Der Einführung von eCall, dem automatischen Kfz-Notrufsystem, gingen jahrelange Diskussionen und Abstimmungen auf europäischer Ebene voraus. eCall alarmiert bei einem schweren Unfall automatisch die lokale Notrufzentrale (Public Safety Answering Point, PSAP) über Mobilfunk. Ob ein schwerer Unfall vorliegt, entscheidet die Fahrzeugelektronik. Die Airbag-Auslösung ist ein typischer Indikator. Alternativ lässt sich das System auch manuell über eine SOS-Taste aktivieren für den Fall, dass ein andersartiger Notfall gemeldet werden soll oder ein Unfall, in den ein anderer Verkehrsteilnehmer verwickelt wurde.
Die gegenwärtigen eCall-Installationen basieren auf ETSI- und CEN-Normen, deren Entwicklung vor etwa 15 Jahren begann. Das System nutzt ein Inband-Modem, um den eCall-Minimaldatensatz (MSD) in einem GSM-Sprachkanal an die Notrufnummer 112 akustisch – wie bei einem Faxgerät mit Pieptönen – zu übertragen. Diese technisch antiquierte Lösung wurde gewählt, weil nur über GSM die notwendige internationale Flächenabdeckung erreichbar schien. Was in der (lange zurückliegenden) Projektierungsphase vernünftig war, ist durch die Entwicklungsdynamik im Mobilfunkbereich mittlerweile infrage gestellt.
Nach einer Schätzung der deutschen Versicherungswirtschaft wird eine nahezu vollständige Marktdurchdringung mit eCall perspektivisch erst 2035 erreicht. Bis kann es durchaus sein, dass in einigen europäischen Ländern aber schon keine GSM-Netze mehr vorzufinden sind, denn LTE und 5G benötigen die entsprechenden Frequenzen dringend. Bereits heute haben in Europa schon mehr als 95 Prozent der Bevölkerung Zugang zu einem LTE-Netz. Die Frage ist daher, wie es mit eCall weitergeht. Schließlich ist es nicht möglich, die Netzbetreiber zu zwingen, nur für die Aufrechterhaltung dieses Dienstes eine GSM-Infrastruktur vorzuhalten. Die Lösung wird wohl hybrid ausfallen: eCall auf GSM-Basis und ein aktuelles Nachfolgesystem existieren in den Fahrzeug-Telematiksystemen nebeneinander, sodass die Funktionalität in jedem Fall gewährleistet ist, in welchem Umfeld das Fahrzeug auch unterwegs sein mag.
Von eCall zu NGeCall
Das Nachfolgesystem von eCall läuft unter dem Kürzel NGeCall – Next Generation eCall – und ist bereits spezifiziert. Natürlich wird NGeCall für die Datenübertragung im IP-basierten LTE-System keine modulierten Töne mehr nutzen. Dennoch kommt auch hier das Sprachübertragungssystem zum Einsatz, denn eCall überträgt ja nicht nur Daten, sondern stellt auch eine Sprechverbindung zum verunfallten Fahrzeug her. Als Service Enabler dient das IP-Multimedia Subsystem (IMS) von LTE. IMS ist eine Vermittlungstechnik für IP-basierte Multimedia-Anwendungen im Fest- und Mobilfunknetz. Eine seiner wesentlichen Aufgaben ist die Ermöglichung von Telefonie, bei LTE auch als Voice over LTE (VoLTE) bekannt.
Das IMS ist nicht neu. Es wurde bereits anfangs der 2000er Jahre entwickelt und stützt sich auf ältere Industriestandards, erarbeitet von ETSI (TISPAN) und 3GPP (IMS). Mit der Einführung von LTE hat sich das IMS-Framework etabliert und kommt unter anderem für Sprachvermittlung, Videotelefonie und den SMS-Service zum Einsatz. Auch für NGeCall ist das IMS die perfekte Grundlage und wurde entsprechend adaptiert. 3GPP hat dazu in seinem Release 14 einen Network Support Indicator spezifiziert, über den das Netzwerk anzeigt, ob NGeCall bereits unterstützt wird oder ob der „Legacy eCall“ zum Einsatz kommen muss. Hierdurch ist gewährleistet, dass eCall und NGeCall nebeneinander existieren können (Bild 1).
Wie funktioniert NGeCall?
Wenn sich ein Unfall ereignet, während das Fahrzeug in ein LTE-Netz eingebucht ist, wertet das Telematiksystem den Network Support Indicator für NGeCall aus. Wird NGeCall unterstützt, kann das Fahrzeug über das IMS unter Verwendung des Sitzungsinitiierungs- (SIP) sowie des Sitzungsbeschreibungsprotokolls (SDP) einen Notruf absetzen. Im anderen Fall muss ein Handover (Circuit Switch Fall Back) ins GSM-Netz erfolgen, um einen Legacy eCall über das GSM-In-Band-Modem abzusetzen. Bild 2 skizziert den Verbindungsaufbau.
Das Routing des Anrufs zum PSAP wird durch den übermittelten Ressourcennamen im SIP gesteuert. Folgende Kennung wurden festgelegt:
- urn: service: sos.ecall.manual: Manueller eCall
- urn: service: sos.ecall.automatic: Automatischer eCall
- urn: service: test.sos.ecall: Testruf
Um keine Zeit zu verlieren, wird der MSD bereits beim Rufaufbau an den PSAP übermittelt. Aktuell ist der Datensatz noch auf 140 Byte beschränkt. Im LTE-Netz wäre es aber ein Leichtes, die Datenmenge zu erhöhen. Bild 3 stellt eCall und NGeCall einander gegenüber.
Erweiterte Funktionen: öffentlich und herstellerspezifisch
Da NGeCall eine schnelle Datenverbindung etabliert, eröffnet das System prinzipiell die Möglichkeit, über den MSD hinaus weitere Daten zu übertragen, die in einer Notfallsituation hilfreich sein können. Dazu zählen etwa Gesundheitsdaten des Fahrers, die eine mit dem Fahrzeug über Bluetooth verbundene Smart Watch zuliefern könnte. Zu vernetzten Kameras an Bord ließe sich eine Videoverbindung aufbauen, um der Notrufzentrale ein Bild der Lage zu vermitteln. In umgekehrter Richtung wäre es denkbar, dass die Notrufzentrale Fernsteuerbefehle an das Fahrzeug absetzt, zum Beispiel die Türen entriegelt oder die Zündung ausschaltet.
Abgesehen von der Bedenklichkeit solcher Eingriffe unter datenrechtlichen und IT-sicherheitstechnischen Aspekten böte ein entsprechend ausgebautes NGeCall eine erheblich größere Funktionalität als das technisch altehrwürdige Legacy eCall. Nicht zuletzt deshalb wird es wohl auch zu einer verstärkten Aufspaltung der eCall-Dienste kommen: in das öffentliche System, das die Notrufnummer 112 adressiert, und herstellerspezifische Varianten, die eine private Notrufzentrale einschalten. Die Hersteller sind zwar verpflichtet, das Standard-eCall einzubauen, haben aber auch jetzt schon die Möglichkeit, darüber hinausgehende, unter Umständen kostenpflichtige Dienste zu implementieren. Macht ein Hersteller von dieser Option Gebrauch, muss er dem Fahrzeughalter allerdings zum einen die Wahl lassen, welches System er nutzen will und zum andern garantieren, dass bei Nichtverfügbarkeit des eigenen Systems automatisch das öffentliche eCall zum Einsatz kommt.
Warum schon heute mit NGeCall starten?
Auch wenn von der EU-Kommission bisher noch keine verpflichtende Regelung zu NGeCall getroffen wurde, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von dessen Einführung auszugehen. Sobald eine hinreichende Zahl von Netzbetreibern ihr LTE-IMS für NGeCall eingerichtet haben, kann die Automobilindustrie mit entsprechend vorbereiteten Telematiksystemen darauf zugreifen und gegebenenfalls ihre privaten Notrufdienste darüber abwickeln; sie muss und wird nicht auf den Gesetzgeber warten. Tabelle 1 zeigt einen Überblick über NGeCall-Standards und zugehörige Spezifikationen.
Selbst wenn die NGeCall-Funktionalität in einem Mobilfunknetz schon implementiert ist, kann sich der Test von Telematiksystemen im realen Netz zu einer zeitraubenden und schwierigen Angelegenheit entwickeln. Reproduzierbarkeit ist in Feldversuchen ohnehin nie gegeben. Zudem lassen sich Testergebnisse in Bezug auf das IMS nur schwer gewinnen, da es zur Netzwerkinfrastruktur gehört, auf die ein Nutzer keinen Zugriff hat. Ein maßgeschneidertes Messsystem liefert die nötigen Erkenntnisse hingegen bequem und verlässlich.
Messtechnische Lösungen
Rohde & Schwarz bietet schon seit Längerem eine umfassende Testlösung für GSM-basiertes eCall an (Bild 4). Der Zuschnitt des Systems ist so universell, dass es auch die russische Notrufversion ERA-Glonass beherrscht – und jetzt auch NGeCall. Die PC-Testsoftware-Suite wurde dafür um die Variante R&S CMW-KA096 erweitert, während der Wideband-Radio-Communication-Tester R&S CMW500 als Mobilfunk-Netzsimulator und der GNSS-Simulator R&S SMBV100A ohnehin schon über alle notwendigen Fähigkeiten verfügten.
Die Software R&S CMW-KA096 simuliert eine NGeCall-fähige Notrufzentrale und übernimmt die Fernsteuerung des CMW500, der ein LTE-Mobilfunknetz einschließlich der erforderlichen IMS-Infrastruktur nachbildet.
Eck-Daten
Das Automotive-Notrufsystem NGeCall nutzt das IMS-Framework, das sich mit der Einführung von LTE etabliert hat. Da es eine schnelle Datenverbindung etabliert, eröffnet das System die Möglichkeit, über den MSD hinaus weitere Daten zu übertragen, die in einer Notfallsituation hilfreich sein können. Neben den öffentlichen Funktionalitäten, die immer gegeben sein müssen, besteht so auch für Automobilhersteller die Möglichkeit, eigene, proprietäre Funktionalitäten und Services zu etablieren. Herausfordernd bei der Einführung von NGeCall ist der Test des Zusammenspiels mit dem Telematiksystems im Feldversuch. Rohde & Schwarz bietet hierfür umfassende Testlösungen, beispielsweise für die Mobilfunk-Netzsimulation und der Simulation einer NGeCall-fähigen Notrufzentrale.
Mit einem Testaufbau aus Steuerrechner und CMW500 lässt sich verifizieren, ob die NGeCall-Bordelektronik (IVS) einen NGeCall triggern, das richtige Netz wählen, die korrekten MSD-Daten übertragen und die Sprachverbindung über einen Voice-over-LTE-Ruf zur Notrufzentrale aufbauen kann. Die empfangenen Daten aus dem MSD liegen im RAW-Format und in einem decodierten Format vor. Wird zusätzlich ein Vektorsignalgenerator wie der R&S SMBV100A mit GNSS-Option in den Messaufbau aufgenommen, lässt sich außerdem die GNSS-Positionsgenauigkeit des entsprechenden MSD-Eintrags kontrollieren.
Der Messablauf lässt sich einfach auf Mehrzellen-Szenarien erweitern. Sie kommen bei Interoperabilitätstests zum Tragen, wenn simuliert wird, dass das Fahrzeug in eine Zone einfährt, in der NGeCall nicht mehr unterstützt wird. In diesem Fall ist zu testen, ob das Telematiksystem den Notruf korrekt über das Rückfallsystem Legacy eCall abwickelt.
(na)