Herr Finstel, seit Anfang 2019 sind Sie als Associate Vice President & CTO Embedded IoT Europe bei Advantech. Was möchten Sie mit und für Advantech erreichen? Welches ist Ihr klares Ziel bzw. sind Ihre klaren Ziele?
Dirk Finstel: Ich möchte in den nächsten fünf Jahren den Umsatz in Europa verdoppeln. Das gelingt nur mit neuen Partnern und Mitarbeitern. Doch gerade letzteres ist in der aktuellen angespannten Marktsituation für Fachkräfte – daran hat Corona nichts geändert – ein schwieriges Unterfangen und deswegen sind momentan eher Maßnahmen zur Effizienzsteigerung angesagt, um diesen Balanceakt zu realisieren.
Wir sind in Bezug auf Umsatz, Größe und Anzahl von Produkten weltweit die Nummer 1, aber wir haben in Europe noch nicht alle Spitzenplätze besetzt, außerdem werden wir noch nicht in allen vertikalen Märkten als signifikanter Player wahrgenommen. Das will ich ändern. Unser Ziel ist es: Wir wollen in Europa die absolute Nummer 1 im Embedded-Bereich sein, aber auch in weitere Wertschöpfungsketten expandieren, um unseren Kunden Mehrwert bieten zu können. Das heißt: Wir wollen auch der größte Embedded-IoT-Player werden. Mit unserer Hilfe sollten Kunden ihre Unternehmen in die digitale Zukunft überführen können und diese Aufwände aufgrund der von uns zur Verfügung gestellten Software und Hardware einsparen. Das wird eine große Herausforderung, da das Gros unserer Kunden erst langsam bereit ist, die Digitalisierung komplett in ihren Unternehmen zu implementieren und entsprechende digitalisierte Prozesse aufzusetzen.
Wodurch unterscheidet sich Advantech von seinen Mitbewerbern, bzw. was macht Advantech in puncto IoT /IIoT besser oder anders als die Mitbewerber?
Dirk Finstel: Als führender Anbieter verfügt die Advantech Embedded-IoT Group nicht nur über das breiteste Angebot für Embedded-Produkte, -Lösungen und Design-in Services. Advantechs integrierte IoT-Lösungen beinhalten alles vom Sensor-(Knoten) über Edge Computing Devices, Gateways und bis zur WISE-PaaS- oder Microsoft-Azure-IoT-Cloud-Plattformen und vieles mehr. Mit einer mehr als 25-jährigen Vor-Ort-Präsenz und inzwischen mehr als 550 Mitarbeitern in den europäischen Ländern, bietet Advantech u.a. lokale Vertriebs- und Projektberatung, Design-In- und Entwicklungs-Dienstleistungen, sowie technischen Pre- und After-Sales Support. Wir betreuen hier vor Ort unsere Kunden in ihrer Landessprache und in der gleichen Zeitzone. Wir sind damit stärker und breiter aufgestellt als alle unserer Wettbewerber und ein großer Teil der IoT Middleware wird mittlerweile von unseren deutschen Entwicklungszentren entwickelt und unterstützt.
Außerdem haben wir uns als ehemals klassischer Hardware-Hersteller intensiv darauf konzentriert, die Komplexität der Lösungen, vor allem in Bezug auf Software, Cloud-Technologien und das Deployment zu verstehen, um einen Mehrwert bieten zu können.
Deswegen investiert Advantech seit Jahren in eine eigene Open-Source-IoT-Plattform und diese Erfahrung bringen wir immer stärker in Kundeprojekte ein. Darüber hinaus helfen wir Kunden mithilfe von Solution Ready Platforms, schneller am Markt zu sein. Und natürlich können wir als Advantech dem Kunden schon heute „Building Blocks” aus Hard- und Software anbieten, die helfen eine kombinierte IoT-AI-Lösung zu schaffen. Hierzu gehören fertige Plattformen wie Gateways, Embedded-Box-PCs (oder Edge Computing Devices) und VPU-Module aus der Vega-Produktlinie, die in Verbindung mit den passenden Software-Modulen das Remote/Device Management übernehmen. Funktionen wie Update, Upgrade, Fernsteuern und die Kontrolle von Datenspeicherung und Übermittelung, Sicherheit und Schutz sowie die Anbindung an die Cloud - zum Beispiel Azure, AWS und andere - sind heute schon möglich. Hierfür haben wir eine eigene Serverinfrastruktur in München aufgebaut, um die Europäischen Sicherheitsrichtlinien umzusetzen und wir haben eine dedizierte Abteilung in München, die sich ausschließlich mit diesen Themen beschäftigt und kontinuierlich neue Lösungen in Zusammenarbeit mit unseren Kunden schafft.
Wie realistisch ist die Verschmelzung von IoT und KI zu AIoT?
Dirk Finstel: Ich denke, im ersten Ansatz sind die beiden Technologien erst mal unabhängig voneinander anwendbar. Aber eine zukünftige Fusion ist mehr als nur realistisch. Sie ist letztendlich unvermeidlich, da sich beide Technologien nicht völlig unabhängig voneinander weiterentwickeln können. Das IoT ist in der Lage, große Datenmengen zu sammeln und diese Daten zur Analyse harmonisiert zusammenzuführen. Dies ist von grundlegender Bedeutung für KI-Prozesse. KI kann nur dann einen Mehrwert schaffen, wenn sie schnell und effektiv die richtigen Entscheidungen unter den richtigen Umständen trifft. Der einzige Weg, eine gute KI-Modellierung zu erstellen, ist die Nutzung großer Mengen realer Daten. Das Schöne an einer echten IoT-Architektur mit integriertem Edge-Computing-Teil ist, dass die KI-Algorithmen dann in die Edge-Komponenten ausgelagert werden können. So lässt sich das Gesamtsystem hinsichtlich Latenz und Bandbreite optimieren. Dadurch erhalten wir das Beste aus beiden Welten, nämlich Zugang zu großen Mengen an „Live“-Daten, mit der Option, gleichzeitig den Overhead zu reduzieren und die Abhängigkeit des Cloud Computing von niedrigen Latenzzeiten zu verringern. Die neuen Standards für Connectivity wie WI-FI6 oder 5G sind hierbei essenziell wichtig
Eine Verschmelzung von IoT und KI ist unvermeidlich.
Hierzu hat Advantech Rechenleistung, Connectivity und Sensorik kombiniert und eine AI-Plattform kreiert. Diese arbeitet auf der WISE-PaaS-Cloud-Plattform in Verbindung mit einem AI-Plug-in von Microsoft oder unseren Vega-Modulen die auf Intel oder Nvidia basieren. Die AI-Suite verschiedener Partner sind sehr leistungsfähig und können alle Daten, die von Advantech-Systemen in die Cloud gebracht werden, äußerst effizient und schnell verarbeiten und analysieren. In den letzten Jahren stand in diesem Zusammenhang die Hardware meistens im Vordergrund, das hat sich gewandelt. So ist heute eher die Softwareintegration auf die IoT-Plattform das Wichtigste. Dabei müssen Fragen beantwortet werden wie: Wie bekomme ich die Software-Applikation auf die Plattform? Wie können diese Daten auch wirklich effizient prozessiert werden? Und letztendlich müssen die Informationen im ERP-System oder im Business-Prozess des Kunden landen - das ist die nächste große Challenge.
Gibt es aktuell schon erste Ansätze? In welchem Umfeld erwarten Sie die meisten Anwendungen?
Dirk Finstel: Der Markt für kombinierte IoT- und AI-Lösungen steht erst am Anfang und wir sehen weitere zwei bis drei Jahre in denen sich der Markt signifikant weiterentwickeln wird. Es existieren heute bereits erste Ansätze, was an dem Beispiel „Automated Pass Control“ (APC) an vielen Flughäfen zu sehen ist. Dabei werden Daten über Kameras erfasst, dann über ein Edge Device und ein Gateway zu einem zentralen Server übermittelt, dort per Software automatisch ausgewertet und mit einer entsprechenden Aktionsanweisung an das Edge Device in den Automaten rückübermittelt. Wir werden in der Zunft aber noch in vielen weiteren Bereichen diese Verschmelzung von IoT Devices und AI zu sehen bekommen. Typische Anwendungen, gerade getrieben durch die Corona-Pandemie sind Self-Service-Applikationen im Retail- und Digital-Signage-Märkten für Indoor– und Outdoor-Anwendungen. Zusätzliches Wachstum erwarte ich zum Beispiel auch im Umfeld von Security, Automotive, Smart Home, und auch in der Medizintechnik, ganz besonders im Bereich Healthcare. Zu beachten ist hier in jedem Fall die Anwendung des Datenschutzes, insbesondere bei Applikationen mit Personenerkennung in öffentlichen Bereichen. Hier gilt es, mögliche Interessenkonflikte zu lösen. Werden beide Schlüsseltechnologien IoT und AI verschmolzen, ergibt sich so eine wesentlich höhere Transformationskraft.
Es gibt z.B. auch sehr datenintensive Anwendungen, die für klassische Standardprodukte nicht unbedingt optimiert sind (AIoT). Limitierungen kommen im Bereich der Speicher-Bandbreite, der verfügbaren IO-Bandbreite und nicht zuletzt hinsichtlich der Optionen für hoch performante, ausreichend große und zuverlässige Massenspeicher zu Tage. Gerade Massenspeicher sind in vielen Embedded-Anwendungen traditionell für Betriebssystem, Anwendungsprogramme und nur für wenige dynamische Daten vorgesehen. Hier hat Advantech bereits sehr interessante kundenspezifische Lösungen realisiert – mit unseren eigenen SSD-Produkten. Die Anzahl solcher und ähnlicher Applikationen wird zukünftig sicher zunehmen.
Welches sind die größten Vorteile, die sich aus der Verschmelzung der Schlüsseltechnologien von IoT und AI ergeben?
Dirk Finstel: IoT und KI erfordern die perfekte Symbiose aus Datenerfassung, -Übertragung und -Verarbeitung. Anders ausgedrückt, Sensoren, die direkt oder über ein Gateway in der Cloud initialisiert werden, wireless connectivity der neuesten Generationen zur Realtime-Datenkommunikation, Edge Computing Devices, die lokale Teilaufgaben der KI übernehmen, lokale Serversysteme und die Cloud selber. Diese Daten effizient und skalierbar mit AI-Algorithmen zu verbinden und Entscheidungen automatisch, dynamisch oder fallbasierend ableiten zu können, generiert eine neue Kategorie von Applikationen und Endgeräten, die heute oder in der Vergangenheit nicht denkbar waren. Unsere Philosophie ist es, alle diese Teilbereiche abzudecken und als funktionierendes Gesamtsystem von verknüpften und aufeinander abgestimmte Hard-Software-Komponenten dem Kunden zur Verfügung stellen zu können, sodass große Investitionen und Aufwände bei unseren Kunden minimiert werden können.
Wo steht Europa in diesem Bereich?
Dirk Finstel: Generell ist Europa im Schlüsselbereich von KI nicht auf dem Niveau der Amerikaner oder von China. Wir haben hier, durch nicht getätigte Investitionen, einen Zukunftsmarkt im Bereich des Halbleitermarktes verloren. Aber im Bereich Software besteht noch Hoffnung. Und dies ist auch der signifikante Mehrwert, den Europa für Ihre lokalen Kunden liefern kann, da die Standardisierung von Hardware auch in diesem Bereich nicht aufzuhalten ist. Die Anzahl von KI-Start-ups in Europa steigt ständig und dies ist ein sehr gutes Zeichen, da es für unsere europäischen Kunden sehr wichtig sein wird, hier den Anschluss nicht zu verpassen.
Europa ist im Schlüsselbereich von KI nicht auf dem Niveau der Amerikaner oder von China.
Aber im klassischen Industriebereich findet bereits eine Evolution hin zu IoT und AI statt. Durch die Verschmelzung von IoT und AI werden aber auch völlig neue Lösungen möglich, die insbesondere von Software- und Cloud-orientierten Neukunden entwickelt werden. Bestehende Kunden für Embedded Computing werden sowohl ihre heutigen Applikationen und Lösungen erweitern und anpassen, als auch neue Applikationen und Lösungen entwickeln, um den neuen und stetig wachsenden Anforderungen der Märkte gerecht zu werden. Unternehmen, die sich heute ausschließlich um Software kümmern, werden durch das Zusammenwachsen der beiden Themenbereiche zu potenziellen neuen Kunden. Hier liegt die Chance für den europäischen Markt, die neuen Technologien gewinnbringend in die traditionellen starken Märkte wie beispielsweise den Maschinenbau anzuwenden.
Wie helfen Sie Ihren Kunden eine kombinierte IoT-AI-Lösung zu schaffen?
Dirk Finstel: Erst mal muss ein Hardware-Hersteller die Komplexität der Lösungen, vor allem in Bezug auf Software, Cloud-Technologien und das Deployment verstehen, um einen Mehrwert bieten zu können. Darüber hinaus helfen wir Kunden mithilfe von Solution Ready Platforms, schneller am Markt zu sein, die alle HW und SW Building Blocks enthalten, um eine kombinierte IoT und AI -Lösung schnellstmöglich zu realisieren. Unsere Kunden brauchen sich „NUR“ noch auf die finale Applikation zu konzentrieren, da wir die HW/SW-Integration schon vorgenommen haben. Diese „SRPs“ sind für verschiedene vertikale Märkte vorhanden, um den unterschiedlichen Anforderungen an Sensoren, Formfaktoren, Temperatur, etc, Rechnung zu tragen.
Sind Ihre Kunden schon bereit, Digitalisierung komplett in Ihren Unternehmen aufzunehmen, insbesondere mittelständische Unternehmen?
Dirk Finstel: Hier ergibt ich ein sehr uneinheitliches Bild in Europa, es gibt Kunden und Branchen, die dies auf Ihrer Agenda haben und dies auch voranbringen, insbesondere in den Märkten, in denen die Produktivität, Effizienz und der Kapitaleinsatz durch die digitalisierten Businessmodelle stark verbessert werden können, wir nennen diese Fast-Pacer oder Early Adopters. Dann gibt es die sehr konservativen Branchen, welche sich damit beschäftigen, aber noch keine wesentlichen Schritte unternommen haben, die gleichen Produkte bestellen wie vorher und Neuerungen kritisch gegenüberstehen. Die dritte Gruppe kann noch nicht vorangehen, da diese noch keine Wertschöpfungskette entwickelt hat, wie die digitalisierten Modelle dann monetarisiert werden können, um die Investitionen zu kompensieren. Dies ist auch verständlich, da die Kette bis zum Endkunden schlüssig sein muss, da ohne Mehrwert die Digitalisierung von Prozessen nicht umsetzbar und auch nicht wirtschaftlich ist. Insgesamt sehen wir aber eine allmähliche Durchdringung und die Pandemie hat diese in vielen Branchen sogar beschleunigt.
Was erwarten oder verlangen Ihre Kunden von Advantech?
Dirk Finstel: Erstens erwarten unsere Kunden eine hohe Kompetenz in der Lösungsverantwortung, welche Digitalisierungsmodelle für Ihre Branchen und Produkte infrage kommen. Zweitens erwarten sie eine skalierbare und langfristige Verfügbarkeit dieser Komponenten, sei es Software oder Hardware. Proprietäre oder Insellösungen finden heute keine Akzeptanz mehr, da das Risiko für den Kunden zu hoch wäre, hier ein Investment einzugehen, die Dynamik in der IoT-Branche ist eine wesentlich höhere als in der Hardware-Welt. Drittens muss die Zuverlässigkeit dieser Lösungen auf einem hohen Niveau angekommen sein, um eine stabile Funktion in der Applikation zu gewährleisten. Da wir als globales Unternehmen diese Voraussetzungen nachweisen können, ist die Akzeptanz unseres Lösungsansatzes mit den Marktführern zu gehen, Open Source zu favorisieren und des Building Block Models bei unseren Kunden sehr hoch. Hier ist natürlich noch viel zu tun, aber wir haben die Herausforderung angenommen, diesen technologisch anspruchsvollen Markt für uns zu gewinnen.
Wie sind Sie bisher durch die Pandemie gekommen?
Dirk Finstel: Wir, als Advantech Europa, haben frühzeitig Schutzmaßnahmen für unsere Mitarbeiter getroffen und uns auf die „Work from Home“ -Situation vorbereitet. Wir haben massiv in die sichere digitale Infrastruktur investiert, um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Prozesse zu gewährleisten. Dies hat am Anfang zu Verzögerungen geführt, da auch unsere Kunden diese Prozessänderungen durchführen mussten, aber heute sind wir effizienter denn je. Wir sind zum Glück von massiven Infektionen verschont geblieben. Weltweit hatten wir nur etwa 20 Fälle. Dies bestätigt unsere Vorsorgemaßnahmen und wir werden weiterhin alles Notwendige tun, um unsere Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten zu schützen.
Als Unternehmen sind wir relativ unbeschadet durch das Jahr 2020 gekommen mit einem Null-Wachstum, aber weiterhin sehr profitabel, für 2021 haben wir wieder Wachstum geplant, welches sich durch die aktuelle globale Allokation von Komponenten schwierig gestaltet, aber ich bin da noch optimistisch dieses Ziel zu erreichen.
Was muss noch gesagt werden, beziehungsweise was liegt Ihnen persönlich noch besonders am Herzen?
Dirk Finstel: Ich wünsche mir, dass wir alle bald wieder zu einem normalen Leben zurückkehren können.
Wie lauten Ihre persönlichen Visionen?
Dirk Finstel: Ich möchte eine Milliarde Euro Umsatz in 2030 in Europa erreichen. Advantech soll Nummer 1 in Europa werden und zwar nicht nur vom Umsatz her gesehen, sondern auch in allen vertikalen Märkten. Weiterhin soll Advantech einer der signifikanten Player im Bereich Industrial IoT und AI sein und unter den Top 5 in Europa rangieren. Weiteres Ziel ist es, zu den Top 10 Arbeitgebern in der Branche zu gehören.