Im März 2020 wies ein Analyst rund um Fragen der künstlichen Intelligenz darauf hin, dass es trotz zuversichtlicher öffentlicher Erklärungen von Führungskräften der Automobilindustrie noch ein langer Weg sei, ehe der Öffentlichkeit selbstfahrende Fahrzeuge in einem nennenswerten Umfang zur Verfügung stehen.
Natürlich prognostizieren selbst die vorsichtigsten Analysen die unglaublichen Veränderungen, die angesichts Covid-19 weltweit jedem Einzelnen und jeder Familie bevorstehen. Doch – auch wenn wir das Ausmaß der langfristigen Beeinträchtigungen durch diese Pandemie nicht unterschätzen sollten – denke ich dennoch, dass die Aussichten für selbstfahrende Fahrzeuge äußerst spannend bleiben, ungeachtet der wirklich schwierigen kurzfristigen Aussichten.
Die Chancen für selbstfahrende Automobile
Die Umsatzerwartungen der Automobilindustrie für etablierte Fahrzeugklassen vor Corona sind illusorisch geworden. Doch ist jegliche Art von Prognosen für ein ganz neues Fahrzeugkonzept ebenso praktisch unmöglich. Es mag aber hilfreich sein, einige Trends aufzuzeigen.
- Sinkende Ölpreise schieben das Argument langfristig vorteilhafterer Gesamtbetriebskosten von E-Fahrzeugen auf die längere Bank. Doch selbstfahrende Autos müssen nicht zwangsläufig hybrid oder komplett elektrisch ausgelegt sein. Allerdings kämpft die standardmäßige 12-V-Stromversorgungsarchitektur fossil betriebener Vehikel schon jetzt mit den etwa 2 kW, die die heutige Funktionsbreite fordert, geschweige denn mit den geschätzten zusätzlich benötigten 2 – 4 kW für Bordsensorik, Aktuatoren und Computern für das selbstfahrende Fahrzeug. Die Stromversorgungsarchitekturen mit 400 V und mehr von Plug-in-Hybriden und Elektrofahrzeugen kommen damit besser zurecht.
- Wir sehen einer Rezession entgegen. Das wirkt sich nicht nur auf die Anschaffungsfreude von Privatpersonen und Unternehmen aus. Sie bedeutet auch gehörig mehr Arbeitslosigkeit. Dies senkt die Löhne bei Neueinstellungen, was eventuell für ein geringeres, kostengetriebenes Ausweichen auf Automatisierung sorgt. Diese Situation wird sich so bald nicht ändern.
- Die Menschen nehmen die Vorzüge geringerer Schadstoffbelastung durchaus wahr. Bevölkerung und Regierung dürften einen solchen Wandel als durchaus positiv bewerten und daher auch weitere Anreize zur Abkehr von fossil betriebenen Motoren vorantreiben.
- 2020 dürfte es wesentlich weniger Verkehrstote geben, weltweit die Haupttodesursache aller 15- bis 29-Jährigen. Das sollte die Sicherheitsidee hinter ADAS (weiterentwickelte Fahrer-Assistenzsysteme) weiter beflügeln.
Langfristig gute Perspektive
Die Umwelt- und Sicherheits-Aspekte überzeugen mich davon, dass langfristig die Perspektive für selbstfahrende Fahrzeuge ziemlich spannend bleibt. Auch denke ich, dass sich die finanziellen Aspekte verbessern werden, sobald sich die Wirtschaft erholt. Bis es aber soweit ist, macht die schwache, dem ROI unzuträgliche Konjunktur sofortige Marktchancen äußerst schwierig. Bei zusätzlicher Betrachtung des wirtschaftlichen Kontexts einer Post-Corona-Zeit – neben den technischen Herausforderungen der Automatisierung –, erscheint ein weit verbreitetes Aufkommen von Fahrzeugen, die unter allen Bedingungen ohne einen anwesenden Fahrer fahren können, ganz offensichtlich reichlich unrealistisch. So manches Unternehmen wird sicher Konkurs anmelden müssen.
Autonomie Level 4 für Lkw, Level 2 für Pkw
Fokus und Chancen für selbstfahrende Fahrzeuge liegen meiner Meinung nach zunächst erstmal im Speditionsgewerbe. Trotz der kürzlichen Schließung von Starsky Robotics (einem Start-up für autonome Lkw) und des schwachen Arbeitsmarkts. Denn hier gibt es viel klarere ROI-Argumente, weil es darum geht, anstelle vom Endkunden Mensch Fracht sicher und schnell (und mit kürzeren Ruhezeiten für den Fahrer) zu transportieren. Der Entwicklungsschwerpunkt liegt hier auf SAE-Level 4 (hohe Automation), bei der die Führung des Fahrzeugs auf bestimmten Teilstrecken dauerhaft vom System übernommen wird.
Zu den gezielt avisierten Anwendungsfällen zählten Lkw, die nur auf begrenztem Gebiet wie Privatgrundstücken zum Einsatz kommen oder die sich in bestimmtem Kontext selbst fahren, zum Beispiel auf Autobahnen bei gutem Wetter, sodass der Fahrer sich ausruhen kann, um in anspruchsvolleren Gegenden wie dem Stadtverkehr dann wieder das Steuer zu übernehmen. Bei privaten Pkw allerdings dürften sich einige dieser ehrgeizigen Programme verzögern. Speziell die etablierten Autohersteller konzentrieren sich auf die Autonomiestufe Level 2, weil dies sich kurzfristig profitabler verkaufen lässt.
Level 3 ist eine schwierige mittlere Position, die meiner Ansicht nach zukünftig weitgehend ignoriert wird. Sie wird auch „Bedingungsautomatisierung“ (conditional automation) genannt. Viele behaupten, dass dem Level 3 schlichtweg Funktionen hinzugefügt wurden, in Wirklichkeit aber zu einem Level 2-System gehören. Den Wechsel weg von der Maschinen- zurück zur menschlichen Steuerung sicher zu bewerkstelligen ist sehr anspruchsvoll. Im April 2020 kündigte Audi an, die Level 3-Pläne für den A8 aufzugeben und sich stattdessen auf Level 2 zu konzentrieren.
Fazit
Die Automobilindustrie sieht einer schwierigen Post-Corona-Zeit entgegen, vor allem bei autonomen Fahrzeugen mit höheren Autonomiestufen. Die Langzeitprognose sieht aber gut aus.
Wir werden eines Tages ein sicheres Reisen in Fahrzeugen genießen, die unter umgrenzten Bedingungen selbst fahren können. Bis dahin ist eine eher schrittweise Evolution dieser außerordentlich sicherheitskritischen Entwicklung keine schlechte Sache. Dies gestattet den beteiligten Unternehmen, sich durch die großen Herausforderungen vor allem hinsichtlich der Entwicklung der Softwareplattform hindurchzuarbeiten.
Die derzeit zu beobachtenden Aktivitäten in der Branche zeigen, dass sie auf dem Wege ist, die Kosten, Platz- und Energiebedarfe dieser hochkomplexen Plattformen erheblich zu senken, um sie gebrauchstauglich für ihren Verwendungszweck zu machen: solide, stabil und zuverlässig zum flächendeckenden Einsatz auf der Straße.
(na)
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