Eine gängige Aufgabenstellung für ein Zweikanal-Messgerät ist es, Einpressvorgänge zu überwachen. Dazu werden ein Kraft- und ein Wegsensor an das Messgerät angeschlossen. Während des Einpressens misst es kontinuierlich die aufgebrachte Kraft sowie den zurückgelegten Weg. Anschließend trägt es beide Messgrößen in ein kartesisches Koordinatensystem ein, wodurch die charakteristische Messkurve entsteht. Diese gilt es nun zu bewerten. Dazu verwenden die etablierten Mess­geräte in der Regel ein sogenanntes Bewertungsfenster. Das ist üblicherweise ein rechteckiges Gebilde mit definierter Breite und Höhe sowie einer definierten Lage im Koordinatensystem. Außerdem ist das Fenster zusätzlich mit bestimmten Bedingungen verknüpft. Dazu gehören unter anderem:

  • Die Messkurve muss auf einer definierten Seite des Bewertungsfensters eintreten und auf einer definierten Seite des Bewertungsfensters wieder austreten. Dies nennen die Messgeräte-Hersteller im Allgemeinen ‚Durchlauf-Fenster‘.
  • Die Messkurve muss an einer definierten Seite in das Bewertungsfenster eintreten, darf aber nicht wieder austreten. Dies dient zum Überprüfen der Messkurven-Endlage. Bei den Geräteherstellern heißt dies häufig ‚Block-Fenster‘.
  • Die Messkurve darf nicht in das Bewertungsfenster eintreten, sogenannte Nicht-Fenster.
  • Manche Hersteller bieten zusätzlich die Möglichkeit, innerhalb der Grenzen eines Bewertungsfensters bestimmte Berechnungen durchzuführen. Dies können zum Beispiel die Steigung der Messkurve an einer bestimmten Stelle (Gradienten) oder Hysteresewerte sein.
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    Dynamo Software/Redaktion IEE

Diese Methoden sind bei den Herstellern etabliert und existieren bereits seit Jahrzehnten. Jedoch eignen sich die rechteck­igen Bewertungsfenster oft nicht für das Erfassen des tatsächlichen Verlaufs der Messkurve. Wenn sie das Bewertungsfenster beispielsweise von links nach rechts durchlaufen soll (Durchlauf-Fenster), muss das Bewertungsfenster bei einem gewissen Anstieg der Messkurve sehr schmal sein. Dennoch bleiben die An­gaben für y-Min und y-Max kritisch, weil sie ja gleichermaßen für x-Min und x-Max gelten. Das Problem: Obwohl das Bewertungsfenster ein zweidimensionales Gebilde in einem zweidimensionalen System ist, sind die wirksamen Komponenten, zum Beispiel die Eintrittsseite, ein­dimensional, also an die X-Achse oder an die Y-Achse gebunden. Durch diesen Umstand funktionieren rechteckige Bewertungsfenster entweder nur bei sehr flach oder bei sehr steil verlaufenden Messkurven richtig. Die Messgeräte-Hersteller haben in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Ansätzen versucht, diese Problematik zu entschärfen. Ein seit einigen Jahren praktizierter Ansatz ist das sogenannte Trapez-Fenster. Dabei können entweder die linke und rechte Seite oder die obere und untere Seite eines Bewertungsfensters unterschiedlich groß sein. Dies war ein Schritt in die richtige Richtung, aber dennoch halbherzig.

So genial wie einfach

Getreu dem Ausspruch von Albert Einstein gestaltet sich die Lösung dieses Problems so genial wie einfach: Das Bewertungselement muss sich von der starren Form eines Vierecks lösen und stattdessen zu einer frei im Koordinatensystem platzierbaren Hantel werden. Dieses neue Werkzeug soll im Folgenden ‚Hantel‘ heißen, weil es eine Linie, genauer gesagt: eine Strecke, ist, die durch ihren Startpunkt und ihren Endpunkt definiert ist. Die Gewichte an den Enden der Hantel symbolisieren dabei diese beiden Punkte. Die Hantel kann orthogonal zum erwarteten Kurvenverlauf stehen, wodurch sie den gültigen Bereich günstiger eingrenzt. Die Einfachheit dieses Verfahrens wirft die Frage auf, warum die Gerätehersteller es nicht längst anwenden. Der Grund dafür liegt in der begrenzten Rechenleistung früherer Computersysteme. Bei rechteck­igen Bewertungsfenstern reicht es aus, den jeweiligen Messpunkt mit den gegebenen Grenzwerten zu vergleichen. Das ist relativ schnell erledigt. Bei dem neuen Hantel-Verfahren muss stattdessen getestet werden, ob die Messkurve die Strecke der Hantel geschnitten hat. Der Prozessor des Messgerätes hat dabei grob geschätzt den zehnfachen Aufwand pro Bewertungselement als bei einem Schwellenwertvergleich. Bei der Leistungsfähigkeit heutiger Prozessoren gibt es jedoch keinen Grund mehr, diese Art der Kurven­bewertung zu vernachlässigen. Was der Prozessor an Mehrarbeit erbringen muss, bekommt der Anwender in Form von Klarheit und Einfachheit zurück.

Fließkommaberechnungen, die benötigt werden, um die Schnittpunkte von Messkurve und Hanteln zu berechnen, lassen sich vermeiden, wenn das Verfahren das gesamte Koordinatensystem als ganzzahlige Einheiten in Auflösung der Messwandler definiert und die Linienberechnungen und Schneideberechnungen nach ganzzahloptimierten Algorithmen wie dem Bresenham-Verfahren durchführt.

Alle Hanteln, die gemeinsam die Hüllkurve bilden, liefern ein gemeinsames Ergebnis: IO oder NIO.

Alle Hanteln, die gemeinsam die Hüllkurve bilden, liefern ein gemeinsames Ergebnis: IO oder NIO.Dynamo Software

Eine Methode für alle Bewertungsfälle

Die Verwendung einer Hantel anstelle der rechteckigen Bewertungsfenster bringt aber nicht nur einen messtechnischen Vorteil, sondern für alle Aspekte der klassischen Bewertungsverfahren. Für unterschiedliche Arten der Bewertung musste man bisher jeweils ein spezielles Objekt definieren. Jede einzelne Methode wurde in jeweils einem speziell dafür geschaf­fenen Typ behandelt. Der neue Ansatz lautet: Alles wird einzig und allein mit der Hantel erledigt. Das Besondere dieser Herangehensweise ist, dass sich mehrere Arten der Bewertung in einem Objekt kombinieren lassen. Ein weiteres Konzept geistert seit Jahren durch die Branche: Hüllkurven. Verschiedene Hersteller haben sich an Lösungen dazu versucht
– oder es bei dem Versprechen einer Lösung belassen. Mit den Hanteln kann auch eine Hüllkurve ganz einfach realisiert werden. Sie entsteht, wenn mehrere Hanteln an ihren Endpunkten miteinander verbunden werden und so eine geschlossene Form bilden. Die Testbedingung kann dabei lauten, dass die Messkurve stets innerhalb oder außerhalb der Hüllkurve bleibt. Entscheidend ist, dass das Messgerät lediglich prüft, ob die Messkurve eine Hantel schneidet oder nicht. Es handelt sich also um eine ganz normale Nicht-Bedingung wie aus dem vorherigen Beispiel. Alle Hanteln, die gemeinsam die Hüllkurve formen, bilden dabei eine Gruppe und liefern ein gemeinsames Ergebnis: IO oder NIO.

Außerdem können Hanteln in Schwärmen oder Clustern auftreten. Ein Cluster besteht aus einer Vielzahl von Hanteln, die entweder miteinander verbunden sind (offenes oder geschlossenes Polygon) oder die verstreut über das Koordinatensystem verteilt liegen. Dies ist eine weitere Variante, verschiedene Bewertungskriterien für eine Messkurve zu definieren. Und falls ein Einrichter eines Prüfaufbaus die Aufgabe erfüllen soll, ein rechteckiges Bewertungsfenster zu realisieren? Er rollt mit den Augen und definiert einen Cluster mit vier verbundenen Hanteln.

Techniker im Detail

Jack Bresenham

Jack Bresenham, ein US-amerikanischer Informatiker, entwickelte für IBM in den 60er Jahren Computeralgorithmen zur Darstellung von Linien auf einem Computerbildschirm. Das zu lösende Problem bestand darin, dass ein Bildschirm aus einer endlichen Anzahl Pixeln besteht, eine geometrische Figur aber unendlich viele Punkte umfasst. Darum ist eine exakte Darstellung der Figur nicht möglich. Die Lösung besteht darin, sie durch diejenigen Pixel darzustellen, die Figur am besten approximieren. Das heißt, durch die Pixel, die am nächsten an der idealen Linie liegen. Diese bestimmt der Bresenham-Algorithmus. Er zählt auch heute noch zu den gängigen Standards, beispielsweise in Grafik-Bibliotheken.

Jens-Erich Lange

ist Inhaber der Dynamo Software e.K. in Wittenborn.

(dl)

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