Herr Weissgerber, was verbirgt sich hinter dem Schlagwort Maxolution?
Heiko Weissgerber: Das ist unser neues Systemgeschäft, das wir seit dem Frühjahr 2018 in drei Bereiche strukturiert haben: Factory Automation, Automotive Industry und Machine Automation. Der Bereich Automotive Industry fokussiert primär auf die Bedürfnisse der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer. Die Factory Automation zielt auf die Planung von Greenfield-Anlagen bis hin zum Retrofit von Produktionsanlagen ab. Hier sind auch Themen wie HMI und FTS angesiedelt. Die Machine Automation hat ihren Schwerpunkt in kundenindividuellen Lösungen für die Automatisierung und Antriebstechnik innerhalb der Maschinen mit Fokus auf Maschinenbauer.
Das Themen- und Aufgabenspektrum bei Robotik ist für Maschinenbauer extrem breit. Warum hat SEW-Eurodrive mit der Parallelarm-Kinematik begonnen?
Heiko Weissgerber: Generell ist das Marktsegment Robotik vielversprechend und gar nicht so klein, wie es auf den ersten Blick aussieht. Vor allem erwarten wir in dem Segment ein extrem hohes Wachstum über die nächsten Jahre. Wir haben mit der Parallelarm-Kinematik begonnen, weil dieser Typ in unseren Zielsegmenten Food & Beverage, Pharma und Intralogistik am meisten an Produktionsverfügbarkeit bringt. Hier haben wir sehr kurze Taktzeiten und die Maschinen müssen extrem dynamisch arbeiten, sehr viele Picks pro Minute leisten können, und das Ganze noch dazu sehr präzise. Bei diesem Anforderungsprofil scheiden Knickarm-Roboter aus, allenfalls Scara könnten noch mithalten, kommen aber nicht an die Präzision der Deltaroboter heran.
Einen fertigen Roboter haben Sie aber nicht im Programm. Welche Komponenten umfasst ihr Baukasten?
Heiko Weissgerber: Alle Antriebskomponenten des Roboterpakets stammen aus dem Automatisierungsbaukasten Movi-C, angefangen bei der Steuerungstechnik und Antriebstechnik bis hin zur Hardware. Mit der tiefen Integration aller Komponenten wollen wir dem Maschinenbauer die Scheu nehmen, Robotik in seine Maschine zu implementieren.
Existiert diese Scheu denn wirklich?
Heiko Weissgerber: Bei großen Maschinenbauern weniger, die haben eigene Abteilungen. Bei den kleineren und mittelständischen Unternehmen gibt es oft keine Roboterexperten im Haus. Die Konsequenz: sie brauchen für die Programmierung externe Unterstützung. Dann geht die Wertschöpfung im Endeffekt gegen Null und der Maschinenbauer hat bei Problemen unter Umständen keinen Zugriff auf das Know-how. Daher ist die Abwehrhaltung gegenüber externen Programmierern für Teilaufgaben wie die Robotik eigentlich immer relativ hoch.
Und Ihr Robotikbausatz baut die Hemmungen ab?
Heiko Weissgerber: Das ist unser Ansatzpunkt. Wir wollen dem Maschinenbauer diese Angst nehmen, weil er mit dem gewohnten SEW-System auch die Robotik realisieren kann, ohne irgendwelchen IEC-Code, G-Code oder andere Robotersprachen beherrschen zu müssen.
Bei ihrem Bausatz fehlt aus meiner Sicht eine entscheidende Komponente, die Mechanik. Woher bekommt die der Maschinenbauer?
Heiko Weissgerber: Abhängig von den regionalen Märkten fahren wir hier unterschiedliche Strategien. Wir haben einmal die Möglichkeit, Kinematiken mit dem Mechanikhersteller zusammen zu integrieren. Das geht einfach über die entsprechende mechanische Schnittstelle zu unserem Präzisionsgetriebe.
Und wie sehen diese Strategien aus?
Heiko Weissgerber: Das hängt von Rahmenbedingungen in manchen Märkten ab. Im deutschen Markt haben wir beispielsweise Partner, die die mechanischen Komponenten beistellen. Für Maschinenbauer im Ausland können wir einige Lieferanten empfehlen, deren Komponenten zu unserem Roboter-Kit passen.
Wie sieht es in Österreich und Schweiz aus?
Heiko Weissgerber: Die SEW-Landesorganisationen in Österreich und der Schweiz bieten das komplette Kit bis zur Mechanik an. Die Schnittstelle ist dann der Greifer oder Manipulator.
Diese White-List für die Mechanik, gibt es die nur auf Anfrage oder kann man die bei SEW-Eurodrive auf der Website finden? Schließlich müssen bei dynamischen Prozessen Antrieb, Getriebe und Mechanik perfekt aufeinander abgestimmt sein.
Heiko Weissgerber: Gerade weil es um hochdynamische Prozesse geht, ist es ja extrem wichtig, dass der Übergang vom Motor zum Getriebe und das Getriebespiel zur Mechanik sitzt und passt. Wäre in dieser Kette irgendwo ein mittelmäßiger Übergang, dann ist die Gesamtperformance auf Dauer schlecht. Deswegen nennen wir dem Maschinenbauer an der Stelle Mechaniklieferanten, bei denen wir eine ausgewiesene Expertise sehen.
SEW-Eurodrive wird ja nicht immer nur komplette neue Maschinendesigns gewinnen wollen, sondern auch bestehende Maschinengenerationen. Wie sehen die Integrationsmöglichkeiten des Robotik-Kits für Maschinenbauer aus, die nicht ihr komplettes mechatronisches Design ändern wollen?
Heiko Weissgerber: Unsere Automatisierungsplattform, gerade Movikit Robotics, ist genau für solche Szenarien ausgelegt. Unsere Software lässt sich mit mehreren, bestehenden Kinematikvarianten kombinieren. Das Tool ist nicht speziell auf eine einzige Mechanik zugeschnitten, sondern offen gestaltet. Daher können Maschinenbauer ihre unterschiedlichen Mechaniken und deren Parameter integrieren. Auch Roboterarten wie Knickarm und Scara können sie steuern oder Portallösungen mit mehreren Linearachsen.
Setzen sie bei Movikit Robotics auf die Robotik-Module von Codesys?
Heiko Weissgerber: Unsere Lösung ist zwar Codesys-basiert, hat aber eine komplett andere Oberfläche und Funktionalität. Dessen Basis bildet unsere SRL, die SEW Robot Language. Jeder Programmierer, der unser System bereits kennt und nutzt, ist damit in der Lage, die SEW-Lösung an der Userschnittstelle extrem einfach zu integrieren.
Was fehlte denn der Codesys-Lösung, um sie eins-zu-eins übernehmen zu können?
Heiko Weissgerber: Da geht es um Alleinstellungsmerkmale und vor allem um die Integration in unsere Automatisierungsplattform. So haben wir selbst das Know-how in Sachen Robotik im Haus und können auch den SEW-typischen Support leisten, der bei eigenen Lösungen deutlich tiefer und umfänglicher ist als bei einer zugekauften Software. Auch was das Thema Schnittstellen angeht, sind wir dadurch wesentlich flexibler. Movikit Robotics ist ja nur das Basismodul. Über Add-Ons lassen sich diverse weitere Achsen, etwa eine siebte Achse zum Verfahren oder Drehen einer Palette einfügen oder mit anderen Softwaremodulen kombinieren. Das geht bei unserer selbst entwickelten Automatisierungssoftware ohne viel Aufwand. Auch wenn es um Visionsysteme geht, Kameraeinbindungen, Trackingfunktionen oder darum, Teile auf gegenläufige Bänder zu versetzen. Solche Dinge lassen sich ohne aufwendige Schnittstellendefinition integrieren. Das ist der Mehrwert, den ein Maschinenbauer durch unsere Eigenentwicklung gewinnt.
Gibt es für diese Disziplinen ebenfalls Kooperationspartner, die Sie empfehlen, für Bildverarbeitung oder Greifer?
Heiko Weissgerber: Meistens hat der Maschinenbauer bei der Bildverarbeitung eigene Vorstellungen. Wir können natürlich beraten und empfehlen auch Kamerasysteme. Schließlich haben wir aus diversen Projekten eigene Erfahrungswerte.
Was Greifer angeht, liegt das in der Hand des Maschinenbauers. Erstens gibt es viel zu viele, um alle Varianten abdecken zu können. Und zweitens ist der Manipulator eigentlich nie das Problem. Der Maschinenbauer weiß in der Regel sehr genau, wie er das Ganze greifen und bewegen kann. Hier bringen die Kinematiklieferanten bei Bedarf ihre Erfahrungswerte aus Projekten ein. Wichtig ist: Wir lassen den Maschinenbauer nicht allein.
Die verfügbaren Baugrößen gehen bis zu 30 kg Traglast und darüber hinaus. Auf welche Einsatzszenarien zielen denn diese doch recht großen Brocken?
Heiko Weissgerber: Diese Antriebe braucht man nicht ausschließlich, um schwere Lasten zu bewegen. Die Baugröße ergibt sich immer aus mehreren Faktoren, angefangen bei der geforderten Dynamik, dem tatsächlichen Nutzraum und den zu bewegenden Massen. Daher ist es nicht unbedingt gesagt, dass die 30-kg-Variante nur bei großen Lasten zum Einsatz kommt. Bei einer Kreisbewegung, die der Roboter abfahren muss, entstehen je nach Dynamik und Masse extreme Belastungen für die Motoren und die Getriebe sowie Fliehkräfte am Greifer. Dafür sind dann die großen Einheiten notwendig, um dennoch die Steifigkeit und damit die Präzision sicherzustellen. Auch wenn statt der 30 kg Masse nur 1 kg bewegt werden muss. Es ist nicht immer gesagt, dass die angegebene Traglast nur für hohe Lasten ausgelegt ist. Manchmal braucht man die Kraft und die Leistung, um auch kleine Lasten in bestimmten Zyklen bewegen zu können. Deswegen es ist immer ein Zusammenspiel aller Faktoren und die Auslegung auf die Applikation immer individuell.
Welche Präzision erreichen Sie am Getriebeabgang und letztendlich am Manipulatorkopf oder dem Tool Center Point?
Heiko Weissgerber: Mit unserer neuen Baureihe schaffen wir bis zu einer Winkelminute. In der Robotik ist die Präzision der Einzelachse im Prinzip erst mal uninteressant. Entscheidend sind die Wiederholgenauigkeit und die Positioniergenauigkeit am Produkt. Hier kommen wir auf 1/10 Millimeter an der Stelle. Das reicht dann auch, um die Haselnuss zu picken und irgendwo draufzusetzen.
Praktisch ließe sich doch viel ausregeln, wenn man Sensorik am Manipulator anbringt und darüber letztlich das Getriebespiel oder des Manipulators kompensiert.
Ist das realistisch?
Heiko Weissgerber: Das kommt tatsächlich auf die Applikation an. Bei klassischen Pick-Anwendungen sind wir im kartesischen System. Da haben Sie eigentlich auch kaum Spiel, weil sich die Getriebe der drei Achsen gegenseitig ausregeln. Anders sieht es aus, wenn etwa Kreisbewegungen zu realisieren sind. Dann sind die Fliehkräfte so hoch, dass sie ausgeregelt werden müssen. In diesen Fällen erfolgt die Regelung oder Positionierung auch über den Toolcenterpoint.
Spätestens beim Thema 3D-Simulation und Kollissionserkennung sind wir ja bei der Mechanik, auf der MCAD-Seite. Wie sieht denn hier die Integration aus?
Heiko Weissgerber: Aktuell läuft bei uns die Simulation für die Programmierung autark. Normalerweise ist das immer eine Integration in existierende Maschinenmodule. Der Maschinenbauer hat dafür bereits Software und Tools, mit denen er arbeitet. Logisch, dass er nicht erpicht ist, ein weiteres externes Programm nur für die Robotiklösung zu integrieren. Dann hätte er nämlich wieder eine Schnittstelle. Genau das wollen wir gerade abbauen. Deswegen stellen wir alles an Daten für Ablaufsimulationen in anderen Tools und fürs mechanische Engineering zur Verfügung, die der Maschinenbauer bei Bedarf auch nutzen kann.
Gerade bei schweren Lasten und hoher Dynamik ist das Thema Sicherheitstechnik einen wichtigen Aspekt. Ist Safety auch Bestandteil ihrer Robotik-Lösung?
Heiko Weissgerber: Safety ist im Automatisierungsbaukasten Movi-C durchgängig verfügbar. Weil die Kinematiken in Maschinenmodule integriert werden, lassen sie sich auch in die Safetykonzepte der Maschine einbetten. Das Teachen unserer Roboter bei geöffneter Abdeckung hängt somit vom Sicherheitskonzept der Maschine ab. Teach-in-Funktionen können über ein Panel mit Zustimmtaster realisiert werden. Cobot-mäßiges Teachen braucht es nicht, da die Bewegungsabläufe nicht ständig angepasst werden.
Wie wichtig ist denn der Controller für die Robotikapplikationen? Was muss er alles mitbringen, um die Achsen präzise anzusteuern und vorher die zu greifenden Teile zu erkennen?
Heiko Weissgerber: Der Controller muss verschiedene Achsen sehr schnell berechnen können und präzise ansteuern. Dazu braucht es eine gewisse Performance und eine Kommunikation in Echtzeit. Gerade wenn Kamerasysteme und Tracking implementiert werden. Dennoch braucht es nicht immer gleich einen PC-basierten Controller. Bereits mit den kleinen Controllern lassen sich drei Achsen problemlos koordinieren. Stärkere Controller ermöglichen es, weitere Achsen oder mehrere Roboter auf einem Rechner anzusteuern.
Wettbewerber fahren hier teilweise eine andere Strategie und setzen für jede Kinematik auf eine separate Steuerung. Die sind dann wiederum als Master und Slave-Variante zu koordinieren. Mit Movikit Robotics lassen sich dagegen mehrere Tripoden oder Hilfsachsen taktsynchron mit einem Controller ansteuern. Das gibt die Performance der Controller und unsere eigenentwickelte Software her.
Was dürfen wir von SEW-Eurodrive denn auf der SPS in Sachen Robotics erwarten?
Heiko Weissgerber: Robotik ist absolutes Trendthema und aus Sicht der Steuerungstechnik auch hochinteressant. Wir werden verschiedene Robotik-Lösungen zeigen auf Basis der Tripod-Kinematik mit der Möglichkeit diese Demos live vor Ort zu parametrieren – ergänzt um Predictive Maintenance, Condition-Monitoring- und Smart-Remote-Assistence-Funktionen.
Das Interview führte IEE-Chefredakteur Stefan Kuppinger
SEW auf der SPS 2019: Halle 3A , Stand 411
(sk)