Verschiedene technologische Entwicklungen wie die Verbreitung des IoT oder Cloud Computing führten dazu, dass der digitale Zwilling bei einer breiten Maße angekommen ist.

Verschiedene technologische Entwicklungen wie die Verbreitung des IoT oder Cloud Computing führten dazu, dass der digitale Zwilling bei einer breiten Masse angekommen ist. (Bild: Mouser)

In dem Film Apollo 13 konnte die Welt beobachten, wie Ingenieure der NASA mithilfe eines „irdischen Zwillings“ des defekten Raumfahrzeugs nach einer Möglichkeit suchten, die Astronauten an Bord sicher zurück zur Erde zu bringen. Seither konnten Unternehmen und Entwickler das Konzept der Duplizierung weiterentwickeln und verfeinern. Heute kommt es zunehmend in virtualisierter Form zum Einsatz. Das Ergebnis ist eine Methode mit dem Namen Digital Twinning.

Eckdaten

Mithilfe eines digitalen Zwillings lassen sich verschiedene Funktionen und Begebenheiten eines physischen Objektes simulieren. Mittlerweile gehört die Technologie dank IoT und Cloud-Computing zum Standardrepertoir eines jeden Automatisierers. Predictive Maintenance lässt sich etwa optimieren und Fernwartung ist leichter umsetzbar. Das führt zu Kosten- und Zeiteinsparungen.

Dr. Michael Grieves von der University of Michigan prägte – in Bezug auf Produktentwicklungsarbeit bei der NASA – als Erster in seinem Buch „Virtually Perfect: Driving Innovative & Lean Products through Product Lifecycle Management“ den Begriff „Digitaler Zwilling“. Vereinfacht gesagt ist ein digitaler Zwilling eine dynamische virtuelle Darstellung eines physischen Produkts.

Was ist ein digitaler Zwilling?

Umfassende 3D-CAD-Daten bilden die Grundlage für ein exaktes digitales Modell eines gefertigten realen Produkts – den digitalen Zwilling. Diese Daten sind schließlich bereits lange vor der Entwicklung der physischen Version verfügbar. Anfang der 2000er-Jahre waren die Mechanismen zur direkten Erfassung von Informationen über individuelle Einheiten zum Zeitpunkt der Fertigung jedoch noch relativ primitiv. Nur wenige Daten waren zur Charakterisierung eines digitalen Modells verfügbar und diese wurden oft manuell gesammelt und auf Papier zusammengetragen.

In jüngerer Vergangenheit hat der zunehmende Einsatz von Manufacturing Execution Systems (MES), die Daten von zahlreichen Sensoren, Messgeräten, Präzisionsmessinstrumenten, Prüfvorrichtungen und ähnlichen Geräten erfassen, die Menge an Informationen vervielfacht, die in Fertigungsprozessen erfassbar sind. Mit automatisierter Erfassung, Speicherung und Organisation von Daten lassen sich jetzt sehr viel komplexere Modelle konstruieren, sodass das digitale Abbild dem physischen Produkt sehr viel genauer entspricht.

Demokratisierung von Digital Twinning

Durch die neuesten Entwicklungen in Bezug auf die Verfügbarkeit von Daten – also das Internet der Dinge (IoT) und erschwingliche Hochleistungs-Cloud-Computing-Lösungen – können Unternehmen Digital Twinning kosteneffizient auf den gesamten Produktlebenszyklus ausweiten, einschließlich dem laufenden Betrieb im Feld. Zudem ist das Verfahren heute auch für Betriebe verfügbar, die erheblich kleiner sind als die großen OEMs und staatlich unterstützten Organisationen, die zu den Early Adopters von Digital Twinning gehörten. Sinkende Preise könnten die Entwicklung vielseitiger Anwendungsfälle zur Optimierung von Produktdesign, Markteinführungszeit, Management und Instandhaltung vorantreiben und das Kundenerlebnis verbessern.

Präzise Modelle in Form von digitalen Zwillingen liefern Produktherstellern wertvolle Einblicke, die wiederum zur Verbesserung der Entwicklung des physischen Produkts dienen. Dazu zählen zum Beispiel Designmerkmale, ausgewählte Komponenten, Lieferkettenprozesse und die optimalen Fertigungsprozesse. Außerdem kann die Entwicklung neuer Produkte durch Zeit- und Kosteneinsparungen optimiert werden, indem nachfolgende Produktgenerationen in einer virtuellen Umgebung konstruiert und getestet werden und das Produkt erst dann physisch hergestellt wird, wenn die aktuelle Version des digitalen Modells die erforderlichen Spezifikationen vollständig erfüllt und betrieblich vollkommen optimiert ist. Schon Michael Grieves hat erkannt: Pixel lassen sich sehr viel einfacher bewegen als Atome.

Optimale Predictive Maintenance umsetzen

Digital Twinning wurde bereits bei Produkten erfolgreich eingesetzt, die in geringen Stückzahlen vorliegen, aber eine große Zahl von Teilen enthalten oder eine umfangreiche Konfiguration oder Anpassung erfordern. Beispiele sind Flugzeugmotoren oder große Gas- oder Dampfgeneratorturbinen in Kraftwerken für fossile Brennstoffe. Aufgrund der Komplexität derartiger Systeme ist eine Berechnung der optimalen Offline-Zeit zur Wartung auf Basis der durchschnittlichen Zeit zwischen Ausfällen (Mean Time Between Failure, MTBF) unmöglich. Weil ungeplante Ausfallzeiten im Fall von Stromerzeugung teuer und im Fall von Flugzeugmotoren sicherheitskritisch sind, erfolgt routinemäßig eine konventionelle Wartung in sehr kurzen Zeitabständen mit dem Ziel, anfällige Teile rechtzeitig vor Ende ihrer Lebensdauer zu ersetzen. Trotz der hohen Kosten lässt sich durch diesen Prozess jedoch nicht voraussagen, wann eine Komponente versagen wird. Das Risiko eines unerwarteten und kostspieligen Ausfalls besteht also weiterhin.

Gerade in den Bereich Predictive Maintenance und Remote Assets in abgelegenen Gegenden kann das Digital Twining überzeugen.

Gerade in den Bereich Predictive Maintenance und Remote Assets in abgelegenen Gegenden kann das Digital Twining überzeugen. Mouser

Digital Twinning misst große Mengen an Sensordaten vom physischen Zwilling im Feld, damit die Software möglichst genaue Vorhersagen treffen kann. Das führt zu einer kosteneffektiven, zustandsbasierten Wartung, die eine Vielzahl an Parametern mit Bezug zu realen Betriebsbedingungen berücksichtigt. Auf Basis dieser Daten können Unternehmen ermitteln, dass Anlagen bei starker Nutzung, kurzzeitiger starker Belastung oder durch Umweltrisiken eine frühere Wartung benötigen, als der Standardzeitplan vorgibt. So lässt sich die Sicherheit erhöhen und die Kosteneffizienz durch Reduzierung der Ausfallzeiten verbessern. Wenn die Daten dagegen auf weniger Abnutzung als gewöhnlich schließen lassen, können die Unternehmen die Austauschintervalle vergrößern. So wird die planmäßige Stillstandszeit reduziert, ohne die Servicequalität zu beeinträchtigen oder das Ausfallrisiko zu erhöhen.

Vorteile für die Verwaltung von Remote Assets

Die kostengünstige Überwachung von Anlagen an abgelegenen Standorten ist ein weiterer wichtiger Vorteil von Digital Twinning. Erneuerbare Energiequellen spielen eine immer größere Rolle, und in diesem Zusammenhang entstehen heute immer mehr Windparks. Diese befinden sich oft an abgelegenen Standorten, zum Beispiel in Küstengebieten oder offshore, um die dort herrschenden günstigen Windbedingungen auszunutzen. Das Wetter an solchen Standorten kann jedoch extrem sein, und wenn zum Beispiel ein Sturmschaden vermutet wird, ist es oft mit hohen Kosten und enormen Zeitverlust verbunden, die Anlagen und andere Ausrüstung zu überprüfen.

Ein digitaler Zwilling jeder Anlage, der angereichert ist mit Echtzeitdaten von einer Vielzahl an Sensoren an den Anlagen und anderer physischer Infrastruktur vor Ort, ermöglicht es Experten, den Status schnell und präzise zu überprüfen. Zum Beispiel lassen sich so strukturelle Schwachpunkte oder Beschädigungen elektronischer Ausrüstung identifizieren und anhand dieser Informationen können Entwickler entscheiden, welche die beste Vorgehensweise ist. Einige Probleme lassen sich womöglich aus der Ferne beheben. Sollte jedoch ein Besuch vor Ort erforderlich sein, kann das entsprechende Team bezüglich der notwendigen Arbeiten vorab instruiert und angemessen ausgerüstet werden, um die Kosten eines Zweitbesuchs zu vermeiden. Selbst unter normalen Betriebsbedingungen bietet Digital Twinning Vorteile. Mithilfe von Echtzeitdaten zu Leistung und Konfiguration, die zuvor am digitalen Zwilling getestet wurden, können Ingenieure die physische Anlage im Hinblick auf Effizienz und Zuverlässigkeit optimieren.

Dank der Demokratisierung durch das IoT und Cloud-Computing bietet Digital Twinning heute umfassende kommerzielle Möglichkeiten. Anbieter von Ausrüstung zur Fertigungsautomatisierung können so beispielsweise das Kundenerlebnis verbessern. Ein dedizierter digitaler Zwilling für jede Maschine in der Flotte eines bestimmten Kunden kann Erkenntnisse liefern, die der Anbieter nicht nur intern für die zukünftige Produktentwicklung nutzen kann. Gleichzeitig hat er die Möglichkeit, personalisierte Beratung bereitzustellen, zum Beispiel bezüglich der Anpassung des Bedienerverhaltens, um die Ausbeute zu steigern oder die Abnutzung der Anlage oder den Energieverbrauch zu minimieren.

Die Zukunft des digitalen Zwillings

Rosige Zukunft: In den kommenden Jahren sollen Milliarden von Geräten einen digitalen Zwilling haben.

Rosige Zukunft: In den kommenden Jahren sollen Milliarden von Geräten einen digitalen Zwilling haben. Mouser

Anfänglich wurden digitale Zwillinge auf leistungsstarken Plattformen für das Industrial Internet ausgeführt wie etwa Predix von GE. In jüngerer Vergangenheit konnten jedoch die Verlagerung von Predix durch GE und Microsoft auf die Azure Cloud von Microsoft sowie die stärkere Verbreitung von SaaS-Plattformen (Software-as-a-Service) wie SAP Predictive Engineering Insights die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Digital-Twinning-Technologie enorm verbessern. Zudem lassen sich in Kombination mit künstlicher Intelligenz in der Cloud womöglich zahlreiche „Was-wäre-wenn“-Szenarien durchspielen.

Mit dieser Roadmap hat sich Digital Twinning von einem revolutionären Konzept aus der Raumfahrt zu einem vielversprechenden Tool mit großer wirtschaftlicher Attraktivität entwickelt. Branchenanalyst Gartner zählt es zu den Top 10 der strategischen Technologietrends 2018 und prognostiziert, dass in wenigen Jahren Milliarden von Dingen einen digitalen Zwilling haben werden. Laut einer Umfrage von Research and Markets planen 75 Prozent der Führungskräfte, Digital Twinning bis 2020 zu implementieren. IDC prognostiziert seinerseits, dass Unternehmen die Zyklusdauer für kritische Prozesse im Durchschnitt um 30 Prozent optimieren werden können, wenn sie in Digital Twinning investieren.

Im Rahmen der digitalen Transformation von Unternehmen kann ein digitaler Zwilling ein virtuelles Modell eines Prozesses, Produkts oder Services bereitstellen. Dieses Modell unterstützt die Unternehmensplanung, bildet eine Prüfumgebung für digitale Experimente und liefert eine Vorlage für zukünftige Verbesserungen. Mit Anwendungen für den gesamten Lebenszyklus kommt die Technologie neben der Fertigungsbranche auch einer Reihe weiterer Bereiche zu Gute, darunter Smart Buildings, das Gesundheitswesen, Umweltmanagement, die Öl- und Gasförderung und Smart Cities.

Mark Patrick

(Bild: Mouser)
Technical Marketing Manager bei Mouser

(prm)

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