Bedienkomfort, Produktsicherheit, Ergonomie und Verfügbarkeit sind einige der Argumente, die sowohl in der Medizintechnik als auch in der Industrie für den Einsatz drahtloser Energieübertragungssysteme sprechen. Die zunehmende Miniaturisierung von Sensorik-, Aktorik- und Mechatronikkomponenten, die eine flexible und gleichzeitig hoch verfügbare Energieversorgung benötigen, befeuert diesen Trend zusätzlich. Ein weiterer Treiber ist auch die Hightech-Strategie Industrie 4.0 der Bundesregierung. In dieser vierten Stufe der industriellen Revolution verschmelzen Produktions- und Internet-Technologien kommunikationstechnisch miteinander – und die jeweiligen Cyber-Physischen Systeme (CPS) müssen jederzeit mit ausreichend Energie für Sensor-, Aktor- und Datenübertragungsfunktionen versorgt sein.
Das von Wittenstein Intens entwickelte, berührungslose Energieübertragungssystem nutzt elektromagnetische Felder, um einem Gerät die notwendige elektrische Energie zuzuführen. Sie wird auf induktivem Weg eingekoppelt. Die so in die Empfängerspule induzierte Spannung löst einen Stromfluss in der angeschlossenen Last aus – es wird Energie übertragen. Die Resonanzkopplung der Schwingkreise von Sender- und Empfängerspule verbessert dabei die Effizienz der Energieübertragung. Bei Anwendungen bei aktiven Implantaten wird die Sendespule in der Regel auf die Haut aufgesetzt. Die Empfängerspule sitzt unter der Haut im Fettgewebe oder in einer äußeren Muskelschicht. Die Energieübertragung erfolgt – ohne Reizungen oder Schmerzen – durch das Gewebe hindurch. Auch Systeme außerhalb des Körpers oder Handgeräte im Operationssaal mit vollständig gekapselten Gehäusen lassen sich per Induktion drahtlos mit Energie versorgen. Analog dazu können die Akkus von Sensoren, Antrieben und mechatronischen Systemen im Industrieumfeld kabel- und kontaktlos aufgeladen werden.
Finite-Elemente-Simulation sorgt für hohe Wirkungsgrade
Sowohl in medizintechnischen als auch in industriellen Anwendungen bestimmt der jeweilige Einsatzfall maßgeblich die Ausführung der Empfängerspule mit Luft- oder Ferritkern, die optimale Größe, die Ausrichtung von Sender- und Empfängerspule, die Distanz der Energieübertragung sowie die erforderliche Leistung und Betriebsspannung. Bei Implantaten im menschlichen Körper kommt erschwerend hinzu, dass sich die eingesetzte Spule durch Bewegungen des Menschen in ihrer Lage und Ausrichtung leicht verändern kann. Dieses Problem gibt es auch in der Industrie: Mechanische Führungstoleranzen in automatisierten Handlingsystemen können sich mit der Zeit verändern. Stehen jedoch die Anfangsparameter fest und sind die möglichen kritischen Einflussfaktoren im Praxiseinsatz bekannt oder abschätzbar, ermitteln die Entwickler von Wittenstein Intens mittels Finite-Elemente-Simulationen die geeignete Spulengeometrie und passen die Systemauslegung an den Einsatz an. Der Einfluss geometrischer Verschiebungen und Abweichungen sowie die Auswirkungen leitender Materialien lassen sich so kompensieren. Wirbelstromverluste und Störeinflüsse haben so keine Chance. Auch bei Winkelfehlern und Spulenversatz lassen sich Wirkungsgrade von über 90 % erreichen.
Batteriegestütze Technologien mit begrenzter Lebensdauer wie Herzschrittmacher oder Unterstützungssysteme für Organe, Muskeln oder Nerven, bei denen zur Energieversorgung ein Kabel durch die Haut nach außen geführt werden muss, sind problematisch. Sie können den Patienten behindern und die Eintrittsstelle des Kabels kann sich entzünden. Aktive Implantate mit einer typischen Leistungsaufnahme zwischen 1 und 5 W profitieren mit drahtloser Energiezufuhr von zwei Dingen: Zum einen entfällt zur Energieversorgung das Kabel durch die Haut; zum anderen werden in den komplett Kunststoff-gekapselten Implantaten die Batterien durch aufladbare, Lithium-Ionen-Akkus mit hoher Energiedichte ersetzt. Bei Bedarf sind die Akkus Bestandteil eines intelligenten, in das Implantat integrierten, Lade- und Energiemanagement-Konzeptes. Dieses kann so ausgelegt sein, dass lediglich Strom und Spannung überwacht werden. Es ist aber auch möglich, komplexe Informationen über die Akku- und Umgebungstemperatur, den Ladezustand oder das Verbrauchsverhalten in das Lade- und Energiemanagement mit einfließen zu lassen. Auch die Alterung der Akkuzellen lässt sich vorausberechnen und so die Ladeparameter laufend anpassen.
Wachstumsmarkt Medizintechnik
Aktive Implantate im Kommen
Die Medizintechnologie ist ein weltweiter Wachstumsmarkt, der sich auf rund 220 Milliarden Euro beläuft. Davon entfallen 90 Milliarden Euro auf die USA und 65 Milliarden Euro auf Europa. Der Gesamtumsatz der produzierenden Medizintechnik-Unternehmen in Deutschland steigerte sich im Jahr 2012 um 4 % auf 22,2 Milliarden Euro. Der medizintechnische Fortschritt, die demografische Entwicklung mit immer mehr Menschen im hohen Alter sowie der erweiterte Gesundheitsbegriff werden dafür sorgen, dass dieses Wachstum anhält. Der Bedarf an Gesundheitsleistungen wird weiter steigen. Zudem sind Patienten immer mehr bereit, in ihre Gesundheit zu investieren.
Für verschiedene Anwendungen anpassen
Von der berührungslosen Energieübertragung können viele medinzintechnische Mechatroniksysteme profitieren: Retina-Implantate (künstliche Netzhaut), Miniatur-Magnetventile zur Hirndruck-Steuerung oder Hüftgelenke, die zum Beispiel mit Sensorik zur Belastungsmessung ausgestattet werden können. Sie alle werden mit einer Spannung zwischen 8 und 24 V in einem Frequenzband von 80 bis 300 kHz mit Energie versorgt. Dieser Frequenzbereich ergibt sich aus verschiedenen Einflussgrößen: Der Gewebeverträglichkeit, der Baugröße der Übertragungsspulen, dem elektromagnetischen Absorptionsverhalten subkutaner Fettgewebe und Muskelschichten, der Minimierung von Wirbelstromverlusten und der zulässigen Erwärmung elektronischer Komponenten gemäß ISO 14708-1 ‚Chirurgische Implantate − Aktive implantierbare medizinische Geräte‘. Zudem ist das Energieübertragungssystem für aktive Implantate CE-konform und erfüllt die Anforderungen der EN 60601, welche Sicherheitsanforderungen und ergonomische Forderungen an medizinische elektrische Geräte und in medizinischen Systemen definiert.
Industrie 4.0 benötigt autarke und autonome Produktionsmittel
Während sich medizintechnische Anwendungen für die drahtlose Energieübertragung in einer Leistungsklasse bis 5 W bewegen, ist zum Antrieben von autonomen Werkstückträgern oder autarken Roboterachsen deutlich mehr Energie erforderlich. Wittenstein fokussiert seine Entwicklungskonzepte für industrielle Applikationen auf einen Leistungsbereich von bis zu 5 kW. Die Steigerung der Energieübertragung alleine reicht jedoch nicht aus – ein eigens entwickeltes modulares Energiespeicher-Management kommt ebenfalls zum Einsatz. In diesem Konzept ergänzen Superkondensatoren, sogenannte Supercaps, die Lithium-Ionen-Akkus. Die Vorteile dieser passiven elektronischen Bauelemente sind hohe Kapazitätswerte bezogen auf das Bauvolumen und eine große Leistungsdichte. Somit sind hohe Lade-/Entladeströme und mehr als eine Million Ladezyklen möglich. Im Gegensatz dazu sind die maximal möglichen Lade-/Entladezyklen bei Akkus – typischerweise wenige tausend – schnell erreicht. Damit eignen sich die Supercaps auch als Speichermedium für die rückgewonnene Energie, die zum Beispiel beim Abbremsen einer Roboterachse entsteht. In das Energiespeicher-Management für die drahtlose Leistungsübertragung sind die Supercaps daher nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der Akkumulatoren integriert – das führt zu einer hohen Zuverlässigkeit und großen Zyklusfestigkeit. Das Energiespeicher-Management übernimmt das symmetrische Laden aller Akku- und Supercap-Zellen, sorgt für eine gleichmäßige Ladung und schützt vor Überladungen.
Energie für Cyber-Physische Systeme
Um Arbeitsabläufe schneller, effizienter und flexibler zu gestalten, müssen Cyber-Physische Systeme (CPS) in der mitdenkenden Produktion auch miteinander kommunizieren und je nach Ausführung auch sensorische oder aktorische Funktionen übernehmen – wofür sie Energie benötigen. Die drahtlose Übertragung ist hier im Vorteil: Sie ist nicht verschleißanfällig wie Schleppketten und kennt keine störenden Kabel, die die Mobilität von CPS beeinträchtigen. So lassen sich Regalbediengeräte in Hochregallagern mit mehreren autonomen Lastaufnahmemitteln ausrüsten, die dann als mobile Shuttles in Regalfächer ein- und ausfahren, um Paletten abzusetzen oder aufzunehmen. Kommt das Regalbediengerät – nachdem es zwischenzeitlich andere Transporte erledigt hat – erneut an das Lagerfach, übernimmt es das Shuttle wieder und setzt es zum Beispiel am Übergabepunkt zur Vorzone des Hochregallagers ab. Auch in der Produktion von Strangpressprofilen oder anderen Endlosmaterialien ist die drahtlose Energieübertragung von Vorteil: Hier lassen sich sogenannte Fliegende Sägen ohne störende und verschleißanfällige Versorgungskabel bewegen. Die auf den Bearbeitungsvorgang synchronisierte Säge fährt während des Sägeprozesses parallel mit dem Material mit und kehrt nach dem Sägen automatisch in die Startposition zurück. In automatisierten Montageprozessen erlaubt die berührungslose Energieübertragung, intelligente Werkstückträger einzusetzen, die Kennzeichnungs- und Bearbeitungsdaten zwischenzuspeichern und Sensoren sowie Aktoren aktiv zu betreiben – beispielsweise bei der automatischen Temperaturerfassung oder der elektromechanischen Feinausrichtung des Werkstücks auf dem Montageträger. Der Trend zur verstärkten Automatisierung, zum Aufbau intelligenter Monitoringsysteme, zum Nutzen von Optimierungspotenzialen in der Produktion sowie zur Steuerung von Wertschöpfungsketten in Echtzeit mit autonomen Entscheidungsprozessen wird zahlreiche weitere Anwendungsfelder erschließen.
(mf)