ECKDATEN
Der vorgestellte modellbasierte Ansatz, wie er in Preevision realisiert ist, kann wesentlich dazu beitragen, mit der zunehmenden Komplexität bei der Entwicklung von E/E-Systemlösungen effizient umzugehen. Er ist damit ein Schlüssel um erfolgreich an der Digitalisierung von Branchen zu partizipieren, in denen die Elektronikentwicklung eine zunehmende Bedeutung bekommt. Dazu gehört neben der Automobilindustrie und dem produzierenden Gewerbe insbesondere auch die Medizintechnik.
„Wie Apple den Medizin-Markt erobern will“ lautet eine Meldung, welche auf die Entwicklung eines Blutzuckermessgeräts durch Apple eingeht.[1] Hiermit wird deutlich, dass sich die Medizintechnik-Branche wie viele andere Branchen in oder noch vor einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Die Digitalisierung beeinflusst die über 11.000 Unternehmen und mehr als 190.000 Beschäftigten in Deutschland nachhaltig. Entsprechend müssen die Produkte als auch deren Entwicklung digital reformiert werden: Statt abgeschlossener Systeme mit niedrigen Stückzahlen wie zum Beispiel Computertomografen oder kleinerer Sensorgeräte in hohen Stückzahlen wie beispielsweise Blutzuckermessgeräte werden heute vermehrt vernetzte Systemlösungen gefordert. Diese interoperablen Systeme sammeln Daten, legen diese in private und öffentliche Cloud-Speicher ab und werden Over-the-Air (OTA) mit Software-Updates versorgt. Die Entwicklung solcher Systeme erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlicher Experten sowie beschleunigte und dynamische Entwicklungsprozesse. Etablierte Methoden werden deshalb in Frage gestellt und neue Tools zur Entwicklungsunterstützung genutzt.
Das Herausforderungsvieleck als entscheidende Hürde
Risikomanagement, Zulassungszeiten, finanzieller Druck, gewachsene Strukturen mit etablierten Methoden und deren Einhaltung und so weiter – die Herausforderungen in der Elektronikentwicklung medizintechnischer Produkte sind sehr unterschiedlich.[2] Hinzu kommen immer kürzere Produkteinführungszeiten (time-to-market) sowie schnellere Innovationszyklen in Relation zur sukzessiv ansteigenden Komplexität der Entwicklungen für die neuartigen, vernetzten Systemlösungen. Und natürlich muss die Qualität der Produkte weiterhin auf dem etablierten hohen internationalen Standard gehalten werden. In den Projekten selbst werden mehr und mehr Systeme entwickelt, die in sich aus Systemen bestehen und mit denselben vernetzt sind, was das Management der Entwicklungen komplexer macht. Demzufolge verändert sich das magische Dreieck des Projektmanagements zu einem Vieleck, in dem jedes Dreieck für ein Teilprojekt einer Systementwicklung steht (Bild 1).
Die genannten Herausforderungen in den (Teil-)Projekten in ihrer Vielfalt zu bewältigen, ist sowohl für große Konzerne als auch den Mittelstand sowie Startups die entscheidende Hürde hinsichtlich des Bestehens am Markt.[3] Bricht man die oben aufgezählten Punkte auf eine tiefere Ebene herunter, ergeben sich spezifische, zu lösende Aufgaben, die nachfolgend näher betrachtet werden:
- Das Überführen der bisherigen Elektronikentwicklung hin zu einem Entwickeln von vernetzten Produkten beziehungsweise Systemlösungen.
- Der systematische Einsatz einer modularen Elektronikentwicklung.
- Die Reaktionsfähigkeit auf die beschleunigten Veränderungen in der Entwicklung aufgrund der Globalisierung.
- Das Schaffen von Voraussetzungen für OTA-Updates und eine Softwareversionierung in den Produkten.
- Das Adressieren steigender Sicherheitsanforderungen.
Vom isolierten Gerät zur modularen und vernetzten Systemlösung
Vermehrt werden im Bereich der Medizintechnik vernetzte Produkte und Systemlösungen von den Kunden gewünscht oder sogar erwartet – die Entwicklung eines isolierten Geräts zur Messung spezifischer Vitalparameter wie beispielsweise des Blutdrucks oder -zuckers ist nicht mehr zeitgemäß. Die Elektronik der Geräte muss Schnittstellen besitzen, die eine Vernetzung mit anderen Geräten ermöglicht; die Vielfalt an Vernetzungstechnologien wie unter anderem Bluetooth Low Energy, Wi-Fi und IoT-Narrowband in Kombination mit proprietären Protokollen ist im Rahmen der Elektronikentwicklung zu berücksichtigen. Teilweise werden sogar On-Demand-Lösungen innerhalb der Systeme gefordert, deren Entwicklung sich von der klassischen Konzeption und Umsetzung eines eingebetteten Systems unterscheidet.[4] Die immer kürzeren Innovationszyklen in der Entwicklung in der Medizintechnik erfordern eine noch stärkere Wiederverwendung spezifischer Hard- und Softwarekomponenten in den Produkten – denn vollständige Neuentwicklungen sind oftmals zu zeitintensiv. So werden zum Beispiel Messinstrumente einschließlich der zugrundeliegenden Elektronik in mehreren Produktgenerationen wiederverwendet. Softwarekomponenten wie zum Beispiel das Benutzerinterface sollen jedoch innerhalb einer Generation im Gerät austauschbar oder erweiterbar sein. Eine ganz neue Herausforderung: die Entwicklung modularer Elektronikkomponenten, bei welchen vereinfacht Teile extrahiert und ersetzt werden können. Beispiel für solche Geräte sind Sensoren in der Intensivmedizin oder auch im Bereich der Medikamentengabe.
Standortübergreifende Entwicklung für dynamische, globale Märkte
Ein weiterer, herausfordernder Punkt neben den beschleunigten Innovationszyklen: das zeitnahe und bedarfsgerechte Reagieren auf sich ändernde Marktgegebenheiten bei international vertriebenen Medizintechnik-Produkten. Aus Sicht der Entwicklung sind spezifische Geräte für die verschiedenen Länder und Märkte auch wegen der unterschiedlichen Zulassungsbedingungen die beste Lösung – jedoch wäre dieses Vorgehen nicht wirtschaftlich. Demzufolge werden medizintechnische Produkte basierend auf einer breiten Funktionsbasis zu Teilen auf die einzelnen Anforderungen der Länder angepasst. Dies stellt die E/E-Entwicklung vor die Herausforderung, bereits im Vorfeld die Adressierung eines Marktes und dessen Besonderheiten bewerten zu können. Darüber hinaus bedeutet die zunehmende Globalisierung auch für die Entwicklerteams ein Umdenken: Elektronikentwicklung findet längst nicht mehr nur an einem Ort mit einem ausgewählten Team statt. Agile Entwicklungsmethoden erfordern flexible Tools, die mehrsprachig die verschiedenen Teams unterstützen und eine gemeinsame Datenbasis besitzen. Dabei dürfen auch die Entscheidungsgremien nicht übergangen werden. Das Erstellen von Dokumentationen beziehungsweise architekturbasierten Entscheidungsgrundlagen während des Entwicklungsprozesses muss für alle Beteiligten verständlich sein.
Evolution und funktionale Sicherheit der E/E-Architektur
Da der Software ein immer höherer Stellenwert in Medizintechnik-Produkten eingeräumt wird und diese vornehmlich modular aufgebaut sind, muss auch die Architektur der im Produkt existierenden und auszutauschenden Komponenten neu überdacht werden. Vermehrt wird gefordert, dass die Produkte softwareseitige Aktualisierungen Over-the-Air einspielen können und Softwarefehler innerhalb kürzester Zeit durch Updates behoben werden. Neben den hierfür zu implementierenden Schnittstellen in der Elektronik ist die Entwicklung entsprechender Softwarekomponenten zur Validierung und Verifizierung der neuen Softwareanteile im Gerät notwendig. Um immer den aktuellen Stand der im Produkt vorhandenen Software zu kennen ist darüber hinaus ein Versionsmanagement der Software zu führen – synchron zur Elektronikentwicklung. Die Implementierung von Schnittstellen oder austauschbaren Softwarekomponenten in der Elektronik darf aber auf keinen Fall die funktionale Sicherheit der Systeme beeinflussen. Daher sind Methoden in der Elektronikentwicklung anzuwenden, die Veränderungen in Normen hinsichtlich der Sicherheit der Geräte vereinfacht adressieren können. Verfahren wie Security-by-Design und die frühzeitige Integration von Sicherheitsfunktionen werden entsprechend vermehrt eingesetzt. Insgesamt wird deutlich, dass die Kombination aus neuen und weiterhin existierenden Herausforderungen im Bereich der E/E-Entwicklung für Medizintechnik-Produkte neue Verfahren und Methoden in der Entwicklung benötigen.
Ein modellbasierter Ansatz als Lösung
Die beschriebenen Herausforderungen verdeutlichen die steigende Komplexität bei der Entwicklung moderner Elektrik-/Elektronik-Systeme in der Medizintechnik. Beim Entwerfen und Optimieren der Architektur von verteilten und vernetzten Systemen ist es zum Beispiel wichtig, nicht nur ein einzelnes Teilsystem zu betrachten, sondern das System ganzheitlich zu konzipieren. Nur so ist es möglich, die Optimierungskriterien der einzelnen Teilsysteme zusammenzuführen und ein globales Optimum der gesamten Systemarchitektur zu finden. Dabei müssen zahlreiche Entwurfskriterien wie Varianten, OTA-Update-Fähigkeit oder Aspekte der funktionalen Sicherheit berücksichtigt werden. Ebenso muss die Machbarkeit neuer Konzepte frühzeitig bewertet werden, um Risiken in der späteren Serienentwicklung zu reduzieren. Zur Bewältigung dieser komplexen Aufgaben sind modellbasierte Entwicklungswerkzeuge wie Preevision (Eigenschreibweise: PREEvision) von Vector Informatik mit vielfältigen Engineering-Funktionen und der entsprechenden Prozessunterstützung nötig. Die modellbasierte Vorgehensweise in Preevision berücksichtigt alle relevanten Aspekte bei der Entwicklung komplexer E/E-Systeme – ein Ansatz, der sich in der Automobilindustrie in den letzten Jahren bereits erfolgreich durchgesetzt hat und sich auch auf die Medizintechnik übertragen lässt. Um die Komplexität zu beherrschen, folgt Preevision den drei bewährten Systems-Engineering-Prinzipien Abstraktion, Dekomposition und Wiederverwendung – und unterstützt folgerichtig die Modellierung von Produktlinien und Produktvarianten mit verschiedenen Modellebenen.
Systems Engineering mit Abstraktionsebenen
Im Preevision-Modell (Bild 2) sind in vertikaler Richtung die verschiedenen Abstraktionsebenen dargestellt. Die Hardware lässt sich von der physikalischen Geometrie mit Verkabelung über die Elektrologik mit Systemschalt- und Stromlaufplänen bis hin zur Netzwerkebene modellieren. Parallel dazu werden die System-Software-Architektur sowie die Kommunikationsdetails modelliert. Im Rahmen der Erstellung der Software-Architektur wird sowohl ein funktions- als auch ein service-orientierter Ansatz unterstützt. Durch die Modellierung der logischen Funktionsarchitektur entsteht so ein zusätzlicher Nutzen, da über die konkrete Implementierung in Hardware und Software abstrahiert wird. Dies stellt einen wesentlichen Mehrwert dar, weil diese Ebene für viele Systemfunktionen über längere Zeit stabil bleibt, während sich die Hardware-, Software- oder Kommunikationstechnologien von Produktgeneration zu Produktgeneration ändern. In den darüber befindlichen Ebenen sind die erfassten Anforderungen und identifizierten Kundenfunktionen an die zu erstellenden E/E-Systeme gekapselt. Diese vollständige Darstellung aller Abstraktionsebenen erlaubt es sämtliche Auswirkungen von Änderungen und Entwicklungen im Modell nachvollziehbar zu machen. Hierfür verbindet Preevision alle Ebenen über sogenannte „Mappings“, welche die Artefakte auf den verschiedenen Abstraktionsebenen miteinander in Beziehung setzen. Die horizontale Richtung des Modells unterstützt die Dekomposition: In jeder Ebene stehen Hierarchiekonzepte zur Verfügung, welche bottom-up oder top-down modelliert werden können. Die dritte Richtung ist orthogonal zu den beiden anderen angelegt und ermöglicht Wiederverwendungs- und Variantenkonzepte auf jeder Modellebene und Hierarchiestufe. Hierdurch lassen sich bereits in frühen Entwicklungsphasen länderspezifische Varianten der zu entwickelnden Medizintechnik Produkte berücksichtigen und wiederverwendbare Komponenten identifizieren (Bild 3). Mithilfe der Mappings lassen sich gültige Varianten durch Propagationsregeln auch automatisiert erstellen.
Teamarbeit unterstützt Preevision mit einer Kollaborationsplattform: Ein Team von Software- und Hardware-Entwicklern kann parallel in einer Produktlinie arbeiten; alle Architekturartefakte unterliegen einer Versionsverwaltung und werden für koordinierte Änderungs- und Freigabeprozesse mit Tickets verlinkt. Reifegradmodelle lassen sich in Preevision mithilfe von Lebenszyklen in Kombination mit Konsistenzprüfungen abbilden. So können in frühen Entwicklungsphasen größere Freiheitsgrade ermöglicht werden: je näher der Entwicklungsstand am Beginn der Serienproduktion (SOP, Start of Production) liegt, desto mehr Konsistenzprüfungen können aktiviert und automatisiert durchgeführt werden. Durch ein derartiges Vorgehen können Risiken im Projekt bereits frühzeitig identifiziert und mit entsprechenden Methoden reduziert werden. Safety-Aspekte werden durch Sicherheitsanalysen wie HARA (Hazard and Risk Analysis), FMEA (Failure Mode and Effects Analysis) und FTA (Fault Tree Analysis) unterstützt und auf dem bestehenden Produktlinienmodell durchgeführt. Ebenso unterstützt Preevision das Test-Engineering, die Steuerung von Tests und die Verwaltung der dabei anfallenden Testdaten über den gesamten Prozess der E/E-Entwicklung. Testfälle lassen sich direkt Anforderungen zuordnen.
(jj)