
„Offenheit gegenüber Drittanbietern ist essenziell, weil die Produktkomplexität steigt und nur mit einer durchgängigen Datenbasis zu beherrschen ist..“ Marco Lanfrit (links), Business Development Executive Automotive bei Ansys (Bild: Ansys)
Herr Kohl, was macht Ansys bei der Virtualisierung anders?
Christoph Kohl: Wir unterscheiden uns vor allem durch unseren physikalisch basierten Ansatz – und weil wir auf Offenheit gegenüber den Tools anderer Anbieter setzen. Unsere Software ist tief physikalisch verankert: Wir setzen auf hoch entwickelte Solver und bilden reale physikalische Effekte ab. Das macht die Ergebnisse präziser, besser reproduzierbar und belastbarer als bei Methoden, die auf vereinfachten Ansätzen wie Game Engines basieren. Dieser Unterschied wird vor allem dann entscheidend, wenn es um sicherheitskritische Komponenten und Funktionen geht.
Marco Lanfrit: Unsere Offenheit ist ein klarer Vorteil; unsere Plattform ist so gestaltet, dass Kunden unsere Simulationslösungen in ihre Systemlandschaft einbetten und mit Werkzeugen vieler Anbieter kombinieren können. Das ist auch deshalb essenziell, weil die Produktkomplexität stetig steigt und dies nur mit einer durchgängigen Datenbasis zu beherrschen ist.

Save the date: 30. Automobil-Elektronik Kongress

Am 16. und 17. Juni 2026 findet zum 30. Mal der Internationale Automobil-Elektronik Kongress (AEK) statt. Dieser Netzwerkkongress ist bereits seit vielen Jahren der Treffpunkt für die Top-Entscheider der Elektro-/Elektronik-Branche und bringt nun zusätzlich die Automotive-Verantwortlichen und die relevanten High-Level-Manager der Tech-Industrie zusammen, um gemeinsam das ganzheitliche Kundenerlebnis zu ermöglichen, das für die Fahrzeuge der Zukunft benötigt wird. Trotz dieser stark zunehmenden Internationalisierung wird der Automobil-Elektronik Kongress von den Teilnehmern immer noch als eine Art "automobiles Familientreffen" bezeichnet.
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Die Automobilentwicklung durchläuft gravierende Veränderungen; wie sehen Sie die Rolle der Virtualisierung dabei, Herr Lanfrit?
Marco Lanfrit: Wir beobachten genau genommen drei Transformationen, die parallel verlaufen: erstens vom Verbrenner zu Elektro, zweitens die Automatisierung der Fahrfunktionen und drittens der Schritt vom hardware- zum softwaredefinierten Fahrzeug. Diese Transformationen befinden sich im übrigen in unterschiedlichen Stadien bezüglich des Reifegrads. Virtualisierung ist der Schlüssel, um, diesen Wandel zu vollziehen und Fehler früh sichtbar zu machen. Im Wettbewerb mit chinesischen Anbietern geht es um Zeit- und Kosteneffizienz, aber die Qualität darf nicht auf der Strecke bleiben. China Speed ist zum Schlagwort in der Automobilindustrie geworden.
Christoph Kohl: Virtualisierung hat bei unseren Kunden bereits eine sehr hohe Priorität, und die nimmt weiter zu – mit weiterhin großem Potenzial. Sie hilft, Prozesse entlang der Produktentwicklung zu entkoppeln, Hardware- und Softwarepfade zu parallelisieren und beizeiten Risiken zu erkennen. Ohne eine virtuelle Umgebung lassen sich die heutigen Validierungs- und Testanforderungen nicht mehr abbilden – jedenfalls nicht mit vertretbarem Aufwand an Zeit und Kosten.
Marco Lanfrit: Und dabei geht es nicht nur um die Simulation einzelner Komponenten. Der eigentliche Wert liegt in der Möglichkeit, ganze Systeme und Subsysteme virtuell zu betrachten und zu optimieren. Erst wenn alle relevanten Einflussfaktoren in einer konsistenten, durchgängigen Basis zusammengeführt werden, entsteht ein Digital Thread – die Grundlage für eine hocheffiziente Entwicklungsumgebung im Sinne des Digital Engineering.,

Sie erwähnten SDV, welche Art von Unterstützung bietet Ansys hier?
Marco Lanfrit: Software-Defined Vehicles verlangen eine radikale Neuausrichtung der Entwicklungsprozesse. Das virtuelle Steuergerät ist ein zentraler Baustein dafür: eine Umgebung, in der die Steuergerätesoftware auf einem virtuellen ECU-Abbild entwickelt und validiert wird – noch bevor es physisch existiert. So ist es möglich, Software- und Hardwareentwicklung zu entkoppeln und den Shift Left wirkungsvoller umzusetzen.
Christoph Kohl: Wichtig ist, dass wir dabei über reine Softwaretests hinausgehen. Eine umfassende Virtual-ECU-Betrachtung integriert auch thermische, elektromagnetische und mechanische Modelle. Shift Left heißt dann auch, Entwickler können sehr früh untersuchen, wie sich beispielsweise thermische Belastung auf die Elektronik auswirkt oder welche Wechselwirkungen zwischen Leiterplatte, Gehäuse und EMV-Anforderungen entstehen.
Prozesse entkoppeln, Risiken erkennen und multiphysikalische Modelle – gibt es weitere Aspekte?
Christoph Kohl: Kernpunkt ist das möglichst frühe Erkennen von Fehlern, Potenzialen und notwendigen Designänderungen im Produktentwicklungsprozess. Statt Probleme erst in Hardware-in-the-Loop- oder Fahrzeugtests zu entdecken, können sie schon auf der virtuellen Ebene identifiziert und behoben werden. Das spart nicht nur Kosten für teure Prototypen, sondern verkürzt auch die Entwicklungszeit.
Marco Lanfrit: Designänderungen lassen sich somit deutlich effizienter handhaben. Wenn eine Software- oder Hardwareanpassung nötig wird, lassen sich deren Auswirkungen im virtuellen Abbild sofort nachvollziehen. Man vermeidet Dominoeffekte in der Entwicklung – also dass Änderungen an einer Stelle unkontrollierte Folgen an einer anderen haben.

Alles zur Automotive Computing Conference
Die Automotive Computing Conference konzentriert sich auf die Herausforderungen der Sicherheit, der funktionalen Sicherheit, der Cloud-Konnektivität und der zunehmenden Komplexität des Fahrzeugdesigns. Das Ziel ist es, traditionelle Ansätze zu revolutionieren und an die Bedürfnisse der Automobilindustrie anzupassen. Hochkarätige Referenten werden am 13. und 14. November 2025 in München in die Welt des Automotive High Performance Computing eintauchen und ein breites Spektrum an Aspekten abdecken.
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Zudem gab es 2025 auch die 2. ACC in Amerika, die dritte folgt am 25. und 26. März 2024 in Detroit.
Wie sehen Sie die Rolle Digitaler Zwillinge dabei?
Marco Lanfrit: Sie sind in der Lage, auf Basis einer Produktvirtualisierung einen Bezug zwischen dem Soll- und dem Istzustand eines Systems im Betrieb herzustellen. Die hochpräzise, realistische Abbildung des realen Produktverhaltens in einem virtuellen Modell ist die Grundlage dafür. Nehmen wir das Beispiel ADAS: Hier bildet der Digitale Zwilling nicht nur die physische Struktur, sondern auch die Funktionalität und das Verhalten der Komponenten ab. Und er kennt nicht nur den Soll-, sondern auch den realen Ist-Zustand – inklusive Alterung, Sensorabweichungen oder Umweltfaktoren.
Christoph Kohl: Darüber hinaus verschiebt der Digitale Zwilling den Testprozess weg vom Prototypen-Denken hin zu einem kontinuierlichen Absicherungsmodell. Felddaten aus realen Fahrzeugflotten fließen zurück in das virtuelle Modell, sodass ich gezielt in Regionen, Situationen oder Nutzungsmuster hinein simulieren kann, die sich im realen Betrieb als kritisch erwiesen haben. Das macht den Digitalen Zwilling zur Brücke zwischen Engineering und Betrieb – und zu einem unverzichtbaren Werkzeug für das SDV.
Um etwas konkreter zu werden: Wie trägt Ansys zur Sensorentwicklung für autonome Fahrfunktionen bei?
Christoph Kohl: Das Validieren von Sensorik ist ein Paradebeispiel für die Stärke physikalisch basierter Virtualisierung. Radar, Lidar, Kamera – jeder Sensortyp reagiert empfindlich auf Materialien, Geometrien und Umgebungsbedingungen. Gerade weil Sensoren häufig in Stoßfänger oder Karosserie integriert werden, ist es wichtig, Wechselwirkungen mit der Fahrzeugumgebung virtuell abbilden zu können. Wir decken hierbei alle relevanten physikalischen Effekte wie Reflexion oder Streuung präzise, je nach Karosserieform, Oberflächenbeschichtung oder Wettereinflüssen, ab. Diese Tiefe ist unerlässlich, um reale Szenarien abbilden und Millionen Kilometer an Testfahrten substituieren zu können.
Marco Lanfrit: Und das aus einer globalen Perspektive: Ein autonomes Fahrsystem aus Hardware- und Softwarekomponenten, das in Europa zuverlässig arbeitet, kann in Kalifornien oder in China andere Herausforderungen sehen – sei es wegen Sonneneinstrahlung, Luftverschmutzung oder regulatorischer Unterschiede. Virtualisierung erlaubt es, diese Vielfalt zu antizipieren, ohne für jedes Szenario physische Tests durchführen zu müssen.
Christoph Kohl: Sie unterstützt auch die virtuelle Freigabe von Softwareänderungen, vor den Over-the-Air-Updates. Ich kann ein neues ADAS-Feature im Digitalen Zwilling realitätsnah testen, bevor ich es auf Hunderttausende Fahrzeuge ausrolle. Gerade im sicherheitskritischen Kontext, wie Notbremsassistenten oder Spurhaltefunktionen, ist das ein zentraler Baustein für Betriebssicherheit.

Welche Neuerungen sind in Bezug auf die klassische Fahrzeugentwicklung erwähnenswert?
Christoph Kohl: Unsere Solver sind die Grundlage für aussagekräftige Systembetrachtungen, die wir zuvor besprochen haben. Die Entwicklung geht hier kontiniuerlich weiter. Zu nennen sind etwa neue Materialmodelle; auch Human-Body-Modelle, die den menschlichen Körper bis hin zu Organen und Gewebe immer realistischer abbilden können, als die nächste Stufe in der Crashsimulation. Damit lassen sich Verletzungsrisiken differenzierter prognostizieren – ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierter Sicherheit. In der Aerodynamik haben GPU-gestützte Solver die Rechenzeiten drastisch verkürzt: Simulationen, die früher Tage dauerten, schaffen wir heute in wenigen Stunden. Das Thermomanagement profitiert von multiphysikalischen Kopplungen, die Strömung, Wärmeleitung und Materialverhalten in einem durchgängigen Modell verknüpfen. Ein zusätzlicher Gamechanger ist KI, die basierend auf entsprechenden Modellen die Vorhersage von Ergebnissen noch einmal um Größenordnungen beschleunigt. Speziell in frühen Phasen der Produktentwicklung ist dies eine sehr große Verbesserung hinsichtlich der Geamteffizeinz.
Und wie steht es um die Simulation von Batterien?
Marco Lanfrit: Batteriesimulationen umfassen heute nicht nur elektrochemische Modelle, sondern auch Alterung, thermisches Durchgehen, mechanische Belastung und Integration in den Fahrzeugcrash. Diese Multidimensionalität ist entscheidend, weil eine Batterie heute sowohl als Energiespeicher als auch als sicherheitsrelevante Komponente betrachtet werden muss. Wir können umfassend virtuell validieren, wie sie sich bei mechanischer Belastung, Hitze oder elektrischen Einflüssen verhält.
The Automotive Battery Congress

Die Elektromobilität wird in den nächsten Jahren einer der Haupttreiber in der Automobilindustrie sein. Dabei spielt die Batterie eine der wichtigsten Rollen bei der weltweiten Verbreitung von Elektrofahrzeugen, wobei die entscheidenden Faktoren die Reichweite der Batterie, die Lademöglichkeiten und die Finanzierung der Produktionskosten sind. Alle diese Themen vereint die nächste Ausgabe der „The Automotive Battery“ vom 9. Juli bis 10. Juli 2025 in München. Mit dem Code "82510111-AE15" sparen Sie 15% auf den regulären Preis.
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Gibt es ein konkretes aktuelles Beispiel, das den Mehrwert der Virtualisierung verdeutlicht?
Marco Lanfrit: Ein prägnantes Beispiel ist unsere Zusammenarbeit mit einem OEM bei der Entwicklung von Head-up-Displays. Die Herausforderung besteht in der Vielfalt möglicher Kombinationen aus optischem System, Form und Neigung der Windschutzscheibe sowie der Position des Fahrers. Die Möglichkeiten herkömmlicher Tests anhand physischer Prototypen sind hier stark eingeschränkt, da Prototypen der optischen Systeme sehr komplex sind und die Anzahl variierbarer Parameter hoch ist.
Und stattdessen?
Marco Lanfrit: Stattdessen haben wir gemeinsam mit dem OEM einen virtuellen Optimierungsprozess aufgesetzt, der Simulation, parametrische Optimierung und Design of Experiments kombiniert. Damit konnten wir ein Vielfaches an Varianten anhand virtueller Designs analysieren – ohne auch nur ein physisches Modell zu bauen. Dieser massive Zuwachs an Variantenbreite brachte nicht nur eine erhebliche Ersparnis an Zeit und Kosten, sondern auch bessere Qualität: Designs, die bei verschiedenen Lichtverhältnissen, Fahrergrößen und Sitzpositionen besser ablesbar waren.
Sie haben die Bedeutung von Kollaboration und Datendurchgängigkeit für effiziente Entwicklungsprozesse betont. Wie ist das in den Kontext des Model-Based Systems Engineering einzuordnen?
Christoph Kohl: MBSE ist der methodische Rahmen, der es überhaupt ermöglicht, die heutige Komplexität des Gesamtsystems Fahrzeug zu beherrschen. Statt Silos zwischen Hardware-, Software- und Funktionsebenen zu akzeptieren, lassen sich damit alle relevanten Domänen über konsistente Modelle verknüpfen.
Marco Lanfrit: Ansys unterstützt diesen Brückenschlag, indem wir die verschiedenen physikalischen Disziplinen – thermisch, mechanisch, elektromagnetisch – mit funktionalen und logischen Modellen zusammenführen. Virtualisierung ist der Schlüssel zu effizienten Entwicklungsprozessen; MBSE bildet das Rückgrat, das es erlaubt, die Komplexität des virtuellen Modells – entlang des Entwicklungs-V – behrrschbar zu machen.
Christoph Kohl: So entsteht ein durchgängiger digitaler Entwicklungspfad, der von der Chiparchitektur über die E/E-Integration bis zur Gesamtfahrzeugvalidierung reicht. Das Besondere ist, dass dieser Ansatz nicht nur Design und Funktion abbildet, sondern auch Absicherung und Compliance von Anfang an integriert. Der Ansatz wird als Silicon-to-Systems bezeichnet und beschreibt die Möglichkeit, ein Fahrzeug virtuell zu entwickeln und zu validieren – mit einer konsistenten Datenbasis und nahtlosen Übergängen zwischen den Ebenen.
Apropos Compliance – wie unterstützen Sie bei Sicherheits- und Qualitätsstandards? Es gibt ja eine Kooperationen mit TÜV Süd …
Christoph Kohl: Die Anforderungen an funktionale Sicherheit und Compliance sind enorm gestiegen – nicht zuletzt durch Regularien wie das Euro NCAP-2026-Protokoll. Zulieferer müssen diese Standards technisch erfüllen, aber auch formell nachweisen. Wir unterstützen durch präzise, validierte Lösungen, um sicherheitskritische Funktionen virtuell zu testen und abzusichern. Dazu gehören virtuelle Crashtests mit Human-Body-Modellen, thermische Belastungstests von Leistungselektronik oder EMV-Analysen. Sie sind physikalisch so fundiert, dass sie von Prüfinstitutionen als Bestandteil der Nachweisdokumentation immer mehr akzeptiert werden können.
Marco Lanfrit: Genau dort setzt auch unsere Zusammenarbeit mit dem TÜV Süd an. Wir entwickeln Methoden zur virtuellen Homologation – also Verfahren, mit denen virtuelle Tests regulatorisch anerkannt werden. Das Ziel ist, die Zahl der physischen Prototypen drastisch zu reduzieren, ohne die Qualität der Sicherheitsnachweise zu beeinträchtigen.
Christoph Kohl: Diese Zusammenarbeit geht weit über das bloße Testen hinaus: Wir arbeiten mit TÜV Süd auch an der Definition künftiger Prüfprotokolle, um sicherzustellen, dass virtuelle Methoden frühzeitig in die regulatorischen Rahmenbedingungen integriert werden.
Wie integriert Ansys Künstliche Intelligenz – und mit welchem Ziel?
Marco Lanfrit: KI ist ein Multiplikator. Mit unserer Plattform SimAI verwandeln wir bestehende Simulationsdaten eines Kunden in ein spezifisches Machine-Learning-Modell. Dieses Modell liefert binnen Sekunden Vorhersagen für neue Designs – eine Aufgabe, die sonst Stunden oder Tage an Simulationszeit erfordert hätte. KI filtert die Varianten vor, die sich für tiefergehende Simulationen lohnen. So verschiebt sich der Entwicklungsfokus weiter nach vorne. Wenn man so will ein Shift-Left vom Shift-Left.
Christoph Kohl: Die Physik bleibt dabei das Fundament. KI ersetzt keine physikalischen Solver – sie ergänzt sie, indem sie Muster erkennt, die Menschen oder klassische Software nicht sehen. Damit wird KI zu einem Werkzeug, das spezifische Fähigkeiten skaliert, statt sie zu substituieren.
Das Interview führte Dr. Matthias Laasch, selbstständiger Fachjournalist, Chefredakteur und Autor.