Meine Tochter macht derzeit den Führerschein, und wenn sie mir in diesen Tagen (hoffentlich) ihre Prüfungsbescheinigung zeigen wird, dann werde ich ihr wohl die gleichen Worte sagen, die mir schon mein Vater vor über drei Jahrzehnten mit auf den Weg gab, als ich meinen „grauen Lappen“ voller Stolz zuhause präsentierte: „Unfälle passieren nicht; Unfälle werden verursacht“.

Auch im Zeitalter von ABS/ESC und ADAS hat diese Erkenntnis nach wie vor Bestand, denn Unfälle werden nach wie vor verursacht und passieren nicht aus heiterem Himmel. Nach Angaben der Schweizer Versicherung Axa Winterthur war die Hauptunfallursache bei Kreuzungskollisionen von Pkws in der Schweiz im Jahr 2012 schlicht und einfach „Unaufmerksamkeit und Ablenkung“ – nämlich in 29 Prozent der Fälle. Bei 21 Prozent dieser Unfälle war ein Missachten der Vorfahrt die Ursache.

Bis zum vollautomatisiert fahrenden Serienfahrzeug ist es noch ein langer Weg. Bis dahin unterstützen uns ADAS.

Bis zum vollautomatisiert fahrenden Serienfahrzeug ist es noch ein langer Weg. Bis dahin unterstützen uns ADAS.Bosch

Bei vielen Aufgaben wie beispielsweise beim „Führen eines Kraftfahrzeugs“ sind wir Menschen ausgesprochen gut und flexibel, aber wir neigen einerseits dazu, mit zunehmender Dauer und Routine dem Geschehen auf der Straße weniger Aufmerksamkeit zu widmen, während wir andererseits im Falle eines Falles eventuell auch eine falsche oder nicht ausreichend intensive Aktion einleiten. Bei Fahrerassistenzsystemen (ADAS) ist das anders: Sie erledigen nur eine sehr eingeschränkte Tätigkeit, dies aber permanent, sehr schnell und sehr zuverlässig. Ein radarbasiertes ACC-System beispielsweise regelt permanent den Abstand zum Vordermann, und das kamerabasierte (Not)bremssystem reagiert immer und sofort – auch wenn wir gerade im Gespräch den Beifahrer anschauen oder uns „ganz kurz“ den quengelnden Kindern auf dem Rücksitz widmen. Exakt an dieser Stelle können ADAS die Menschen sehr gut ergänzen.

Es ist natürlich ein befremdendes Gefühl, wenn wir wissen, dass das Auto selbstständig eine Notbremsung mit über 1 g Verzögerung durchführen kann. Aus diesem Grund warnen die Fahrerassistenzsysteme ja auch zuerst, bevor sie dann die Aktoren (meist: Bremsen oder Lenken) aktivieren. Andererseits ist manchmal ein sofortiger Brems- oder Lenkeinsatz erforderlich – beispielsweise, wenn ein Fußgänger plötzlich auf die Straße tritt. Fußgänger sind hochdynamische Systeme, und da ist keine Zeit mehr für regelungstechnische Totzeiten, in denen der Fahrer gewarnt wird und seine Schrecksekunde verstreichen lässt, um dann am Ende gar noch zu zaghaft auf die Bremse zu treten.

Auf jeden Fall sollte das System eingreifen, wenn der Fahrer nicht aufmerksam ist. Eine sehr effektive Kontrolle der Fahrer-Aufmerksamkeit liefern Innenraum-Kameras, die überprüfen, ob der Fahrer auch wirklich in Fahrtrichtung mit offenen Augen auf die Straße schaut. Wenn sein Blick sonst wo verweilt, dann vergehen im besten Fall mindestens zwei Sekunden bis die Verzögerung einsetzt – zwei Sekunden, in denen das Fahrzeug bei 50 km/h ungebremst fast 28 m zurücklegt. Erst nach diesen zwei Sekunden hat sich ein zuvor abgelenkter Fahrer wieder so weit mit allen relevanten Gegebenheiten der aktuellen Fahrsituation vertraut gemacht, dass er eine Entscheidung treffen und entsprechend reagieren kann. Wenn ein AEB innerhalb dieser zwei Sekunden ohne Vorwarnung eine Notbremsung oder die Umfahrung eines Hindernisses auslöst, dann ist das ein sehr beachtlicher Sicherheitsvorteil. Für mich liegt in der sinnvollen Nutzung dieser zwei Sekunden derzeit das größte Potenzial, denn die dahinterstehenden Systeme sind ja bereits vorhanden. Die Fahrerassistenzsysteme müssen quasi nur noch die Erlaubnis bekommen, sofort einzugreifen und natürlich gleichzeitig auch mit Warnungen die Aufmerksamkeit des Fahrers zurück auf die Straße ziehen.

Gemäß dem Wiener Weltabkommen, das bekanntlich noch vor Neil Armstrongs Schritten auf dem Mond verabschiedet wurde, muss der Fahrer allzeit die Kontrolle über das Fahrzeug haben. Wenn der Fahrer sich aber durch mangelnde Aufmerksamkeit – beispielsweise durch einen Blick auf den Rücksitz – quasi selbst für einige Zeit aus dieser Kontrolle entlässt, dann muss das Fahrzeug während derartig eindeutig erkannten Zeiträumen die Kontrolle übernehmen, damit in einem solchen Fall die Unfallursache „Fahrer“ entfällt.

Akzeptanz erhöhen, aber wie?

Wichtig ist, dass die Fahrer lernen, den Systemen zu vertrauen und mit den Systemen zu leben. Was nutzt zum Beispiel ein kamerabasierter Spurhalteassistent (LKA), wenn der Fahrer ihn abschaltet? Der Grund für das Abschalten kann allerdings durchaus eine für den Fahrer nicht zufriedenstellende Auslegung oder Parametrierung des Systems sein. Sowohl die OEMs als auch die Tier-1s sind somit gefragt, denn ein LKA greift erfahrungsgemäß öfter ein als ein AEB. Hier kann ADAS viel Terrain gewinnen, verschenken oder verlieren.

An ABS und ESP haben wir uns gewöhnt, aber wir bedienen die Systeme noch zu zaghaft. Axa Winterthur hat festgestellt, dass nur ein Prozent der „Junglenker“ (Fahrer in den ersten drei Jahren nach Erwerb der Fahrerlaubnis) so stark auf die Bremse treten, dass sie die maximale Verzögerung erzielen. Selbst wenn bei den erfahrenen Fahrern wirklich zwanzigmal so viele die Maximalbremsung erreichen sollten, nutzten immer noch 80 Prozent das Potenzial der modernen Bremsen nicht aus – und hier müssen Assistenzsysteme wie EBA serienmäßig einschreiten.

Es ist gut, dass Fahrzeugkäufer auf die Euro-NCAP-Bewertung schauen und möglichst ein 5-Sterne-Auto erwerben möchten. Durch das Anheben der Messlatte bei Euro-NCAP sind bekanntlich in Zukunft 5 Sterne nur noch mit entsprechenden Assistenzsystemen erreichbar.

ADAS für alle Klassen

Ich bin mir sicher, dass Fahrerassistenzsysteme innerhalb der nächsten fünf Jahre massiv zulegen werden, und durch die dann immer höheren Stückzahlen werden die Preise sinken. Zunächst werden Kamera- und Radar-Technik – oft im Rahmen der Sensordatenfusion – neue Systeme ermöglichen, die auch in der Kompaktklasse bezahlbar werden. Die Beiträge auf den Seiten 20 bis 23 und 24 bis 27 zeigen, dass die Monokameras mittlerweile aufgrund höherer Auflösung sowie verbesserter und neuer Algorithmen sehr vielseitig einsetzbar sind. Stereokameras sind längst nicht immer nötig.

In der Premiumklasse lassen sich komplexe Fahrerassistenzsysteme natürlich leichter wirtschaftlich umsetzen, aber die größte Kunst besteht meiner Meinung nach darin, ADAS bezahlbar in die (Sub-)Kompaktklasse zu bringen. Vor dem Hintergrund einer überalternden Gesellschaft dürfte auch jenseits der Premiumklasse der ADAS-Bedarf signifikant ansteigen, wenn wir es schaffen, im Showroom und auf der Probefahrt die Vorteile der Fahrerassistenzsysteme viel besser zu erklären, denn in ADAS ist das Geld besser angelegt als in Leichtmetallfelgen.

Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass ein Probefahrer, der nachts mit einem LED-Matrix-Licht (siehe Videos unter diesem Link) unterwegs war, dieses Paket auch hinzubestellt, aber er muss es im wahrsten Sinne des Wortes auch erfahren und nicht nur als (teures) Kästchen zum Ankreuzen auf der Optionsliste finden. Wer sich einmal anonym zu einem Fahrzeughändler begibt und sein Bestell-Interesse äußert, der wird überrascht sein, wo die Verkäufer ihre Prioritäten setzen: Leider hat ADAS für die Verkäufer viel zu oft nur einen geringen Stellenwert. Eine Bekannte, die ein Fahrzeug der unteren Mittelklasse mit der bestmöglichen Sicherheits- und ADAS-Ausstattung (aber nur einem mittelmäßigen Infotainment) bestellen wollte, versuchten die Verkäufer massiv umzustimmen…

Von ADAS zum autonomen Fahren

In einem nächsten Schritt kommt Lidar (eine Art Radar auf Infrarot-Basis) hinzu, und in Kombination mit LKA, EPS sowie sehr viel Software sind wir dann dem autonomen Fahren wieder ein Stückchen näher gekommen. Wenn der Stauassistent den Fahrer im Stop-and-Go-Betrieb so stark entlastet, dass er nach dem Stau entspannt selbst weiterfahren kann, dann leistet eine derartige Komfort-Funktion auch einen wesentlichen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Bosch kündigte ja auf der CES noch für dieses Jahrzehnt einen Highway-Piloten an, der das Fahren von der Einfahrt auf den Highway bis zur Ausfahrt bei Geschwindigkeiten von bis zu 80 Meilen/h (knapp 130 km/h) übernimmt oder assistiert.

Vollautonome Fahrzeuge werden wir allerdings in den nächsten 15 bis 20 Jahren nur in (fast) homöopathischen Stückzahlen auf öffentlichen Straßen antreffen, aber nach dieser Zeitspanne, in der wir viel Erfahrung mit der Automatisierung von Fahrfunktionen sammeln werden, könnte eine sehr spannende Ära des Fahrens beginnen. Bis dahin werden ADAS allerdings die Sicherheit bereits signifikant erhöhen und den Komfort steigern: Zumindest die zu Beginn erwähnten 29 Prozent der Hauptunfallursachen sollten dann auf fast null Prozent geschrumpft sein – eine äußerst lohnenswerte Perspektive!

Alfred Vollmer

ist Redakteur der AUTOMOBIL-ELEKTRONIK

(av)

Sie möchten gerne weiterlesen?