Ein Touchscreen allein macht ein HMI noch nicht intuitiv. Wie Entwickler und Designer ein benutzerfreundliches HMI kreieren sollten, erklärt die VDI-Richtlinie 3850.

Ein Touchscreen allein macht ein HMI noch nicht intuitiv. Wie Entwickler und Designer ein benutzerfreundliches HMI kreieren sollten, erklärt die VDI-Richtlinie 3850.UID

Immer schneller, günstiger und präziser fertigen, und das selbst bei kleinen Stückzahlen – diese Anforderungen führen zwangsläufig zu immer leistungsfähigeren, meist aber auch immer komplexeren Maschinen. Und seit die meisten Schalter und Anzeigen einer Maschine an zentralen Stellen zusammengezogen werden, rückt die Nutzerschnittstelle (­Human Machine Interface – HMI) immer mehr in den Fokus. Das HMI soll helfen, der wachsenden Komplexität zu begegnen und sie für den Nutzer beherrschbar zu machen. Voraussetzung ist, dass sie auf den Nutzer abgestimmt wurde.

Eine gebrauchstaugliche Nutzerschnittstelle zu entwickeln ist aufwendig, aber nötig – nicht nur um das eigene Produkt vom Wettbewerb abzuheben. Mit einer möglichst optimalen Schnittstelle arbeiten Nutzer effizienter, machen weniger Fehler und Rückfragen an den Hersteller gehen zurück. Damit HMI-Projekte gelingen, müssen die Bediener konsequent und von Anfang an im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Diesen nutzerzentrierten Entwicklungsprozess definiert die DIN EN ISO 9241-210 allgemein; die Richtlinie VDI/VDE 3850 spezifiziert ihn für den industriellen Nutzungskontext.

Falsche Annahmen, falsches Design

Der Design-Prozess sieht drei Phasen vor: Analyse, Gestaltung und Evaluation. Ziel der Analyse ist, den Bedarf der verschiedenen Nutzer zu erkennen. Welche Nutzer-Typen gibt es? In welcher Situa­tion arbeitet ein Nutzer mit dem Produkt? Welche Aufgaben gilt es für ihn zu bewältigen? Welche weiteren Hilfsmittel verwendet er? Was findet er gut oder schlecht? Und auch: Welche Eigenschaften sind typisch für die Nutzer? Welche sind eher selten, aber dennoch wichtig?

Aus diesen Informationen leitet das Entwicklerteam Anforderungen ab, die in der Gestaltungsphase in konkrete Konzepte umzusetzen sind. Um besser über Vorschläge diskutieren zu können, sollte das Team die Ideen professionell visualisieren. Das heißt, sie geben per Zeichnung genau vor, was auf einem konkreten ­Dialog zu sehen sein soll. Das Medium – Papier, Computer oder dreidimensionaler Prototyp – ist weniger entscheidend. Viel wichtiger ist, welche Informationen und Funktionen wann, wo und in welchem Umfang dargestellt werden sollen.

In der Evaluation zeigt sich, welche ­Details der HMI-Designs gut funktionieren und wo Ideen auf falschen Annahmen basierten. Oft führt die Evaluation dazu, dass das Entwicklerteam einige Anforderungen neu betrachten muss und darauf aufbauend andere Ansätze entwickelt, die sowohl den bereits bekannten als auch den bei der Evaluierung entdeckten Anfor­derungen gerecht werden.

Diese drei Phasen sollten mehrfach durchlaufen werden – dem Lehrbuch nach so oft, bis eine weitere Evaluation keine Schwierigkeiten mehr aufdeckt. Erst dann sollte das Team mit der eigentlichen Implementierung der Nutzerschnittstelle beginnen. Diese Vorgehensweise scheint sehr aufwendig, reduziert aber nachweislich die Entwicklungszeit, spart somit Kosten und erhöht die Produktqualität.

Nutzerschnittstelle – die Bestandteile

Viele denken bei Nutzerschnittstellen vor allem an Touchscreens – schließlich sind Touchscreens seit Jahren das zentrale Eingabegerät bei vielen Maschinen und Anla­gen sowie kommerziellen Produkten. Aus unterschiedlichen Gründen kommt dieses Eingabesystem bei vielen Produkten jedoch nicht in Frage, oder zumindest nur in Verbindung mit zusätzlichen Ein- und Ausgabegeräten.

Das Entwicklerteam muss sich bewusst werden, welche Ein- und Ausgabegeräte überhaupt in Betracht kommen. Dazu sollte es die Ergebnisse aus der Analysephase (geplante Aufgaben und Eigenschaften der Nutzer) einbeziehen und auch Faktoren wie Preis, langfristige ­Verfügbarkeit, Kundenerwartungen und Produktdesign abwägen.

Welche Eingabegeräte eignen sich für welche Interaktionsformen (Bewegen, Auslösen oder Manipulieren)? Wie wirken sich Faktoren wie Platzbedarf und Handschuhbenutzung auf die Entscheidung aus? Welche Möglichkeiten und Einschränkungen gibt es beim Einbau und der Interaktionsgestaltung?

Eingabetechnologien an der Maschine

Im Blatt 2 gibt die VDI-Richtlinie einen Überblick über aktuelle Eingabegeräte, die sich für eine Steuerung von Software-Systemen in technischen Anlagen eignen. Nicht alle Geräte aus dem Bürobereich lassen sich uneingeschränkt in der Fertigung einsetzen. Probleme bestehen etwa hinsichtlich Verschmutzung, Robustheit, Anordnung und Platzbedarf. Neue Ein­gabetechnologien wie Eye-Tracking oder 3D-Gestenerkennung im Raum sind noch Gegenstand der Forschung und eignen sich nur in speziellen Fällen für industrielle Anwendungen.

Blatt 3 der VDI-Richtlinie erläutert beispielsweise die unterschiedlichen Funktionsweisen von Touchscreen-Technologien und stellt deren Vor- und Nachteile gegenüber.

Blatt 3 der VDI-Richtlinie erläutert beispielsweise die unterschiedlichen Funktionsweisen von Touchscreen-Technologien und stellt deren Vor- und Nachteile gegenüber.UID

Auch bei der Positionierung der Ein- und Ausgabegeräte sind ergonomische ­Aspekte zu berücksichtigen: Um körperliche Beeinträchtigungen der Nutzer zu vermeiden, sollten manche Körperhaltungen ausgeschlossen werden. Dazu stellen Normen und ergonomische Tabellen­werke empfohlene Gelenkwinkel zur Verfügung. Ein digitales Menschenmodell gewährleistet einen ergonomischen Arbeitsplatz für heterogene Nutzer. Mit seiner Hilfe überprüft das Entwicklerteam virtuell die Erreichbarkeit, Sichtbarkeit und komfortable Gelenkwinkel vor dem Bau des Arbeitsplatzes. Dazu wird ein Körpermodell einer statistisch ermittelten Zielperson mit den CAD-Daten des Arbeitsplatzes kombiniert. So lassen sich auch die Anforderungen von kleinen und großen Personen einfach darstellen und gegebenenfalls Anpassungen und Verstellmöglichkeiten vorsehen.

Funktionsweise Infrarot-Touch

Funktionsweise Infrarot-TouchUID

Meist erwartet der Entwickler von einem Touchscreen, dass damit alle sonstigen Eingabegeräte überflüssig werden. In einigen Fällen macht es aber durchaus Sinn, beides anzubieten – etwa die Kombina­tion Touchscreen mit Dreh-Drück-Regler oder einer Tastatur. Blatt 3 widmet sich den speziellen Anforderungen von Touchscreens an Interaktion und Design.

Ein Touch allein macht noch keine intuitive Bedienung

Touch ist nicht synonym für intuitiv – auch wenn das oft suggeriert wird. Ein Touchdisplay ist ein Eingabemittel, aber längst kein Usability-Merkmal. Nur wenn die Schnittstelle auf die Bedürfnisse der Nutzer (Blatt 1) zugeschnitten wurde sowie das Bedienkonzept und die Hardware harmonieren (Blätter 2 und 3), wird eine Touchscreen-Steuerung für den Nutzer intuitiv bedienbar, kann ihre Vorteile ausspielen und die durchaus vorhandenen Nachteile vergessen machen.

Freud und Leid liegen nah beieinander

Vor- und Nachteile von Touchscreens hängen zusammen mit der verwendeten Technologie (resistiv, kapazitiv, DST, kame­rabasiert, akustisch): Die Bedienung mit Handschuhen ist nur bei einigen Technologien möglich und teils auf bestim­mte Materialen beschränkt.

Funktionsweise resistiver Touch

Funktionsweise resistiver TouchUID

Ähnlich sieht es bei Multitouch und Gestentauglichkeit aus: Auch diese Merkmale hängen von der Technologie ab. Resistive Touchscreens beherrschen kein Multitouch, die Erkennung von Wischgesten ist bauartbedingt störungsanfällig.

Bei Multitouch muss man entscheiden, wie viele Touch-Ereignisse gleichzeitig erkannt werden sollen: zwei, vier, zehn oder mehr? Gerade kapazitive Technologien sind ideal für Multitouch-Anwendungen. In puncto Handschuhbedienung sind sie jedoch einem Resistiv-Touch unterlegen. Und für haptische Rückmeldungen gibt es noch gar keine industriell bewährte Lösung. Die eine, perfekte und alles beherrschende Technologie fehlt also noch.

Unabhängig von den Stärken und Schwächen: Wichtig ist, was eigentlich gebraucht würde. Während in einem Projekt Multitouch und Verfahrgesten wichtig sind, kommt es in einem anderen auf Handschuhbedienbarkeit, Kratzfestigkeit und Betrieb bei bestimmten Betriebstemperaturen an. Um möglichst einfach das richtige Touchscreen-System auswählen zu können, stellt die überarbeitete VDI-Richtlinie eine Checkliste bereit. Mit ihr lassen sich die erkannten Sicherheits- und Nutzeranforderungen den jeweiligen Panel-Lieferanten einheitlich vermitteln. Ziel ist, Angebote zu erhalten, die tatsächlich vergleichbar sind.

Groß oder klein: Knöpfe und Regler

Um die Mindestgröße von Bedienelementen auf einem Touchscreen belegbar definieren zu können, wurden im Rahmen der Neufassung von Blatt 3 mehrere international etablierte Quellen bewertet. Eine wesentliche Stärke der Neufassung ist, dass die neuen Mindestmaße für Schaltflächen den aktuell verfügbaren Technologien gerecht werden. Denn die Mindestgröße der Bedienelemente bestimmt maßgeblich, wie viele interaktive Elemente neben- oder übereinander auf einem Display dargestellt werden können. Tragen Nutzer oft Handschuhe oder stehen in schrägem Winkel zum Display (Parallaxe) lassen sich die draus resultierenden Bedienprobleme derzeit am besten über größere Elemente abfangen. Flankierend sollten weitere Maßnahmen ergriffen werden, um die Bedeutung von Bedienelementen hervorzuheben:

  • Das Design sollte dem Bedien­element einen Aufforderungs-Charakter verleihen.
  • Die gewählten Rückmeldungs-Techniken sollten zeigen, wenn ein Element betätigt/ausgelöst wurde.
  • Die Art eines Elements sollte über eine konsistente Platzierung auf den Bedienseiten und identischen Aufbau gekennzeichnet werden.

Standard-Gesten

Welche Gesten sind bekannt oder intuitiv verständlich? Ob ‚Kopieren‘, ‚Suchen‘ oder ‚Objekt öffnen‘ – die Richtlinie schlägt ein umfangreiches Set an Touch-Gesten vor. Die Vorschläge basieren unter anderem auf der Gebärdensprache. ­Außerdem werden mehrere Beispiele konkreter Touchscreen-gerechter Dialoge abgebildet und erläutert.

Thom Scheiner

ist Senior Usability Engineer bei User Interface Design GmbH in München.

Prof. Dr. Gerrit Meixner

ist Professor für Mensch-Computer-Interaktion und Direktor des Unitylab der Hochschule Heilbronn.

Jurek Breuninger

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ergonomie der Technischen Universität München.

(sk)

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