Bei E-Call erfolgt die Übertragung von Sprache und Daten gemeinsam im Sprachkanal. Peiker

Bei E-Call erfolgt die Übertragung von Sprache und Daten gemeinsam im Sprachkanal. (Bild: Peiker)

Ein Blick zurück in das Jahr 2002: Die Europäische Kommission initiiert die E-Safety-Initiative, um die Einführung und Weiterentwicklung moderner Sicherheitssysteme zu beschleunigen. Auf dem ersten Forum im November erklärt sie ein pan-europäisches Notrufsystem (E-Call) als wesentlichstes Instrument zur Reduzierung tödlicher Unfälle durch schnelle medizinische Hilfe.

Im Rahmen der europäischen Forschungskooperation ERTICO (European Road Transport Telematics Implementation Coordination Organisation) entsteht 2002 eine E-Call-Arbeitsgruppe, welche – gemeinsam mit allen Beteiligten, darunter Autohersteller, Lieferanten, Länder, Autobahn- und Netzbetreiber – die allgemeinen Voraussetzungen für einen E-Call definieren will. Eine gesonderte Arbeitsgruppe, die E-Call Driving Group, soll die notwendigen Spezifikationen für einen solchen Notruf erarbeiten.

Allen Teilnehmern ist klar, dass die Umsetzung nicht ohne die Mithilfe der einzelnen europäischen Länder machbar ist. Um die beteiligten Staaten zur „freiwilligen“ Mitarbeit heranzuziehen, entsteht ein Memorandum of Understanding. Dessen Unterzeichner sollen neben den Ländern auch die umsetzenden Instanzen sein, zu denen selbstverständlich auch die Automobilzulieferindustrie gehört. Als einer der ersten Zulieferer überhaupt unterschreibt im März 2005 das Friedrichsdorfer Technologie-Unternehmen Peiker. Der hessische Mittelständler beschäftigte sich schon früh mit dem Thema Notruf und entwickelte bereits 1995 ein Polestar genanntes Telematiksystem auf Handy-Basis mit GPS-Fahrzeugortung, Pannenhilfe, Notruf und Übermittlung von Verkehrsinformationen.

Um die Jahrtausendwende zeigten viele verschiedene Tests, dass Telematikboxen mit integrierter SIM-Karte deutlich sicherer als handybasierte Systeme sind. Sowohl Peiker als auch Automobilhersteller wie beispielsweise BMW und Volvo setzten deshalb zunehmend auf diesen Ansatz. Weiterentwicklungen einiger dieser Systeme sind bis heute im Einsatz und überbrücken nicht nur die Lücke des dringend benötigten E-Calls sondern ermöglichen zusätzlich auch herstellerspezifische Informations-, Entertainment- und Service-Angebote.

Die Spezifikationen kommen –– allerdings später als gedacht

Die europäischen Länder selbst ließen sich mit der Unterschrift Zeit: Deutschland unterschrieb das Memorandum erst im Jahr 2008, die Unterschrift von Frankreich und Großbritannien steht bis heute aus. Doch nicht nur die Unbeweglichkeit mancher Teilnehmerländer verzögert den gemeinsamen E-Call; auch die Einführung des Systems selbst wird länger dauern als ursprünglich gedacht. Laut einer ersten Presseerklärung der E-Safety-Initiative aus dem Februar 2005 sollten die Normen und Spezifikationen für das E-Call-System bis Ende 2005 festgelegt, im Jahr 2006 Feldtests durchgeführt und ab 2009 alle Neufahrzeuge mit der E-Call-Technik ausgerüstet werden.

Statt des geplanten Termins 2005 lag die finale Definition des E-Calls erst Ende 2007 nach mehreren Machbarkeitsstudien von Netzbetreibern, dem ADAC und anderen Beteiligten vor. Diese beinhaltet mehrere wesentliche Vorgaben. So muss beispielsweise das Fahrzeugsystem fest eingebaut sein, da die Nutzung von Mobiltelefonen die Zuverlässigkeit verringert. Schließlich kann es vorkommen, dass das Handy ausgeschaltet ist oder zu Hause vergessen wurde. Zudem muss dieses In-Vehicle-System in der Lage sein, den Notruf manuell oder nach dem Auslösen des Airbags automatisch auszulösen. Nach der Auslösung wird eine Dormant-SIM, eine „schlafende“ SIM-Karte, aktiviert, die sich in ein Mobilfunknetz einbucht. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Karte nicht erfasst; der Datenschutz bleibt somit gewährleistet.

Peiker entwickelte bereits 1995 ein Polestar genanntes Telematiksystem auf Handy-Basis mit GPS-Fahrzeugortung, Pannenhilfe, Notruf und Übermittlung von Verkehrsinformationen. Peiker

Peiker entwickelte bereits 1995 ein Polestar genanntes Telematiksystem auf Handy-Basis mit GPS-Fahrzeugortung, Pannenhilfe, Notruf und Übermittlung von Verkehrsinformationen. Peiker

Anschließend erfolgt ein Sprachanruf zur Notrufnummer 112. In diesem Sprachkanal übermittelt dann ein In-Band-Modem einen minimalen Datensatz, der sowohl Fahrzeug-Identifizierungsnummer zur Typbestimmung als auch Zeitpunkt des Unfalls, Position des Fahrzeugs und Fahrtrichtung vor dem Unfall beinhaltet. Beim Versenden des E-Calls muss zudem ein sogenanntes E-Call-Flag gesetzt werden. Durch dieses erkennt das Netz einen automatisch generierten Notruf, kann ihn entsprechend priorisieren und an jene Notrufzentralen weiterleiten, die in der Lage sind, den Datensatz zu empfangen sowie auszuwerten. Die erforderlichen Standards hierfür erarbeitet das European Telecommunications Standards Institute (ETSI) in den Jahren 2007 bis 2009. Gemeinsam mit Autoherstellern und Netzbetreibern prüft und validiert es diese mehrfach in europaweiten Tests.

Noch im Juni 2008 war das EU-Parlament der Meinung, dass der E-Call bis 2010 auf freiwilliger Basis eingeführt werden könne. Jedoch erzielten die Diskussionen mit den Mitgliedsländern in den nachfolgenden Jahren keinen Fortschritt bei der freiwilligen Einführung des Systems. Ein Bericht der Europäischen Kommission von 2010 spricht schließlich nur noch davon, dass der E-Call „bald“ kommen wird.

Der E-Call kommt jetzt. Und was kommt danach?

Im November 2012 wurde es der Europäischen Kommission zu bunt. Sie beschloss, den E-Call nicht auf freiwilliger Basis sondern für alle Partner verpflichtend einzuführen. Als Startdatum legt sie April 2018 fest. Mit diesem Beschluss zur Umsetzung werden auch die Aktivitäten dafür intensiver. Das von ERTICO geleitete Projekt I_HeERO fokussiert sich auf die notwendige Infrastruktur, untersucht aber auch die Erweiterung des Notrufs für Lkw, Gefahrguttransporte und Motorräder.

Das E-Call-System ist jedoch nicht für jedes Neufahrzeug sondern ausschließlich in Fahrzeugen mit neuer Typzulassung vorgeschrieben. Anhand der durchschnittlichen Fahrzeug-Lebensdauer und der Entwicklungszyklen der Autohersteller lässt sich vorhersagen, dass eine Ausrüstung von 95 Prozent aller motorisierten Verkehrsteilnehmer voraussichtlich erst im Jahr 2040 erreicht sein wird. Aufgrund dieses Zeitraums ist es gut möglich, dass sich ein Teil der Rahmenbedingungen für den E-Call ändern werden. Dass sich der Standard für Mobilfunknetze weiterentwickeln wird, ist abzusehen. Das In-Band-Modem, das den minimalen Datensatz im 2G- und 3G-Netz überträgt, wird in einem All-IP-Kommunikationsnetz (4G/5G) nicht mehr einsetzbar sein. I_HeERO befasst sich deshalb auch schon mit der nächsten Generation des automatischen Notrufs, dem sogenannten NG-E-Call.

Doch auch für den jetzt kommenden E-Call gibt es noch Klärungsbedarf. Eine bisher ungelöste Frage ist die Verfahrensweise, mit der Dritte wie beispielsweise der ADAC einen E-Call in Verbindung mit anderen Services anbieten können.

Auf die Autohersteller und deren Lieferanten wartet eine noch größere Herausforderung: die Zertifizierung des Fahrzeugsystems. Wer soll die Prüfung und Zulassung durchführen? Wie und was genau soll geprüft werden? Zur Disposition stehen diverse Faktoren wie beispielsweise Audioqualität, Positionsgenauigkeit und vieles mehr. Die EU fordert die Verwendung des europäischen Navigationssatellitensystems Gallileo als Zulassungsvoraussetzung. In Abstimmung mit dem World Forum for Harmonization of Vehicle Regulations der UNECE (United Nations Economic Commission for Europe) wird hierzu eine international gültige Vorgabe für Automobilhersteller entwickelt werden.

Eckdaten

Die Umsetzung von E-Call erfolgt unter anderem deshalb so schleppend, weil noch nicht alle europäischen Staaten die entsprechende Vereinbarung unterzeichnet haben. Auch in technischer Hinsicht gilt es, besondere Aspekte zu beachten.

Hinzu kommt, dass auch die Interoperabilität zum russischen Era-Glonass-Notrufsystem beachtet werden muss. Bisher decken nur wenige Systeme wie beispielsweise das von Peiker diese Forderung ab. Mit diesem dem europäischen E-Call ähnlichen System ist Russland Europa bei der Einführung des automatischen Notrufs nicht nur Jahre voraus; ab 2017 wird die Einführung dort bereits in allen Neufahrzeugen zur Pflicht.

Das ursprüngliche Vorhaben der eSafety-Initiative, die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 zu halbieren, scheiterte kläglich. Jetzt setzt die Europäische Kommission auf das Jahr 2020. Zehn Jahre später als geplant wird dieses Ziel nun also hoffentlich Wirklichkeit.

Lutz Richter

ist bei Peiker Acustic GmbH & Co. KG für Produktstrategie/Schutzrechte und Patente zuständig.

Dr. Christoph Schillo

ist Abteilungsleiter Vorausentwicklung bei der Peiker Acustic GmbH & Co. KG.

(av)

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