Herr Habering, wann hat Igus das Thema Condition Monitoring von Energieketten aufgegriffen?
Richard Habering: 2017 wurde das erste Projekt angestoßen, das heutige isense online mit der direkten Anbindung an unsere Cloud. Mit den darüber gewonnenen Daten wollten wir das eigene Wissen erweitern, Data Analytics und AI in der Cloud betreiben, um daraus wiederum einen Kundennutzen, wie weiter erhöhte Maschinensicherheit, zu generieren. Allerdings lag der Fokus dabei nicht nur auf Condition Monitoring, sondern galt der ganzheitlichen Betrachtung von Industrie 4.0, der vernetzten Industrie und wie sich die Igus-Komponenten darin wiederfinden. Das betrifft nicht nur Condition Monitoring, auch Onlinekonfiguratoren, CAD-Daten, digitale Bestellsysteme spielen in dem Zusammenhang auch eine Rolle.
Wie regeln Sie das Thema Datenschutz bei ihren Projekten?
Richard Habering: Der ursprüngliche Gedanke war, dass wir die Daten der Kundenanwendungen alle in die Cloud bringen. Die vielen persönlichen Gespräche mit potenziellen Anwendern haben uns aber schnell gezeigt, dass die Wünsche der Kunden in dem Zusammenhang äußerst unterschiedlich sind. Und so haben wir umgehend weitere Entwicklungsprojekte angestoßen.
Sie mussten also das Cloud-Konzept überarbeiten?
Einfache Wartung durch smart plastics
Daten sind die neue Leitwährung, sie zu generieren und zu evaluieren, ist eine zentrale Aufgabe, der sich Igus stellt.
Richard Habering: Wir haben schnell gelernt, dass wir das Thema Datenhandling in der Cloud in weiten Teilen anders angehen müssen. So werden in einem separaten und besonders geschützten Bereich der igus Cloud die Sensordaten mit den Kundendaten verknüpft, um in Echtzeit Wartungsempfehlungen oder Warnmeldungen zu generieren und via IoT auf Kundendevices anzeigen zu lassen. In unserem ‚Data Lake‘ wird mittels der komplett anonymen Sensordaten mittels Data Analytics und Machine Learning ein Datenmodell zur Definition des Zeitraumes erzeugt, in denen der Kunde das e-kettensystem ohne das Risiko eines unerwarteten Ausfalls betreiben kann. Parallel dazu haben wir ein mehrstufiges Konzept entwickelt, das Anwendern die Wahl ermöglicht, wie sie smart plastics überhaupt implementieren wollen – von einer reinen Offline-Variante bis hin zur Anbindung an unsere Cloud.
Was überwachen Sie an einer typischen Energiekette?
Richard Habering: Energieketten in dynamischen Anwendungen haben nun mal eine endliche Lebensdauer. Mit unserem Lebensdauerrechner kann man diese online recht zuverlässig berechnen. Die Basis dafür bilden Dauerversuche in unserem 3800 m² großen Testlabor. Dank der 10 Milliarden Testzyklen im Jahr können wir sehr viel mit Algorithmen vorherbestimmen. Hinzu kommen dann die Live-Daten unserer Kunden. Mit diesen Daten kann man Puffer und Grenzen viel mehr ausreizen ‒ ohne das Risiko eines Defekts. Die Sensoren erfassen dazu hauptsächlich den Abbau von Verschleißzugaben, die von vornherein vom Kunden oder uns eingeplant sind. So lässt sich eine smarte Energiekette, weil sie eben die Live-Bedingungen misst, gegebenenfalls länger betreiben, was Kosten spart. Mit den Sensordaten der Applikationen können wir darüber hinaus den Algorithmus an die Realität anpassen und sehen, ob wir mit den Online-Berechnungen auf dem richtigen Weg sind oder doch noch viel zu konservativ in der Auslegung der Energieketten sind.
Gab es da schon Überraschungen bei ihren Vergleichen?
Richard Habering: Ein Lebensdauerrechner ist immer konservativ ausgelegt, das heißt mit Sicherheitsreserve. Auch weil wir die Realität im Feld bis dato nicht immer kennen. Denn mitunter entwickelt sich der Verschleiß anders, als wir es angenommen haben, etwa durch veränderte Umgebungsbedingungen.
Bei wie vielen Projekten oder Maschinen können Sie bereits auf reale Daten für die Optimierung ihres Algorithmus zurückgreifen?
Richard Habering: Dazu muss man differenzieren, einerseits in Anwendungen mit Lebensdauerprognose und Wartungsvoraussagen und andererseits in das Management von unerwarteten Ereignissen. Bei einem Kettenbruch geht es darum, dessen Auswirkungen gering zu halten. Wenn die Kette bricht, dann hat es in den allerallermeisten Fällen externe Gründe, etwa eine von einem Gabelstapler verbogene Rinne oder ein vergessenes Werkzeug. Den Bruch überwachen wir per Zug/Schubüberwachung, von denen wir bereits über 2 000 Lösungen im Feld haben. Bei der Bruchüberwachung, die es seit 2018 gibt, geht sind auch schon nahezu 200 Anlagen im Feld. Beide Technologien können mit unserem icom-System verbunden werden und liefern dann zusätzliche Informationen. Wenn es ein Onlinesystem ist, gehen die Daten dann auch in die igus Cloud und werden von uns verarbeitet – anonymisiert versteht sich.
Worin besteht denn der Unterschied zwischen der Bruchüberwachung ab 2018 und der Schub/Zugüberwachung davor?
Richard Habering: Zusätzlich zu der bis 2018 dahin reinen abschaltenden Funktion erfolgt jetzt ein Monitoring aller Sensordaten auf einer SD-Karte sowie auf Wunsch die Ausgabe aller Messwerte über eine UART-Schnittstelle. Diese Daten können vom Kunden zu eigenen Auswertungen genutzt werden aber auch als zusätzliche Information in das Predictive Maintanance System isense online oder isense offline eingespielt werden.
Und die generelle Verschleißdiagnose, wie viele Systeme sind davon im Einsatz?
Richard Habering: Die icom-Installationen werden derzeit erst ausgerollt. Wir erweitern unser eigenes Testlabor auch dahingehend, dass bei jedem Versuchsaufbau in Zukunft immer kontinuierlich gemessen wird.
Wie wird denn der Algorithmus der Lebensdauerberechnung justiert? Erfolgt das fortlaufend oder vergleichbar zum Patch-Day an einem bestimmten Zeitpunkt?
Richard Habering: Beim Online-System liefert die Kette die Informationen über Bewegung und Abrieb an das icom-Modul. Dieses leitet alle Daten in unseren Data Lake weiter. Dort splittet sich das Ganze auf, in den Kunden-Bereich, wo nur er seinen Verschleiß einsehen kann. Die Grundlage bildet das aktuelle Modell des Lebensdauerrechners für seinen Kettentyp.
Und wie nutzt Igus die Daten?
Richard Habering: Alle Informationen aus den Kundenapplikationen pumpen wir anonymisiert zusammen mit den Daten aus unseren eigenen Laborversuchen in den Data Lake. Dort werden mittels AI dann Machine Learning-Algorithmen erzeugt. Ausgangspunkt ist ein Modell, das auf den Erfahrungswerten unserer Online-Tools basiert. Beide Modelle lassen wir gegeneinander laufen. Heraus kommt eine valide Aussage über die verbleibende Restlaufzeit bis zur nächsten Wartung.
Lässt sich der im Gerät hinterlegte Algorithmus der tatsächlichen Belastung anpassen?
Richard Habering: Die Onlinelösung hat natürlich dahingehend viele Vorteile. Bei der Installation des Systems basieren die Angaben zur nächsten empfohlenen Wartung anfangs auf den theoretischen Angaben, die beim Setup gemacht wurden. Der Wert ist zumeist viel zu vorsichtig. Geht die Anlage in Betrieb, ermittelt das iCOM das reale Bewegungsprofil. Damit lässt sich sehr einfach die Lebensdaueraussage in Tage umrechnen. Bis zu dem Punkt, an dem der Verschleißsensor der e-kette Alarm schlägt, basiert das auf unserem Lebensdauerrechner.
Tritt dieser Fall nun ein, wird der Algorithmus mit der Realität abgeglichen. Wenn dieser Zeitpunkt laut Berechnung eigentlich schon viel früher hätte eintreffen müssen, wird der Algorithmus mit dem aktuellen Wert upgedatet. Die Rückmeldung aus der Anlage macht die Berechnung der Restlebensdauer daher viel präziser.
Wie funktioniert das bei den Offline-Varianten?
Richard Habering: Der Algorithmus zur Berechnung der Lebensdauer bleibt bei uns im Haus. Daher spielen wir bei der Offline-Variante ab Werk verschiedene Parameterlisten für die Lebensdauerberechnung auf die Geräte. Damit hat das Gerät eine Startkonfiguration, basierend auf den Angaben bei der Bestellung. Erkennt das Gerät, dass die bei der Projektierung angegebene Geschwindigkeit, Dynamik und Temperatur nicht mit der Realität übereinstimmen, werden diese Abweichungen notiert und eine Meldung ausgegeben: Achtung, ich bräuchte mal ein Update!
In diesem Fall sollte der Betreiber das Gerät mit dem Internet verbinden, damit sich unsere Applikationstechniker aufschalten und einen Abgleich vornehmen können. Nachdem die geänderten Parameterlisten aufgespielt sind, kann die Überwachung dann wieder scharf geschalten werden.
Ganz offline geht es also nicht?
Richard Habering: Wir arbeiten bereits an zusätzlichen Updatemöglichkeiten, etwa per USB-Stick, SD-Karte oder per App und drahtlosem Protokoll. Was wir realisieren, hängt auch davon ab, was der Kunde will.
Müssen Sie bei Ihren Kunden noch viel Überzeugungsarbeit beim Thema isense leisten?
Richard Habering: Aufgrund der Data Security und den Ängsten vor Cyber-Attacken sind die Anwender sehr unsicher was die Cloud-Anbindung betrifft. Daher haben wir auch die Offline-Variante entwickelt.
Eigentlich kämpfen Sie an zwei Fronten. Einerseits beim Endanwender, bei dem die Livedaten entstehen, und andererseits beim Maschinen-/Anlagenbauer. Ihn interessieren vor allem die Mehrkosten durch isense und weniger die Vorteile im späteren Betrieb.
Richard Habering: Im ersten Moment nicht, das ist richtig. Tatsächlich waren alle großen Maschinenbauer der ganzen Sache erst mal eher skeptisch eingestellt. Ein weltweit operierender Kunde hat 2017 den Anfang gemacht nachdem wir ihm das System vorgestellt hatten. Er schrieb diese Technologie in seine Lastenhefte. Das hat viele Maschinenbauer dazu gebracht, sich damit zu beschäftigen. Die ersten sind bereits dabei Test-Systeme zu installieren. Denn iSense schafft die Möglichkeit, den Servicebedarf vorausschauend zu erkennen und proaktiv anzubieten. Die Zahl der Maschinenbauer steigt derzeit, die das verstanden haben und umsetzen wollen.
Konservative Maschinenbauer kommen wiederum auf uns zu, wenn ihre Endkunden solche Technologien vorgeben und deren Einbau explizit fordern.
Wenn Sie von Wartung sprechen, was genau kann ich denn bei einer Energiekette reparieren?
Richard Habering: In den meisten Anwendungen heißt Wartung Ersatz. Es sei denn, ich vereinbare mit dem Kunden andere Parameter. Für Kräne gibt es oft Wartungsvorschriften, bei denen das Spiel der Kettenglieder regelmäßig zu messen ist oder die Einhaltung bestimmter Positionen geprüft werden muss. Unsere Technologie deckt solche Aufgaben teilweise ab, so dass sich die Wartungsintervalle an Kränen verlängern. Das ist für einen Hafenbetreiber dann bares Geld.
Neben den Energieketten überwachen Sie auch Leitungen.
Richard Habering: Wir haben dafür zwei Lösungen entwickelt. Mit der Leitungsüberwachung CFQ von Anfang 2016 messen wir die elektrischen Eigenschaften der Leitung im Betrieb. Dafür benötigen wir allerdings zwei Adern bzw. Messleitungen.
Welche Parameter werden erfasst?
Richard Habering: Primär Strom und Spannung aber auch die Temperatur. Daraus leiten wir den Zustand ab und vergleichen die Werte mit unseren Laborergebnissen. Die Ergebnisse sind wieder ein Indikator für den Verschleiß.
Und auf der Hannover Messe wurde eine Weiterentwicklung vorgestellt?
Richard Habering: Mit dem CFD erweitern wir die Leitungsüberwachung auf Kommunikationsleitungen, genauer Ethernet-basierte Systeme.
Damit messen sie Übertragungsparameter der Busleitungen?
Richard Habering: Das wäre zu aufwendig. Es gibt andere Indikatoren, die viel leichter zu messen sind. Wir erfassen die Anzahl verloren gegangener Pakete. Die stehen in direktem Zusammenhang mit dem mechanischen Stress der Leitung oder dem schlechter werdenden Übertragungsverhalten des Steckers. Es ist immer noch so, dass die meisten Busleitungsausfälle am Stecker passieren, nicht an der Leitung.
Woran liegt das?
Richard Habering: Problematisch sind dabei die Stecker auf den bewegten Anlagenteilen. Hier treten immer Vibrationen auf, die auf Dauer den Messerkontakten der Stecker zu schaffen machen.
Wie erfährt denn der Instandhalter von den Problemen mit den Leitungen?
Richard Habering: Die Krux ist, dass Leitungsstörungen sehr oft sporadisch auftreten. Das Modul registriert so einen Aussetzer und signalisiert ihn per LED.
Die LED sieht der Instandhalter aber nur, wenn er den Schaltschrank öffnet. Diese Info gehört doch aufs Bedienpanel der Maschine, in die Alarmliste der Visualisierung oder per Mail verschickt.
Richard Habering: Bei der Alarmierung sind wir sehr flexibel. Bei der Offlinelösung wird das Signal intern verarbeitet und die Nachricht rausgeben via OPC UA. Auf der Hannover Messe hatten wir eine Demo, bei der die Restlebensdauer auf einem Siemens-Panel angezeigt wurde. In der Online-Variante meldet das Gerät über das iCOM-Modul die Störung in die Cloud und von dort weiter. Online bedeutet, wir schicken sämtliche Sensordaten in die Cloud, arbeiten in der Cloud mit Analytics, generieren in der Cloud die Fehlermeldungen und schicken diese per Email, direkt in unser Warenwirtschaftssystem oder auch per SMS zum Betreiber oder direkt von unserer Cloud zur Kunden-Cloud.
Wie sieht es mit der Überwachung von Schlauchpaketen an Robotern aus? Die werden doch auch ziemlich strapaziert.
Richard Habering: Grundsätzlich ist das CF.D-System zur Leitungsüberwachung ein guter Ansatz, um auch Roboterschlauchpakete zu überwachen. Denn hier treten oft Probleme mit Busleitungen auf. Darüber hinaus arbeiten wir an Überwachungslösungen für die 3D-Energieketten, die Triflex-Baureihe. Aber wir brauchen ja auch noch Neuigkeiten für die nächste SPS oder HMI.
Wo sehen Sie die Grenzen von smart plastics?
Richard Habering: Wenn ich mir vorstelle, was wir seit Anfang 2018 mit unserem Online-/Cloudkonzept angedacht haben und wie viel wir in dem einen Jahr gelernt haben, sehe ich momentan keine Limits.
Meine Vision ist, dass sich smart plastics bei jeder unserer Baureihen mit einem Klick im Konfigurator auswählen lässt und ich bin überzeugt, dass sich in fünf Jahren kein Produkt mehr verkauft, das keine Auskunft über seine eigene Befindlichkeit gibt. Vielleicht sind fünf Jahre zu optimistisch, aber Kunden werden das zukünftig verlangen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Richard Habering: Wir wollen das smart plastics-Portfolio einfacher bestellbar und konfigurierbarer machen. Dazu gehört aus meiner Sicht, dass der Kunde selbst projektieren kann. Dazu müssen wir die Technologie vereinfachen und in mehr Produkte einbauen. Nach den Energieketten und dem ersten Kunststoff-Lager stehen weitere Iglidur-Buchsen und die Linearführungen auf der Roadmap. Allerdings ist hier die Aufgabenstellung nochmals anders. Bei dem Low-Cost-Produkt wie einem Lager, dürfen Sensorik und die Auswerteelektronik nicht ein vielfaches kosten. Das ist für die Akzeptanz ebenfalls entscheidend.
Das Interview führte IEE-Chefredakteur Stefan Kuppinger.
(sk)