktwechsel Zeit zu sparen, lag uns deshalb sehr daran, für die Zukunft ein Prozessleitsystem zu installieren, das die bisher für die Umprogrammierung erforderliche Zeit reduziert oder  überflüssig macht. Neben den bisherigen Funktionen sollte es zusätzlich eine produktbezogene Rezeptfahrweise und beschleunigte Fehlersuche ermöglichen“, fährt Dr. Bahr fort. Das nun installierte Prozessleitsystem des Unternehmens M+W Process Automation basiert auf einer PCS7-Lösung und ermöglicht einen schnellen Produktwechsel, weil lediglich die entsprechenden Rezepturen geladen werden müssen. Darauf, dass von den ersten Gesprächen bis zur erfolgreichen Inbetriebnahme nur etwa ein Jahr verging, sind die Kooperationspartner stolz.

Komplexe Abläufe logisch zerlegt

Um die Basis für das neue Prozessleitsystem zu schaffen, zerlegten die Automatisierungs-Experten der M+W Process Automation zunächst in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der BASF die Produktionsabläufe in einzelne logische Schritte. Auf diese Weise wurden insgesamt knapp 150 Batchphasen als Basis für die Produktrezepturen spezifiziert. In den Batchphasen für die einzelnen Apparate sind beispielsweise in Abhängigkeit vom Produkt die Grenzwerte für Temperatur, Druck oder Verweilzeiten definiert und den unterschiedlichen Produktionsabläufen zugeordnet.

Die einzelnen Phasen lassen sich dann zu Rezepten kombinieren, die im Batchsystem hinterlegt sind und gegebenenfalls produktspezifisch mit weiteren Details verknüpft werden können, zum Beispiel mit Rührzeiten, oder Zulaufmengen. Gleichzeitig wurde für die Visualisierung die grafische Darstellung der Anlage überarbeitet und neue Grafikbilder erstellt. 200 Funktionen und 500 Verriegelungen wurden ebenfalls überarbeitet, damit sie sich in die neue, modulare Struktur des Prozessleitsystems integrieren ließen. „Heute sind wir in der Lage, jedem Anlagenzustand durch das Laden von Rezepten gerecht zur werden“, beschreibt Rüdiger Okrongli, Leiter Elektro- Mess- und Regeltechnik bei der BASF in Minden, das Ergebnis. „Aber auch wenn wir die Anlage für neue Produkte umrüsten, tun wir uns heute leichter. Wir müssen keine neue Prozesskette programmieren, sondern können die für die einzelnen Apparate hinterlegten Batchphasen anpassen und die Rezepte modifizieren, was wesentlich schneller, praktikabler und weniger fehleranfällig ist.“ Doch bevor das neue Prozessleitsystem diese Vorteile im praktischen Einsatz ausspielen durfte, musste es zunächst einmal seine Funktionsfähigkeit in einer Simulation beweisen.

Auf Knopfdruck planmäßig in die Produktion

Das Entwicklungsteam simulierte über einen Zeitraum von acht Wochen im Rahmen eines FAT (Factory Acceptance Test) ab Oktober 2010 alle festgelegten Funktionen, zunächst an einem Testsystem am M+W-Standort Hannover. Letzte Fehler wurden aufgedeckt und beseitigt, einzelne Abläufe verbessert. Nach erfolgreich abgeschlossener Simulation ging das Projekt im März 2011 in die kritische Phase und der eigentliche Umbau der Mehrprodukte-Anlage begann. Jetzt musste sich noch beweisen, wie gut die Umstellung geplant war. Schließlich sollte auch die Umstellung trotz der Projektgröße nicht allzu viel Zeit beanspruchen.

Für diese Inbetriebnahme war erst noch einmal Manpower erforderlich: Knapp 1.100 PLT-Stellen wurden innerhalb von acht Tagen in 24-h-Schichten neu verdrahtet. Im Schaltraum wurden rund 17 km Rangierkabel verlegt und an die 3.500 Klemmen angeschlossen. Danach mussten alle PLT-Stellen aufwendig geprüft und qualifiziert werden. „Dank der hervorragenden Teamarbeit ging die Anlage im April 2011 quasi per Knopfdruck planmäßig und ohne Fehlcharge in Produktion“, zeigte sich Dr. Bahr erfreut. Der erfolgreiche Projektabschluss gibt Anlass zu Optimismus für das Gelingen des nicht minder anspruchsvollen Folgeprojektes, der Erneuerung des Prozessleitsystems der zweiten Mehrprodukte-Anlage am Standort. Auch hier werden die Mindener wieder mit den Automatisierungsspezialisten aus Hannover zusammenarbeiten.

Matthias Maaß und Ellen-Christine Reiff

: Matthias Maaß ist Bereichsleiter bei M+W Process Automation in Ludwigshafen. Ellen-Christine Reiff ist Redakteurin beim Redaktionsbüro Stutensee.

(mf)

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