Aufmacher

(Bild: Schaeffler)

Die Elektrifizierung des Antriebstrangs bietet bekanntlich weitreichende Potenziale hinsichtlich der Verringerung des CO2-Ausstoßes von Kraftfahrzeugen. Darüber hinaus lassen sich zudem die Fahrsicherheit und die Fahrdynamik durch die Verwendung von Elektromotoren erhöhen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass Elektromotoren im Gegensatz zu Verbrennern kleiner sind, und so dezentral im Fahrzeug untergebracht werden können.
Während bei einem konventionellen Fahrzeug nur ein Antriebsaggregat zur Verfügung steht, lässt sich die Anzahl bei einem Elektrofahrzeug auf zwei, drei oder gar vier Antriebseinheiten erhöhen, welche auf der Antriebswelle, radnah oder im Rad selbst verbaut werden können. Damit erhöht sich die Anzahl der Stelleingriffe zur aktiven Beeinflussung der horizontalen Fahrzeugbewegung, was die Möglichkeiten zur Energieverbrauchsminderung und zur Verbesserung der Fahrdynamik stark erhöht.

Eckdaten

  • Schaeffler hat ein Konzeptfahrzeug erstellt, das Torque-Vectoring ermöglicht.
  • Auf der Vorderachse wirkt ausschließlich der Verbrennungsmotor, auf der Hinterradachse ein 48-V-Motor mit individueller Drehmomenten-Verteilung.
  • Dabei hat die 48-V-3in1-Hinterachse ein integriertes Zweiganggetriebe mit Torque-Vectoring-Funktion.
  • Im „Sport“-Modus steigert das System die querdynamische Agilität und Performance.
  • Das System nutzt eine modulare Architektur.
  • Bei entsprechender Systemauslegung lässt sich auch Energie sparen.

Im Allgemeinen setzt sich die Fahrzeughorizontaldynamik aus der Längs-, der Quer und der Gierbewegung des Fahrzeugaufbaus zusammen. Bei einem konventionellen Fahrzeug mit einer lenkbaren Achse sowie einer durch einen Verbrenner aktuierten Vorder- oder Hinterachse stehen lediglich zwei Eingriffsmöglichkeiten zur Beeinflussung dieser drei Bewegungsfreiheitsgrade zur Verfügung. Das Fahrzeug ist unteraktuiert, sodass es im Normalfall zwar einer gewünschten Bahnkrümmung (Querbewegung) mit einer geforderten Längsbeschleunigung (Längsbewegung) folgt. Das Eigenlenkverhalten des Fahrzeugs ist durch die Fahrzeuggeometrie allerdings vorgegeben, da das Gierverhalten nicht direkt ohne Verringerung des Vortriebs beeinflusst werden kann.

Vollaktuiertes Konzeptfahrzeug

Anders stellt sich die Situation dar, wenn die bei einem konventionellen Fahrzeug nicht aktuierte Achse elektrifiziert wird, sodass die Momentenverteilung zwischen zugehörigem linkem und rechtem Rad aktiv beeinflusst werden kann. Ein solches vollaktuiertes Fahrzeug wurde von Schaeffler Technologies in Zusammenarbeit mit Schaeffler Engineering in Form des Konzeptfahrzeuges „High Performance 48 V“ erfolgreich umgesetzt und erprobt (Bild 1).
Hierfür wurden in einem Basisfahrzeug mit turboaufgeladenem 2,0-Liter-Ottomotor und Sechsgang-Doppelkupplungsgetriebe zusätzlich ein 48-V-Riemenstartergenerator, eine 48-V-3in1-Hinterachse sowie eine Hochleistungsbatterie verbaut. Zur Ansteuerung der Komponenten kam das Rapid-Control-Prototyping-System Protronic-Topline zum Einsatz. Die resultierende Systemarchitektur ist in Bild 2 dargestellt.
Ziel war neben der Emissionsreduzierung durch Lastpunktverschiebung und Rekuperation die Erhöhung des Fahrspaßes für den Endkunden. So resultiert im Eco-Modus aus einem dynamischen Wechsel zwischen verbrennungsmotorischem und elektrischem Antrieb eine bestmögliche Kraftstoffeffizienz, während die 48-V-3in1-Hinterachse mit integriertem Zweiganggetriebe und Torque-Vectoring-Funktion im Sport-Modus dazu genutzt wird, die querdynamische Agilität und Performance zu steigern.

Querdynamische Agilität steigern

Bild 1: Das Konzeptfahrzeug „High Performance 48 V” von Schaeffler.

Bild 1: Das Konzeptfahrzeug „High Performance 48 V” von Schaeffler. Schaeffler

Der Fokus der Querdynamikregelung liegt dabei auf der Steigerung des Kurveneinlenkverhaltens sowie in der Erhöhung der Gierneigung des Fahrzeugs. Dies ermöglicht vor allem bei frontgetriebenen Fahrzeugen höhere Kurvengeschwindigkeiten und ein sportlicheres Fahrgefühl. Die hierfür notwendigen querdynamischen Zustandsgrößen lassen sich mittels eines Zustandsbeobachters schätzen, der ein Einspurmodell mit den Eingangsgrößen Fahrzeuggeschwindigkeit, Lenkwinkel sowie weiterer Umgebungs- und Systemgrößen nutzt.
Aus der Variation der Parameter eines parallel berechneten Fahrzeugmodells resultiert das Zieleigenlenkverhalten, welches sich maßgeblich in einer dynamischen Gierratenanpassung widerspiegelt. Durch eine verringerte Gierdämpfung am Kurveneingang ermöglicht diese einerseits eine Erhöhung des Fahrzeugeinlenkverhaltens. Andererseits sorgt eine erhöhte Gierdämpfung stationär für ein stabileres Fahrverhalten. Das Differenzmoment der 48-V-3in1-Hinterachse zur Realisierung der gewünschten Gierratenüberhöhung beziehungsweise -reduzierung wird mittels einer Kombination aus modellgestützter dynamischer Vorsteuerung und Störgrößenregelung ermittelt.
Bild 3 zeigt die Ergebnisse eines mit aktiver Torque-Vectoring-Funktion gefahrenen Slaloms. Die Fahrgeschwindigkeit betrug 100 km/h; das Fahrzeug wurde zudem mit einer Lenkwinkelamplitude von 60 ° bei einer Frequenz von 0,3 Hz angeregt. Im oberen Plot sind die drei relevanten Gierraten dargestellt:

  • die gemessene Istgierrate
  • die geschätzte Gierrate des passiven Fahrzeugs ohne Torque-Vectoring-Funktion
  • die Zielgierrate mit Torque-Vectoring-Funktion
Bild 2: Überblick über die Systemarchitektur des Konzeptfahrzeugs.

Bild 2: Überblick über die Systemarchitektur des Konzeptfahrzeugs. Schaeffler

Des Weiteren sind der Lenkwinkelverlauf sowie das Torque-Vectoring-Differenzmoment der Querdynamikregelung für die 48-V-3in1-Hinterachse dargestellt.
Mit dem zusätzlichen Differenzmoment an der Hinterachse kann das Fahrzeug der Zielgierrate folgen, lenkt bei gleichem Lenkwinkel stärker ein und erreicht somit auch im kurzen stationären Bereich eine höhere Gierrate. Es zeigt folglich ein deutlich agileres, aber auch stabileres Fahrverhalten, da für die gleiche Gierrate ein reduzierter Lenkwinkel benötigt wird.

Überaktuiertes Fahrzeug entwickeln

Bild 3: Ergebnisse eines Fahrversuchs zur Torque-Vectoring-Funktion.

Bild 3: Ergebnisse eines Fahrversuchs zur Torque-Vectoring-Funktion. Schaeffler

Treibt man die Elektrifizierung des Fahrzeugs weiter und stattet jede der vier Antriebseinheiten mit einem radnahen Elektromotor aus, so resultiert ein überaktuiertes Fahrzeug. Den drei horizontalen Bewegungsfreiheitsgraden stehen in diesem Fall fünf Stelleingriffsmöglichkeiten gegenüber, nämlich die vier Elektromotoren sowie die konventionelle Lenkung. Neben der aktiven Beeinflussung von Längs-, Quer- und Gierverhalten des Fahrzeugs besteht die Möglichkeit weitere, sekundäre Ziele durch gezielte Verteilung der Drehmomente auf die einzelnen Antriebsaggregate zu erreichen.
Hierbei kann es sich beispielsweise um die Minderung des Energieverbrauchs handeln, indem die Elektromotoren in einem optimalen Leistungsband betrieben werden. Auch ist eine Erhöhung der Fahrsicherheit möglich, indem die Drehmomente so auf die einzelnen Elektromotoren verteilt werden, dass bei gleichbleibenden Längs- und Querkräften sowie gleichbleibendem Giermoment auf den Fahrzeugaufbau die Kraftschlussausnutzungen der vier Räder homogenisiert und damit die Abstände zur Kraftschlussgrenze vergrößert werden.
Ein entsprechendes Konzept zur integrierten Regelung der Fahrdynamik eines überaktuierten Fahrzeugs mit konventioneller Lenkung und vier radnahen Elektromotoren befindet sich derzeit bei Schaeffler Engineering in der Entwicklung. Die hierbei verwendete modulare Architektur ist in Bild 4 dargestellt. Sie bietet den Vorteil, dass sich die Auslegung von Fahrzeugwunschverhalten, die Verteilung der Drehmomente auf die vier Elektromotoren sowie die Stabilisierung von Fahrzeug- und Radbewegungen weitgehend unabhängig voneinander angehen lässt.

Unterschiedliche Funktionsmodule

Die Auslegung des Funktionsmoduls „Desired Vehicle ­Behavior“ basiert dabei auf der Annahme, dass die Bahnkurve und damit die Querbeschleunigung des Fahrzeugs mittels der konventionellen Lenkung bereits festgelegt sind. Längsbeschleunigung sowie Gierrate des Fahrzeugaufbaus lassen sich hingegen durch die Verteilung der Drehmomente auf die vier Elektromotoren aktiv beeinflussen. Für diese beiden Bewegungsfreiheitsgrade des Fahrzeugaufbaus bestimmt das Modul „Desired Vehicle Behavior“ Sollverläufe unter Berücksichtigung physikalischer und technischer Beschränkungen wie beispielsweise der Fahrbahnbeschaffenheit oder des Maximalmoments der vier Elektromotoren.
Dabei wird nur der Zusammenhang zwischen Fahrervorgaben (Lenkradwinkel sowie Gas- beziehungsweise Bremspedalstellung) und Bewegungsgrößen betrachtet. Die tatsächliche Aktuierung des Fahrzeugs steht nicht im Fokus. In der Folge ist das Fahrzeugwunschverhalten relativ frei vorgebbar. So kann beispielsweise ein Einspurmodell zum Einsatz kommen, dessen hinterlegte Parameter ein gewünschtes Eigenlenkverhalten abbilden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, das Fahrverhalten unabhängig von geometrischen Beziehungen des Fahrzeugs in Form abstrakter Übertragungsfunktionen relativ frei zu hinterlegen.
Anschließend wird das für die resultierende Fahrzeugwunschbewegung notwendige Giermoment auf den Fahrzeugaufbau zusammen mit einer passenden Längskraft durch Inversion eines einfachen Fahrzeugmodells bestimmt, welches die Fahrzeughorizontalbewegung als die Bewegung eines starren Körpers in der Ebene auffasst. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht in der unkomplizierten Festlegung des Fahrzeugwunschverhaltens ohne eine detaillierte Beschreibung der tatsächlichen Fahrzeuggeometrie berücksichtigen zu müssen und ermöglicht zudem eine fahrerindividuelle Anpassung des gewünschten Fahrverhaltens anhand von drei bis fünf eingängigen Parametern.
Das sich anschließende Modul „Wheel Torque Allocation“ ermittelt die Drehmomente für die vier radnahen Elektromotoren. Primäres Ziel ist dabei, das zur Fahrzeugwunschbewegung gehörende Giermoment bei gleichzeitiger Umsetzung der Solllängskraft zu realisieren. Im Sinne einer Fahrsicherheitsmaximierung soll zudem die Kraftschlussausnutzung zwischen Reifen und Fahrbahn, also das Verhältnis zwischen übertragener Radkraft zu physikalisch maximal übertragbarer Kraft, möglichst gut ausgenutzt werden. Der hierfür verwendete Algorithmus resultiert aus der analytischen Minimierung der gewichteten Quadratsumme der vier Kraftschlussausnutzungen.

Die Architektur der Fahrdynamikregelung.

Die Architektur der Fahrdynamikregelung. Schaeffler

Die Drehmomente lassen sich dabei so auf die vier Elektromotoren verteilen, dass die Kraftschlussausnutzungen an allen vier Rädern in etwa gleich groß und möglichst klein werden. Da auf die Lenkung der Räder bei der hier betrachteten Fahrzeugarchitektur kein Einfluss genommen werden kann und somit die Radquerkräfte festgelegt sind, finden sie bei der Verteilung der Radmomente Berücksichtigung, indem ihr Anteil am Fahrzeuggiermoment mit dem Sollgiermoment verrechnet wird. Außerdem lassen sich die physikalisch maximal übertragbaren Radkräfte gemäß dem Kamm’schen Kreis um die bereits durch den Lenkeinschlag aufgebrauchten Radquerkräfte vermindern. Es resultiert ein Verteilungsalgorithmus, der aus einfachen algebraischen Operationen besteht, was eine Online-Berechnung der Radmomente im Fahrzeug gestattet.
Die so erzeugten Radmomente werden anschließend als Sollgrößen an die Elektromotoren übermittelt und insofern physikalisch möglich realisiert. Wird dabei ein instabiles Radverhalten wie Durchdrehen oder Blockieren detektiert, greift eine einfache Schlupfregelung ein und vermindert den von der Drehmomentverteilung geforderten Drehmomentbetrag des jeweiligen Rades.
Eine übergeordnete Gierratenregelung ergänzt die bis hierhin vorgestellte Steuerungsstruktur. Wenn charakteristische Größen der Gierbewegung signalisieren, dass das Fahrzeug droht, instabil zu werden, erzeugt die Regelung einen zusätzlichen Giermomentanteil, welcher die Einhaltung der Wunschfahrzeugbewegung sicherstellt. Ist die Fahrzeugbewegung wieder stabil, wird der Regelungsanteil zurückgenommen, sodass der Fahrer wieder allein für das Führen des Fahrzeugs verantwortlich ist.

Modular aufgebaute Architektur

Der dargestellte Ansatz zur Fahrdynamikregelung erhöht dabei nicht nur den Fahrspaß, indem sich das Fahrzeuggierverhalten den Wünschen des Fahrers entsprechend einstellen lässt. Durch die Verringerung der Radkraftschlussausnutzungen wird zudem die Fahrsicherheit erhöht, was zu einer unmittelbaren Vergrößerung des Bereichs der mit dem Fahrzeug realisierbaren Fahrmanöver führt.
Ein Vorteil der dafür verwendeten Architektur ist in ihrem modularen Aufbau zu sehen. Durch diesen können mehrere Entwickler parallel an der Gesamtfunktionalität arbeiten, und es besteht die Möglichkeit, unterschiedliche Konzepte für die Teilfunktionen zu entwickeln und gegeneinander auszutauschen, was gerade in der Frühphase der Entwicklung einer solch umfassenden Funktionalität wie der Fahrdynamikregelung die Testmöglichkeiten verbessert. Zudem erhöht die Modularisierung die Übersichtlichkeit, was zusammen mit einem konsequenten Schnittstellen-Management zu einer Verringerung der Fehleranfälligkeit bei der Implementierung führt.

Dieser Beitrag ist in der emobility tec, dem technischen und technologischen Fachmedium für Hybridfahrzeuge und Elektromobilität, erschienen.

Dr.-Ing. Jan-Erik Moseberg

(Bild: Schaeffler)
Entwicklungsingenieur im Team HEV & Vehicle Integration bei Schaeffler Engineering

Jan Kolhoff

(Bild: Schaeffler)
Entwicklungsingenieur im Team HEV & Vehicle Integration bei Schaeffler Engineering

(av)

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