Über einen Punkt sind sich alle einig: Das Fahrzeug wird Teil des Internets und damit „always connected“; es wird Teil des Internet of Everything (IoE), zum dem 2015 bereits etwa 25 Milliarden und 2020 gar ungefähr 50 Milliarden vernetzte Objekte gehören werden. Bei diesen Zahlen beruft sich Helmut Matschi, Vorstandsmitglied von Continental und Leiter der Division Interior, in seiner Keynote auf dem 18. Fachkongress der Zeitschrift AUTOMOBIL-ELEKTRONIK in Ludwigsburg auf die Studie Cisco IBSG. Er betrachtet darin, wie die Einflüsse aussehen, „die diese ständig vernetzte Welt auf unser Geschäft, auf unsere Prozesse, unsere Produkte und auch auf unsere Mitarbeiter hat“. Helmut Matschi, von dem sämtliche nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate dieses Beitrags stammen, sieht eine rasend schnelle Integration der Fahrzeuge ins IoE: „Schon 2016 wird nur noch jedes zweite Neu-Fahrzeug nicht vernetzt sein“, wobei die elektronischen Grundlagen hierfür bereits in trockenen Tüchern seien. Continental rechne gar damit, dass der aktive Internetzugriff der Autofahrer bis zum Jahr 2020 bei 75 Prozent der Fahrzeuge regelmäßig nur indirekt stattfindet, ergo über die Smartphone-Integration, sodass ausgewachsene Infotainment-Lösungen die Ausnahme sein werden.

Helmut Matschi: „Es ist an der Zeit, dass auch für einen Tier-1 Geschäftsmodelle der Software-Industrie gelten.“

Helmut Matschi: „Es ist an der Zeit, dass auch für einen Tier-1 Geschäftsmodelle der Software-Industrie gelten.“Sascha Steinbach

Wie ist High-End-Infotainment noch realisierbar?

„High-End-Infotainment ist – und das sage ich ganz deutlich – mit der heutigen Verteilung der Chancen und Risiken nicht mehr rentabel zu realisieren“, weil der Entwicklungsaufwand für den Zulieferer im High-End-Bereich einfach nicht mehr kalkulierbar sei. Bereits heute seien für Entry- bis Mid-Systeme 200 bis 400 Mitarbeiter erforderlich. „Wenn diese erbrachte Entwicklungszeit gerade für die Entwicklung der Software jedoch als kostenlose Dreingabe zur Hardware gesehen wird, dann stimmt etwas mit dem Zusammenarbeitsmodell nicht. … Solange also die Software in der Stückliste versteckt wird, als Verhandlungsmasse oder Dreingabe gesehen wird, solange wird auch das Angebot derer, die das Risiko der High-End-Entwicklung übernehmen, stetig kleiner. … Es ist an der Zeit, dass auch für einen Tier-1 Geschäftsmodelle der Software-Industrie gelten.“ Das biete die Chance für ein nachhaltiges Geschäft und für Systeme, die je nach Endkundenwunsch eine Anpassung des integrierten Funktionsumfangs ermöglichen.

Grenzen überschreiten

„Bei unseren traditionellen Produkten und Funktionen haben wir einen hohen, wenn nicht sogar den höchstmöglichen Reifegrad erreicht. Diesen Reifegrad erwarten unsere Kunden, die Autofahrer, auch in zukünftigen vernetzten Fahrzeugsystemen.“ Aus diesem Grund sei „dies eines der wichtigsten Entwicklungsgebiete für unsere Industrie“ – und zwar mit einer jeweils sicheren Vernetzung zwischen Fahrzeug, Backend und Diensten. Um „Always Connected“ umzusetzen, seien neue verlässliche Partnerschaften notwendig, und dabei sei es notwendig, Domänengrenzen zu überschreiten, Unternehmensgrenzen vermehrt zu durchbrechen und quasi auch ständig Industriegrenzen aufzuweichen. Allein Continental habe bis jetzt rund 27 Millionen Fahrzeuge vernetzt. „Aus unserer Erfahrung aus den vergangen und den laufenden Projekten können wir sagen, dass diese Dienste nur durch eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit aller beteiligten Partner erfolgreich realisierbar sind. Dies gilt je nach Themengebiet auch für die Vernetzung mit Versicherungen oder den verschiedenen Gesetzgebern. Nachhaltiges Geschäft kann hier auf unsere gesamte Industrie ein positives Licht werfen – weil es allen Autofahrern Nutzen bringen kann.“ Ohne genaues Zuhören und „großes Verständnis für die Anforderungen der zu verwebenden Industrien“ sei kein nachhaltiges Geschäft möglich.

Mit „Always On“ auf dem Weg zu „Always Connected“

In seiner Keynote auf dem 18. Fachkongress in Ludwigsburg beschäftigte sich Conti-Vorstandsmitglied Helmut Matschi unter anderem mit neuen Formen der übergreifenden Zusammenarbeit zwischen Zulieferer und OEM, mit sicherer Vernetzung, Produktanforderungen  und Geschäftsmodellen. Sein Fazit lautet unter anderem: „Wir müssen für verlässliche, sichere und damit auch sicher bedienbare Lösungen sorgen und dürfen den Mensch in Bezug auf die Datensicherheit nicht aus dem Auge verlieren.“ Wichtig ist dabei auch ein „ganzheitliches HMI“.

Qualität muss sein

„Wir müssen (bei vernetzten Projekten) unseren Qualitätskriterien treu bleiben. Wir müssen verstehen, dass die Regeln des Automobilgeschäfts, der IT-Industrie und der CE-Welt nicht immer miteinander harmonieren. Da heißt es: Regeln anpassen.“ Daher müsse man unter anderem offen über die Probleme sprechen. „Langfristig gilt auch für Zulieferer und Hersteller: Wir gewinnen nicht über Quick-Wins, sondern es müssen nachhaltige Geschäftspraktiken sein, die uns dementsprechend weiterführen.“

Automatisiertes Fahren und C2x

„Eine elementare Bedeutung für die zukünftigen Fahrfunktionen“ ist für Continental das Wissen darüber „wie denn die vorausliegenden Straßenverhältnisse aussehen“. Fahrzeuge von heute sehen sich mit ihren teilweise über 90 Steuergeräten und entsprechenden Sensoren „das hier und jetzt“ an, aber jetzt komme zusätzlich noch der Komplexitätsgrad nach vorne zu sehen. Außerdem gehe es darum, ein Vertrauen in die neuen Möglichkeiten aufzubauen: „Da tut es sehr gut, die Daten aus dem Netz zu sehen – und diese Möglichkeiten liefert der elektronische Horizont.“ Wichtig sei der automatische Austausch von Daten zwischen Verkehrsteilnehmern: „Neben dem statischen Horizont, den wir heute von den Verkehrszeichen kennen, und einem Connected-Horizont, der Daten aus dem Internet verwendet, wird der nächste Schritt darin bestehen, einen dynamischen e-Horizon zu nutzen, der Daten mit aufspielt und zurückspielt“, und dann entwickle sich die volle Dynamik.

Diese Daten müssten anonymisiert zentral verarbeitet werden. „Es ist überhaupt nicht wichtig, von welcher Person diese Daten stammen; es müssen nur valide Daten sein, um zu wissen, wie es um die nächste Ecke herum aussieht.“ Diese positive Datennutzung ziehe mehr Sicherheit, geringere Emissionen und mehr Fahrkomfort nach sich, sei aber zweifellos „eine der größten Herausforderungen“.

Die Lösung: Partnerschaften

„Lassen Sie uns die Möglichkeiten nutzen, die draußen schon realisiert sind. Warum sollte sich Continental ein Know-how zu einem hochskalierbaren Rechenzentrum selbst zulegen, wenn das IBM schon hat? Warum sollten wir uns überlegen, welches die besten Algorithmen sind, um die immer zu kleinen Bandbreiten nutzen zu können, wenn Cisco sich das zu seinem Tagesgeschäft gemacht hat?“, fragt er, um Contis Kooperationen mit Cisco und IBM ins Spiel zu bringen. Außerdem unterstrich er die Wichtigkeit extrem genauer hochdynamisierbarer Karten, weshalb Continental mit Here (ex-Nokia mit Navteq-Kartengrunddaten) kooperiere, um Kartendaten aus fast 200 Ländern cloudbasiert nutzen zu können. Wie wichtig dieses Thema ist, das merkt man daran, dass es bei Here 2,7 Millionen Kartenveränderungen pro Tag gebe. Der Tier-1 sei in diesem System der Integrator, der Vermittler, der Ansprechpartner für das Gesamtsystem sowie derjenige, der für die notwendigen Fahrzeugsysteme und Komponenten verantwortlich ist. „Das ist eine Verschiebung von der ursprünglichen reinen Komponentenlieferung.“

Sicherheit

„Das Bedürfnis nach Datensicherheit ist extrem groß, und deswegen müssen wir den Schutz vor Datenmissbrauch absolut im Auge behalten. Sicherheit darf nicht kompromittiert werden. Der Mensch und seine Sicherheit muss im Vordergrund stehen. Wer diese Punkte nicht berücksichtigt, der wirft ein schlechtes Licht – und zwar auf die gesamte Industrie.“ Aber diese Sicherheit gebe es weder zum Nulltarif noch im Alleingang. „Ich habe auch den Eindruck, dass hier eine deutlich größere Bereitschaft da ist, zusammen zu arbeiten und in diese Themen zu investieren. Dieses Wissen über die neuen Möglichkeiten aber auch über die Schwachstellen muss geteilt werden. … Wir werden sehen, dass sich diese Investitionen amortisieren und uns hier vertrauensvolle Partnerschaften weiterbringen.“

Zusammen mit dem Augmented-HUD ist der e-Horizon ein zentrales Element zukünftiger vernetzter und automatisierter Fahrzeuge.

Zusammen mit dem Augmented-HUD ist der e-Horizon ein zentrales Element zukünftiger vernetzter und automatisierter Fahrzeuge.Continental

Mashups

Im Internet machen sich Mashups bereits eine große Zahl von verfügbaren Datenquellen zunutze, in der Automobilbranche läuft es ähnlich: Aus Bildern mit Kartendaten, Kalenderinformation und Nutzerinteressen lassen sich „ganz individuell abgestimmte Internet-Angebote machen“. Hierfür ist die Nutzung der entsprechenden APIs (Datenschnittstellen) erforderlich – „und schon sehen wir, dass die Regeln der CE-Welt für uns plötzlich ganz wichtig sind“, weshalb es auch erforderlich sei, in diesem Umfeld mit der CE-Welt zusammen zu arbeiten.

Bei einem Mashup im Auto erfolgt eine Kombination aus statischen Daten mit den dynamischen Daten der Fahrzeugsensorik und den Daten aus der Cloud. Um nicht für jedes Fahrzeug und jede Applikation die Integration immer neu durchführen zu müssen, kämen HTML5 und HMI-Schablonen zum Einsatz. „Der Clou liegt darin, dass die Datenfusion, die Intelligenz nur einmal entwickelt werden muss. So können wir uns darum kümmern, dass die auf Smartphones generierten Informationen automobiltauglich dargestellt werden – und das ist gerade für die Mainstream-Lösungen wichtig.“ Voraussetzung hierfür sei das Überschreiten von Domänen- und Industriegrenzen, was auch eine Grundvoraussetzung für das Automatisierte Fahren ist.

Für ein gesundes Wirtschaften „müssen auch die Prozesse stimmen“. Allerdings treffen „diese neuen Ideen und Lösungen teilweise sehr hart auf gewachsene Organisationsstrukturen – sowohl beim OEM als auch beim Zulieferer“. Für ihn sieht die Situation so aus: „Wir sind an der Schwelle des Paradigmenwechsels.“ Anhand eines intelligenten Antennenknotens erläutert er die Situation. Technisch sei diese Herausforderung lösbar, aber hierfür wäre es erforderlich, dass sowohl beim Zulieferer als auch beim OEM „mehrere Abteilungen gleichzeitig und gut zusammenarbeiten“. Dabei bezieht er klar Stellung: „Zuhören ist sehr wichtig, und das wird der nächste Schritt sein: Wer diese Schwellen schneller überwindet, der wird die Zukunft schneller meistern. Hier müssen wir als Industrie besser werden, denn die Zeit des ‚Always Connected‘ braucht kurze Reaktionszeiten und adäquate Schnittstellen.“

HMI

Wichtig seien ein „Dialog ohne Worte“ beziehungsweise „ein ganzheitliches Interaktionskonzept“. Daher gelte es, aus der Vielzahl der zur Verfügung stehenden Daten dem Fahrer „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ Informationen zur Verfügung zu stellen – und zwar abhängig von der Fahrsituation, von der Fahrzeugumgebung, vom Fahrerstatus und dem Fahrerwunsch. „Wir werden sowohl Touch-Gesten und Freihand-Gesten als auch normale Tasten aber auch Sprache haben“, die dann je nach Anwendungsfall zum Einsatz kämen. „Wir gehen auch davon aus, dass eine Innenraum-Kamera im Dashboard oder im Fahrzeughimmel eine sehr große Rolle spielen wird“, beispielsweise um die Sitzposition für den effektiven Einsatz eines Augmented-Reality-HUD (AR-Head-Up-Display) zu ermitteln. Dabei ging er auch auf das AR-HUD ein, das wir in dem separaten Beitrag „Head-Up-Display 4.0“ inklusive Demo-Video ausführlich beschreiben, und das auch Vertrauen für die neuen Fahrfunktionen des automatisierten Fahrens aufbauen soll.

Ein besonderer Mehrwert ergibt sich aus der Kombination von AR-HUD und e-Horizon: „Der e-Horizon ermöglicht es, die Fahrzeuge intelligenter zu machen und das Fahrzeug zu einem digitalen Begleiter werden zu lassen.“

Fragen der Konferenzteilnehmer

Dass Helmut Matschi in seinem Vortrag ein heißes Thema deutlich angesprochen hat, zeigte sich auch an der Reaktion der Zuhörer, denn die ersten Detailfragen kamen von den E/E-Leitern der OEMs Audi und BMW. Helmut Matschi antwortete im Klartext: „Wir werden noch mehr in Services und Dienste gehen. Es wird nicht funktionieren, wenn man von einem Unternehmen Continental erwartet, dass es eine Stückliste aufzeigt, aus der sich ein Preis für ein Produkt ergibt, sondern es geht auch darum, dass der Wert der Software entsprechend realisiert werden kann. Damit erwarten wir nichts anderes, als dass OEMs uns genauso betrachten wie sie Softwarefirmen betrachten“, was Audis E/E-Leiter Ricky Hudi spontan mit den Worten „Ein sehr wichtiger Punkt“ kommentierte.

Helmut Matschi zufolge ist zudem auch auf Endkundenseite die Zeit reif für neue Bezahlmodelle: „Wenn wir über E/E-Architekturen sprechen, dann geht es nicht nur um die Architektur innerhalb des Fahrzeugs selbst sondern auch zusätzlich um die erweiterte Architektur in der erweiterten Infrastruktur. … Wir werden auf solche dauerhaften Themen kommen. Ich habe den Eindruck, dass die Industrie heute ganz anders bereit ist; vor fünf Jahren hätte ich den gleichen Vortrag nicht gehalten.“ Ricky Hudi, der an diesem Nachmittag durchs Programm führte, ergänzte: „Das kann ich nur bestätigen. Teaser-Konzepte – Angebotsstrukturen, bei denen man dem Kunden eine gewisse Zeit lang Angebote freischaltet, die er danach erwerben kann – dafür ist die Zeit reif.“

Alfred Vollmer

ist Redakteur von AUTOMOBIL-ELEKTRONIK und all-electronics.

(av)

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