Steigende Komplexität der Bordnetze: Fortgeschrittene Fahrerassistenzsysteme und autonomes Fahren bedingen redundante Auslegung sicherehitsrelevanter Systeme. Hinzu kommt die Integration von Infotainment-Systemen.

Steigende Komplexität der Bordnetze: Fortgeschrittene Fahrerassistenzsysteme und autonomes Fahren bedingen redundante Auslegung sicherehitsrelevanter Systeme. Hinzu kommt die Integration von Infotainment-Systemen. (Bild: Mentor Graphics)

Die Problemstellungen in der Bordnetzentwicklung sind sehr vielfältiger Natur. Eine besondere Herausforderung ist der Kabelbaum, der im Automobil aus wenigen Drähten zur Verbindung der Batterie mit dem Anlasser über einen Schalter hervorgegangen ist. Heutige Fahrzeuge haben inzwischen Hunderte oder gar Tausende von Leitungen mit einem Gewicht von rund 60 kg und einer Gesamtlänge, die sich in Kilometern messen lässt. Dadurch und durch die bis heute überwiegend manuelle Fertigung ist der Kabelbaum eine der teuersten Komponenten im Fahrzeug und unterliegt einem stetigen hohen Kostendruck.

Technische Aspekte der Bordnetzentwicklung

Die Herausforderungen bei der Leitungssatzentwicklung sind hauptsächlich elektrischer Natur und zum Großteil der hohen Varianz geschuldet. Obwohl mehr als die Hälfte der Leitungssatzvarianten nur ein einziges Mal verbaut wird, wählt man sehr häufig einen eher mechanischen Entwicklungsansatz und fokussiert sich auf die physikalische Verlegung. Dies durfte auf den historisch begründeten Schwerpunkt der Organisationen auf die mechanische Fahrzeugkonstruktion zurückzuführen sein.

Durch die stetige Zunahme an Funktionen im Fahrzeug entstand ein immer umfangreicherer, schwererer und teurerer Kabelbaum. In der Vergangenheit gab es schon vielfach Ansätze zur Verschlankung der Kabelbäume in Form von Multiplextechnologien und Bussystemen, was jedoch langfristig nicht den gewünschten Effekt zeigte. LIN, CAN, MOST, Flexray, Ethernet und andere zeigen den hinlänglich von Diäten bekannten Jojo-Effekt: Die Kabelbäume sind heute dicker denn je. Um dennoch Kosten und Gewicht zu reduzieren, verwendet man nicht nur alternative Leitermaterialien wie beispielsweise Aluminium oder eruiert zumindest deren Einsatz, sondern setzt auch auf kleinere Querschnitte, insbesondere bei Signalleitungen, die hier ihren Beitrag leisten können. Es ist also festzustellen, dass sehr viele Technologien und eine sehr große Variantenvielfalt die Entwicklung des physikalischen Bordnetzes beeinflussen.

Steigende Komplexität der Bordnetze

Hohe Varianz: Über die Hälfte aller Leitungssatzvarianten wird nur ein einziges Mal verbaut, während insgesamt 3 % der gebauten Leitungssatz-Varianten am häufigsten verbaut werden.

Hohe Varianz: Über die Hälfte aller Leitungssatzvarianten wird nur ein einziges Mal verbaut, während insgesamt 3 % der gebauten Leitungssatz-Varianten am häufigsten verbaut werden. Mentor Graphics

Hauptsächlich die immer strengeren Abgas- und Verbrauchsvorschriften, wie beispielsweise der US-CAFE-Standard, treiben die Elektrifizierung der Fahrzeuge voran. Nur mit weiteren Verbesserungen am Verbrennungsmotor sind diese Vorschriften kaum mehr einzuhalten. Insbesondere bei Elektrofahrzeugen kommen dabei Mehrspannungsbordnetze zum Einsatz, da sich viele Hochleistungsverbraucher, unter anderem der Antriebsmotor, mit einer Betriebsspannung von 12 V nicht effizient betreiben lassen. Somit ergibt sich die Notwendigkeit, Fahrzeuge zu entwickeln und abzusichern, welche mit sehr unterschiedlichen, teilweise gefährlich hohen Spannungen arbeiten. Doch neue Spannungsebenen einfach zusätzlich und völlig unabhängig einzuführen, ist aufgrund vieler gemeinsamer elektrischer und mechanischer Schnittstellen kaum möglich und führt zu einem suboptimalen Gesamtsystem. Insbesondere fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme und autonomes Fahren sorgen für komplexere Gesamtsysteme und verlangen viele zusätzlichen Leitungen für eine redundante Auslegung sicherheitsrelevanter Systeme, wobei man von Größenordnungen zwischen 40 und 80 % ausgeht.

Veränderte Entwicklungsprozesse

Einst ein paar Kabel zur Verbindung von Batterie und Anlasser, heute ein teils aufwendig von Hand gefertigtes komplexes Geflecht aus mehreren Kilometern Kabel: Der moderne Leitungssatz.

Einst ein paar Kabel zur Verbindung von Batterie und Anlasser, heute ein teils aufwendig von Hand gefertigtes komplexes Geflecht aus mehreren Kilometern Kabel: Der moderne Leitungssatz. Shutterstock/Mentor

Da im Bordnetz viele Änderungen zu erwarten sind, ist inzwischen bereits bei vielen OEMs eine Verschiebung der Entwicklungsschwerpunkte in Richtung Elektronik und Software zu beobachten. Diese Verschiebung erkennt man zum einen an der Anzahl der Software- und Elektronikentwickler, zum anderen an der Anzahl der Nicht-Maschinenbauer im Management der Unternehmen. Die Struktur der Entwicklungsorganisationen und die Entwicklungsprozesse sind allerdings noch immer zumeist auf eine Komponentenentwicklung ausgelegt und weniger auf ein Systems Engineering, also eine Gesamtsystementwicklung  Dadurch beschäftigt man sich hauptsächlich mit der Weiterwicklung existierender Systeme, oftmals über den Mechanismus von Änderungsmitteilungen, und die Abteilungen arbeiten als „Silos“, wobei insbesondere die Kommunikation zwischen verschiedenen Ingenieursdisziplinen schwierig ist und der Blick auf das Gesamtprodukt eine Herausforderung darstellt. Gerade für die Leitungssatzentwicklung ist es problematisch, da sowohl die Fahrzeuggeometrie als auch die Anforderungen aller elektrischen Komponenten den Leitungssatz beeinflussen und nahezu jede Änderung im System eine Anpassung erfordert.

Im Gegensatz zu Deutschland, wo man in diesem Bereich noch sehr viel mit aufwendigen Prozessen arbeitet, setzen Firmen in anderen Ländern, allen voran in Asien, oder in reinen Elektrofahrzeugmärkten ihre Schwerpunkte verstärkt auf fortschrittliche und hoch-integrierte Entwicklungswerkzeuge, um so schneller auf die Marktanforderungen reagieren zu können. In diesem Fall ist natürlich auch der „Rucksack“ mit existierenden Prozessen und Methoden deutlich kleiner.

Die Entwicklung neuer Architekturen, die alle Anforderungen zur Integration von Software, Hardware, Netzwerken, Mehrspannungsversorgung, alternativen Leitermaterialien und ähnlichem erfüllen, bedeutet mit Fokus auf hochintegrierte Werkzeuge einen Wettbewerbsvorteil für die neuen Marktteilnehmer.

Betrachtet man im Zusammenhang mit der Beschleunigung der Produktzyklen im Automobilmarkt die hohe Geschwindigkeit der Produktentwicklung von Verbraucherelektronik und die dort verwendeten Werkzeugketten, so ist deutlich zu erkennen, dass diese üblicherweise einen sehr hohen Grad der Integration aufweisen und dass die digitale Durchgängigkeit dort Realität ist. Um schneller auf Marktanforderungen reagieren zu können und auch grundsätzlich neue Entwicklungen schnell in den Markt zu bringen, müssen demzufolge auch bei der Bordnetzentwicklung agilere Prozesse und besser integrierte Softwarewerkzeuge zum Einsatz kommen.

Trends in anderen Industriezweigen

Verbesserungsansatz Systems Engineering: Die Verknüpfung unterschiedlicher Entwicklungsdomänen wie Software, Netzwerk, Elektronik und Elektrik durch den Einsatz hochintegrierter Entwicklungswerkzeuge.

Verbesserungsansatz Systems Engineering: Die Verknüpfung unterschiedlicher Entwicklungsdomänen wie Software, Netzwerk, Elektronik und Elektrik durch den Einsatz hochintegrierter Entwicklungswerkzeuge. Mentor Graphics

Gerade weil in Deutschland das Thema Automobil an vorderster Stelle steht, kann der Blick in andere Industriebereiche interessant sein und eventuell eine Perspektive auf künftige Änderungen im Bereich der Leitungssatzentwicklung aufzeigen, insbesondere wenn diese Industrien bereits Herausforderungen gemeistert haben, die der Automobilindustrie noch bevorstehen.

Die Luftfahrtindustrie musste sich den Anforderungen bezüglich funktionaler Sicherheit und redundanter Systemauslegung schon vor einigen Jahren stellen, da Flugzeuge schon sehr lange selbstständig fliegen. Wenngleich die Kostenreduktion nicht den gleichen Stellenwert wie in der Automobilindustrie hat, so ist die Notwendigkeit, Gewicht zu reduzieren, sogar noch größer. Auch die Komplexität moderner Agrarfahrzeuge ist sehr hoch, denn die Fahrzeuge fahren seit Jahren autonom und sind mit einer Vielzahl von Funktionen ausgestattet, die Parameter wie Temperatur und Feuchtigkeit genauso wie die Position messen. Zusammen mit High-end-Infotainment-Systemen ergeben sich hier sehr komplexe elektrische Systeme. Des Weiteren zeigen neue Geschäftsmodelle wie „Power by the hour“ im Lkw-Markt, aber auch im Pkw-Markt, einen Trend weg vom Fahrzeugverkauf und hin zum Bereitstellen von Mobilität. Diese Geschäftsmodelle erfordern eine hohe Verfügbarkeit. Die schnelle Wartbarkeit ist hier deshalb wichtiger als bei herkömmlichen Geschäftsmodellen, bei denen es zunächst das Problem eines einzelnen Kunden ist, wenn das Fahrzeug nicht betriebsbereit ist.

Beim Bau von hochkomplexen Landmaschinen, wie beispielsweise Mähdreschern, ist die Wartbarkeit im Feld und die vorbeugende Wartung ein sehr wichtiges Thema. Ausfallzeiten können sehr teuer werden, wenn man Ersatzteile und Ingenieure in weit entfernte Regionen schicken muss. All dies gilt es zu vermeiden oder zumindest die Aufwände zu minimieren. Ähnliche Themen gibt es bei Militärprodukten, bei denen man von Mission Availabililty spricht und bei Flugzeugen, bei denen man von Aircraft on Ground spricht.

In diesen Märkten ist ein Trend zur automatischen Erzeugung der Dokumentation aus den Entwicklungsdaten zu beobachten, und gleichzeitig ist das Interesse an interaktiver Dokumentation gestiegen, um den Servicetechnikern die Arbeit zu erleichtern und diese zu beschleunigen. Sowohl im Flugzeugbau als auch im Landmaschinenbau kommt zunehmend digitale Durchgängigkeit in hochintegrierten Softwarewerkzeugen zum Einsatz, und der Einsatz von Simulation zur Absicherung der elektrischen Systeme ist gerade bei den Landmaschinen weit verbreitet.

Höhere Bedeutung der Bordnetzentwicklung

Das verstärkte Interesse beim Thema Bordnetzentwicklung spiegelt sich beispielsweise in verschiedensten Veranstaltungen wider. Noch vor einigen Jahren gab es zu diesem Thema wenige und fast ausschließlich technische Tagungen. Inzwischen ist die Zahl gewachsen, und immer mehr Teilnehmer aus dem Management widmen sich dem Thema. Interessant ist auch, dass 2015 auf der Liste der Most Innovative Companies der Boston Consulting Group vier typische Automobilfirmen unter den ersten zehn waren. Neu ist, dass zwei der Top-Ten-Firmen aus dem Silicon Valley kommen und ebenfalls – zumindest gerüchteweise – Fahrzeuge entwickeln. Als Folge davon findet man zwischen all den Hightech-Firmen auch Entwicklungsdienstleister für Bordnetze und Leitungssätze. Ein weiterer Indikator für die zunehmende Relevanz dieses Themas ist der Start des ersten Studiengangs Bordnetzentwicklung an der Hochschule Landshut zum Wintersemester 2015/16, denn Ingenieure zur Leitungssatzfreigabe und Softwarekalibrierung, die für diese Aufgaben Kenntnisse in vielen verschiedenen Bereichen mitbringen, sind derzeit sehr schwer zu finden.

Verbesserungsansatz

Eckdaten

Meist sind für die Kabelbäume der Bordnetze in modernen Fahrzeugen mehrere Kilometer Kabel erforderlich, die nicht nur ein erheblicher Kostenfaktor in der Herstellung sind, sondern auch neue Entwicklungsansätze und hochintegrierte Softwarewerkzeuge erfordern, um die Variantenvielfalt durch immer umfangreichere Fahrzeugfunktionen beherrschbar zu machen.

In Anlehnung an die Prozesse in der Elektronikbranche ist davon auszugehen, dass hochintegrierte Entwicklungswerkzeuge den Übergang zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen massiv beschleunigen können. Digitale Durchgängigkeit und Automatisierung sind hierbei Schlüsselthemen. Dabei ist insbesondere das Thema Variantenvielfalt zu adressieren, um den Forderungen der Märkte nach immer mehr kundenspezifischen Produkten nachzukommen.

Um gute Entscheidungen treffen zu können, müssen Teams, die in unterschiedlichen Entwicklungsdomänen und geographischen Regionen arbeiten, die Auswirkung ihrer Arbeit auf das Gesamtsystem einfach und schnell verstehen können – auch wenn dies in einem Bereich ist, mit dem sie technisch nicht vertraut sind, zum Beispiel Elektrik gegenüber Mechanik. Und das nach Möglichkeit durchgängig über die verschiedenen Entwicklungsstufen hinweg, also von Architektur bis zur Implementierung und zurück.

Für Softwarewerkzeughersteller ist einerseits die Verbindung mit anderen Domänen ebenso wichtig wie die eigentliche Hauptfunktion eines Werkzeugs. Andererseits muss man Abstraktionsebenen unterstützen, die eine Kommunikation zwischen verschiedenen Ingenieursdisziplinen und unterschiedlichen Wissensgraden ermöglichen.

Am Ende wird es entscheidend für die Kaufentscheidung der Kunden sein, und um diese Funktionen überhaupt ins Fahrzeug zu bekommen, nimmt die Komplexität der Bordnetze immer mehr zu. Zur Beherrschung dieser Komplexität bietet sich ein Systems-Engineering-Ansatz mit hochintegrierten Softwarewerkzeugen an, wozu auch eine entsprechende Anpassung der Organisation notwendig ist. Ganz klar ein Thema für das Top-Management!

Thomas Heurung

Manager Technical Sales bei Mentor Graphics

(pet/av)

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