Bei klassischen Roboteranwendungen trennt im Automatikbetrieb ein Schutzzaun Mensch und Maschine, damit die Sicherheit der Mitarbeiter gewährleistet ist. Manchmal muss ein Programmierer den Roboter aber auch von innerhalb der Schutzumhausung bewegen – zum Beispiel, um den Roboter präzise auf eine anzufahrende Position zu steuern. Der Mitarbeiter ist dann nicht mehr durch den Schutzzaun gesichert. In diesem Fall ist gemäß EN ISO 10218-1/-2 ein dreistufiger Zustimmtaster als zusätzliche Sicherheitsfunktion erforderlich.
Auf die Schnelle
- Bei kollaborierenden Anwendungen können die im System enthaltenen, immer aktiven Sicherheitsfunktionen den Zustimmtaster ersetzen.
- Voraussetzung hierfür ist eine erfolgreich abgeschlossene Risikobeurteilung auf Basis der Kraft und Leistungsbegrenzung und der Validierung aller möglichen Kollsionsszenarien.
- Richtlinie ist die ISO/TS 15066 „Roboter und Robotikgeräte – Kollaborierende Roboter“.
Kollaborierende Roboter, sogenannte Cobots, können im Automatikbetrieb ohne Schutzzaun Seite an Seite mit dem Menschen arbeiten. Voraussetzung dafür ist eine erfolgreich abgeschlossene Risikobeurteilung. Das heißt:
- Der Anwender muss zunächst herausfinden, wo eine Kollision von Mensch und Roboter im sogenannten Kollaborationsraum möglich ist. Dieser ist der Bereich, in welchem Roboter und Mensch aufeinandertreffen und ein physikalischer Kontakt entstehen kann.
- Dann muss er ermitteln, dass die dabei auftretenden Kräfte und Drücke keine Verletzungsgefahr für den Werker darstellen – und zwar aufgrund der immer aktiven Sicherheitsfunktionen des Systems im Automatikbetrieb.
Im Robotersystem enthaltene Sicherheitsfunktionen, welche für die Sicherheit der Mitarbeiter sorgen, sind beispielsweise:
- Kraftbegrenzung
- Tool Center Point (TCP)-Geschwindigkeitsbegrenzung
- Gelenk Geschwindigkeitsbegrenzung
- TCP-Raumbegrenzung
- Gelenkpositionsbegrenzung
- Impulsbegrenzung
- Leistungsbegrenzung
Zustimmtaster trotz Sicherheitsfunktionen?
Kollaborierende Roboter unterscheiden sich aufgrund dieser im System enthaltenen Sicherheitsfunktionen von herkömmlichen Industrierobotern. Trotzdem sind Anwender verunsichert, wenn es zur Frage kommt: Brauchen kollaborierende Roboter einen dreistufigen Zustimmtaster, wie ihn die EN ISO 10218 fordert? Die Antwort auf diese Frage gibt die Technische Spezifikation (kurz TS) ISO TS 15066 „Roboter und Robotikgeräte – Kollaborierende Roboter“. Dort ist im Abschnitt 5.4.5 folgendes definiert:
„[…] Wenn bei einer Risikobeurteilung bestimmt wird, dass die üblicherweise durch die Anwendung einer Zustimmungseinrichtung erreichte Risikominderung alternativ durch inhärent sichere konstruktive Maßnahmen oder sicherheitsbewertete Begrenzungsfunktionen erreicht werden würde, dann darf das Handbediengerät für ein kollaborierendes Robotersystem ohne eine Zustimmungseinrichtung ausgestattet sein […]“
Aus dem Beamtendeutsch übersetzt bedeutet das in etwa: Sind der Roboter und die Applikation als solche in sich genug abgesichert, braucht es keinen Zustimmtaster. Allerdings führt diese Definition erstmal zu weiteren Fragen:
- Basiert die Risikobeurteilung auf der Kraft- und Leistungsbegrenzung und nicht auf anderen Schutzmaßnahmen wie dem Stoppen des Roboters über einen Laserscanner?
- Wurde beim Validieren der Kräfte und Drücke in allen Kollisionsszenarien festgestellt, dass keine Gefahr für einen Mitarbeiter besteht?
- Sind die Sicherheitsfunktionen des Robotersystems immer aktiv und schützen den Werker sowohl im Automatik- als auch im manuellen Betrieb?
Wenn Anwender diese drei Fragen mit Ja beantworten, dann kann ihr Robotersystem ohne einen Zustimmtaster arbeiten, da die immer aktiven Sicherheitsfunktionen des Systems den Zustimmtaster ersetzen.
Ist das verbindlich?
Geltende Norm für die Sicherheit von Industrieroboter ist aktuell die EN ISO 10218. Sie gibt den „Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik“ wieder – das heißt, eine Mehrheit repräsentativer Fachleute erkennt sie als den aktuellen Stand der Technik an.
Kollaborierende Roboter sind jedoch eine noch relativ neue Technologie. Daher konnte die Internationale Organisation für Normung (kurz: ISO) sie bei der letzten Überarbeitung der ISO 10218 noch nicht ausreichend berücksichtigen. Seit 2016 erweitert daher die oben genannte ISO/TS 15066 „Roboter und Robotikgeräte – Kollaborierende Roboter“ die geltende Norm.
Diese Technische Spezifikation ist zwar nicht harmonisiert und an die Maschinenrichtlinie angebunden, wurde aber vom selben Gremium an Fachleuten verfasst, welche auch die ISO 10218-1/-2 erarbeitet hat, unter anderem von Experten der Firmen Kuka, Fanuc, Yaskawa, Universal Robots, Pilz, Sick und der Deutschen Berufsgenossenschaft.
Es ist also davon auszugehen, dass die ISO/TS 15066 – genauso wie die ISO 10218 – den aktuellen Stand der Technik wiedergibt und als Richtlinie für die Sicherheit moderner Robotertechnologie dienen kann.
Wie läuft eine Risikobeurteilung ab?
Laut EN ISO 12100 ist die Risikobeurteilung in mehrere Teilschritte aufgeteilt: Festlegung der Grenzen der Maschine, die Identifizierung der Gefährdungen, die Risikoeinschätzung sowie die Risikobewertung. Dabei bilden die ersten drei Schritte bis zur Risikoeinschätzung den Themenblock der Risikoanalyse, bei der das Risiko einer Maschine identifiziert und gemessen wird.
Bei der Festlegung der Maschinengrenzen werden zunächst allgemeine Rahmenbedingungen und Daten der Maschine erfasst. Dazu gehören etwa Produktname, Typ und Baujahr, Produktaufbau, Produktfunktionen oder Produktlebensphasen (Transport, Lagerung, Aufstellung, Inbetriebnahme etc.). Hierbei ist auch die Definition der bestimmungsgemäßen Verwendung sowie die Erfassung von vorhersehbaren Fehlanwendungen entscheidend.
Im nächsten Schritt „Identifizierung der Gefährdungen“ wird die gesamte Roboterapplikation auf mögliche Risiken untersucht. Im Fall der Cobots sollten besonders Risiken durch Stöße und Quetschungen betrachtet werden. Gegebenenfalls müssen, je nach verwendetem Endeffektor und Werkstück, auch Gefährdungen durch Kontakt mit gefährlichen Substanzen oder Verbrennungen berücksichtigt werden.
Nachdem mögliche Risiken identifiziert wurden, müssen in der Risikoeinschätzung die Folgen und Wahrscheinlichkeit des Eintritts eingeschätzt werden. Ein Arbeiter, der beispielsweise ganztägig an der Seite des Roboters arbeitet und mit ihm gemeinsam Montagetätigkeiten ausführt, ist potenziell einer höheren Eintrittswahrscheinlichkeit ausgesetzt, als ein Mitarbeiter, der lediglich eine vom Palettier-Roboter beladene Palette wegfährt und keinerlei direkte Berührung mit dem Roboter hat. Zudem werden im Rahmen der Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit Faktoren wie die Häufigkeit und Dauer der Gefährdung und die Möglichkeit der Schadensvermeidung betrachtet.
Im Rahmen der anschließenden Risikobewertung muss nun entschieden werden, ob die Maschine der benötigten Sicherheit entspricht und alle Risiken akzeptabel sind. Wird die Maschine als sicher eingestuft, ist die Risikobeurteilung abgeschlossen und die Applikation bereit zum Einsatz.
Urteilt der Bewertende, dass die Maschine nicht sicher genug ist, folgt der Schritt der Risikominderung: Welche Maßnahmen können getroffen werden, um die Applikation sicherer zu machen und die mögliche Gefährdung zu minimieren? Danach folgt wieder der Schritt der Risikobewertung. Dies wird solange wiederholt, bis bei der Risikobewertung zu dem Schluss gekommen wird, dass die Maschine sicher ist.
Safe the Date: Roboter in der Verpackungsindustrie
Am 13. Oktober 2020 findet in München die 2. Auflage der Veranstaltung „Roboter in der Verpackungsindustrie“ statt. Auf der Praxistagung lernen die Teilnehmer nicht nur anhand von Best Practices, was bereits heute möglich ist. Sondern auch, an welchen Innovationen die F&E-Abteilungen der Lösungsanbieter aktuell feilen. Mit ihrem Themenspektrum bringen IEE und neue verpackung Automatisierungsspezialisten, Verpackungsmaschinenbauer und Endanwender zusammen und bieten neben dem Erkenntnisgewinn in Vorträgen und Fachausstellung nicht zuletzt die Möglichkeit zum spannenden fachlichen Austausch zwischen den Teilnehmern. Lesen Sie hier, was 2019 auf dem Programm stand.
Andreas Schunkert
(ml)