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"Was wir brauchen, ist eine Zusammenarbeit gleich gesinnter Unternehmen, die Industrie 4.0 pragmatisch angehen." Stefan Körte Renate Schildheuer/Redaktion IEE

Herr Körte, wie stellen Sie sich die Umsetzung einer Industrie-4.0-­Architektur vor? Als Kommunikationsspezialist muss die Firma Hilscher auf diese Entwicklung doch reagieren.

Wir fokussieren uns seit mehr als 25 Jahren auf die industrielle Datenkommunikation, haben alle Feldbusse und alle Industrial-Ethernet-Systeme im Programm – und beherrschen das Metier. Da Industrie 4.0 die umfassende Kommunikation im gesamten Fertigungsprozess und damit auch in der Feldebene voraussetzt, sind wir natürlich gefordert, uns zu positionieren und dem Markt ein entsprechendes Angebot zu machen. Und das machen wir zur SPS IPC Drives auch mit einer neuen Familie sogenannter Edge-Gateways zur Cloud-Anbindung.

Haben Sie schon ein konkretes Bild von der Industrie 4.0? Bislang ist alles noch hierarchisch strukturiert. Steht uns nicht ein radikaler Umbruch des bisherigen Denkansatzes, der klassischen Automatisierungspyramide bevor?

Wenn man sich das Konzept von Industrie 4.0 oder des Indus­trial Internet of Things anschaut, steht in der Tat eine erhebliche Ergänzung der klassischen Automatisierungspyramide und der bisherigen Denkweise an. Die Daten werden nicht mehr nur im herkömmlichen Sinne ausgetauscht, indem Gerät A mit Gerät B kommuniziert. Zusätzlich befinden sich die Daten der Feld­geräte und Automatisierungskomponenten in einem gemeinsamen Daten­pool, auch Big Data oder eben auch (Firmen)-Cloud ­genannt. Alle Geräte übertragen ihre Daten in solche Firmen-Clouds, wo diese Daten dann anderen Geräten und Service-Ebenen, die am Automatisierungsprozess nur mittelbar beteiligt sind, zur Verfügung stehen. Die Besonderheit ist, dass es dabei die klassische Kommunikationshierarchie so wie wir sie seit gut zwanzig Jahren anwenden gar nicht mehr gibt. Alle Geräte, vom kleinsten Sensor bis hin zum ERP, hängen an dieser Cloud und haben die Möglichkeit, beliebige Daten zu lesen, aus diesen Daten Rückschlüsse zu ziehen, Verknüpfungen zu erstellen und ebenfalls Daten in die Cloud zu schreiben, aus denen andere Geräte wiederum ihre nächsten Aktionen ableiten.

Sind sich die Anwender dessen bewusst, wenn sie über Industrie 4.0 sprechen?

Gerade weil Industrie 4.0 so umfassend ist, bleibt es für viele noch sehr abstrakt und lässt sich nur schwer in Gänze nachvollziehen. Das zeigen ja auch die Referenzarchitekturmodelle wie Rami 4.0 der Plattform Industrie 4.0 oder der Ansatz des Industrial Internet Consortiums. Aus diesem Grunde sind meines Erach­tens auch noch erhebliche Berührungsängste mit dem ­Thema verbunden. Alle sind sich jedoch einig, dass dies ein sinnvoller Weg ist und dass die Zukunft in die Richtung gehen wird. Aber wie Indus­trie 4.0 heute praktisch aussieht und umsetzbar ist, darüber ­besteht bei vielen Anwendern und Automatisierungsanbietern noch Unsicher­heit.

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"Industrie 4.0 schafft hinsichtlich Geschäftsmodellen und Dienstleistungen ähnliche Möglichkeiten wie die Einführung des Internets." Stefan KörteRenate Schildheuer/Redaktion IEE

Wie und wo wollen Sie denn die Endanwender auf der einen Seite, und die Maschinenlieferanten und Anbieter von Automatisierungskomponenten auf der anderen Seite abholen?

Die Umsetzung geht nur sukzessive über einen relativ langen Zeitraum. Zumal verschiedene Anbieter miteinander sprechen müssen, die bisher nicht oder kaum zusammengearbeitet haben. Bei Indus­trie 4.0 müssen sowohl ERP und MES als auch die Automatisierungstechnik alle zusammen auf ­einer einheitlichen Basis ihre Daten austauschen. Das verlangt eine inter­disziplinäre Abstimmung, ein Gesamtkonzept vom Sensor bis zum ERP-System. Ich behaupte, kein Anbie­ter kann und wird das alleine stemmen: Eine Firma wie zum Beispiel SAP wird mit Sicherheit nicht bis auf Sensorebene Lösungen anbieten, genauso wenig wie ein Auto­matisierungsanbieter das Know-how hat, um Produktionsoptimierungs-Software oder Routinen zur vorbeugenden Wartung in einer Cloud zu imple­mentieren.

Aber, diese verschiedenen Disziplinen müssen miteinander ­reden, sich abstimmen und eine gemeinsame Lösung finden. Und das geht meines Erachtens entweder über eine voll umfängliche Standardisierung, die in der Realisierung zu lange braucht, oder man beginnt die Reise mit einem ersten Schritt.

Und wie sollte der erste Schritt in Richtung Industrie 4.0 aussehen?

Das wird eine Cloud-Lösung sein, in welche Sensoren, Aktoren und Feldgeräte ihre Daten schreiben. Die Gerätedaten werden über den Feldbus der SPS und ein einheitliches Protokoll und mit einer einheitlichen Semantik zur Cloud übertragen. Dort werden diese Daten in einem bestimmten Datenmodell dargestellt, auf das die MES- und ERP-Software zugreift, um Produktionsprozesse zu steuern oder zu optimieren oder um vorbeugende Wartungsmaßnahmen zu initiieren. Auf dieser Technologie-Basis können dann erste Use-Cases realisiert werden, ohne dass in den eigentlichen Steuerungszyklus der SPS eingegriffen werden muss. Das ist unsere Vorstellung, wie man mit dem Thema Industrie 4.0 beginnen könnte.

Ein Knackpunkt wird der bestehende Maschinenpark sein. Wie wird deren Detailierungsgrad aussehen, und wie unterstützen Sie praktisch Unternehmen auf dem Weg dorthin?

Die Investitionssicherung ist ein ganz wichtiger Aspekt. Die Migra­tion vorhandener Maschinenparks, der existierenden Technologien und des Produktions-Know-hows in ein Indus­trie-4.0-System muss sichergestellt sein. Ein erster Schritt ist, die ­Daten, die in den Maschinen, den Anlagen, in der Sensorik und der Akto­rik anfal­len, rückwirkungsfrei einzusammeln und in ­einer Cloud-­gerechten Form weiterzureichen. Rückwirkungsfrei heißt für mich: ohne das bestehende Steuerungsprogramm zu beeinflussen. Alles Weitere findet dann in der Cloud-Umgebung statt.

Dieses Konzept bedeutet eine deutliche Erweiterung des Geschäfts­felds von Hilscher, weg von der reinen Kommunikation.

Es ist eine deutliche Erweiterung unseres Produktangebots. Wir haben bereits seit Jahren eine Gateway-Familie, die verschiedene Feldbusse und Industrial-Ethernet-Systeme kombiniert. Diese Familie wird jetzt mit ­einer neuen Serie von Edge-Gateways erwei­tert, die in der Lage sind, die ­Daten der Feldgeräte einzusammeln und über Ethernet in eine Cloud zu transportieren.

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"Mit den Edge-Gateways greifen wir Daten aus dem laufenden Buszyklus ab, ohne diesen in irgendeiner Form zu beeinflussen." Stefan KörteRenate Schildheuer/Redaktion IEE

Sie betonen immer die Cloud. Gibt es konkrete Überlegungen, auf welchen Anbieter Hilscher setzt?

Es gibt verschiedene Cloud-Anbieter wie IBM, Microsoft, ­Google oder SAP. Daran wird sich nichts ändern und wir müssen mit einer Multi-Cloud-Landschaft rechnen. Wir ­haben uns auf eine weltweit verfügbare Lösung gestützt und im ersten Schritt eine Ankop­plung an die Bluemix Cloud von IBM implementiert. ­Diese Lösung zeigen wir funktionsfähig und im Einsatz auf der SPS IPC Drive. Unsere Edge-Gateways werden per Software konfiguriert und sind in der Lage, zukünftig auch weitere akzeptierte Cloud-Infrastrukturen zu unterstützen.

Warum übernimmt die SPS als zentrales Steuerungsorgan nicht die Interface-Funktion in die Cloud? Welche Vorteile bringt es, wenn die Daten direkt von den Feldgeräten abgeholt und über das Edge-Gateway an die Cloud übertragen werden?

Wir sammeln die Feldgeräte-Daten über das Edge-Gateway, das zum Beispiel in Profibus, Profinet oder ein anderes Industrial-Ethernet-System integriert ist. Dass die SPS diese Gateway-Funktion übernehmen kann, ist zurzeit so nicht umsetzbar. Auch wenn in der Steuerung viele Daten vorgehalten werden, es ist eine Sackgasse und wird nicht funktionieren.

Und warum nicht?

Zum einen, weil die Programme einer SPS häufig gar nicht geändert werden dürfen. Gewährleistung und Know-how-Schutz sind naheliegende Gründe. Wenn nun zusätzliche Daten von den Feldgeräten benötigt werden, müsste das zwangsläufig in der SPS programmiert werden. Zudem, der Ablauf wäre extrem unfle­xibel. Immer wäre ein SPS-Programmierer beziehungsweise eine zusätzliche Programmierung notwendig, wenn für eine neue Auswertung weitere Gerätedaten benötigt werden. Das meine ich mit Sackgasse. Nur wenn diese Funktion parallel und unabhängig vom Steuerungszyklus in der SPS integriert ist, kann der Zugriff auf die Gerätedaten über die SPS erfolgen. Allerdings ist das zurzeit in vielen bestehenden Steuerungssystemen so noch nicht umgesetzt.

Bei ihrem Ansatz erfolgt die Verdichtung der Daten zu Informationen in der Cloud über entsprechende Tools von Software-Anbietern.

Solche Analyseprozesse lassen sich in der Cloud anstoßen oder bereits im Edge-Gateway. Welche Informationen in die Cloud übertragen werden sollen, konfigurieren wir aktuell bei den Gateways mittels Note-Red von IBM.

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"Zum Start der Gateway-Baureihe unterstützen wir IBMs Bluemix Cloud, grundsätzlich sind wir jedoch offen." Stefan KörteRenate Schildheuer/Redaktion IEE

Wo findet dann die Umsetzung der abstrakten Werte aus dem Feldbus in konkrete Informationen statt, aus denen sich beispielsweise der Abnutzungsgrad eines Sensors ablesen lässt?

Jeder Teilnehmer oder jede Ressource wird in der Cloud über Datenobjekte dargestellt, die das eigentliche Feldgerät abstrahieren. Hier kann auch dessen Position oder Funktion in der ­Maschine hinterlegt sein. An dieser Stelle setzt die Konfigurationsoberfläche des Edge-Gateways an, um die Umsetzung der gelie­ferten Werte der Feldgeräte in Cloud-gerechte Informationen mit der passenden Daten-Semantik für die jeweilige Cloud umzusetzen. Das heißt, diese Informationen sind je nach Cloud in etwas verschiedener Form aufzubereiten und zu übermitteln. Hier wird von den Referenzarchitekturen der Plattform Indus­trie 4.0 und dem Indus­trial Internet Consortium (IIC) eine generelle Spezifikation in Form einheitlicher Verwaltungsschalen aller Komponenten angestrebt.

Wie könnte diese Anpassung realisiert werden?

Hierfür gibt es schon Referenzarchitekturen, wobei sich momentan OPC-UA und MQTT als Übertragungsverfahren mit einer großen Akzeptanz herauskristallisieren. OPC/UA ist das Verfahren, auf der viele Ansätze, die in der Plattform Industrie 4.0 definiert werden, beruhen. Parallel dazu gibt es in den USA das IIC, das mehr zum MQTT-Protokoll tendiert und grundsätzlich vom Ansatz her ähnliche Ziele verfolgt. Mit der modularen Software-Architektur unserer Edge-Gateways werden wir uns flexibel an zukünftige Spezifikationen anpassen können.

Womit sollten Anwender denn starten?

Wir müssen das Thema von sinnvollen Use-Cases her angehen. Ich kann Industrie 4.0 nicht als Selbstzweck verkaufen. Das bringt dem Anwender keinen Vorteil. Ich kann nur mit Industrie 4.0 starten, wenn ich einen umsetzbaren Nutzen vor Augen ­habe. Schon die naheliegenden Use-Cases wie vorbeugende Wartung, Systemdiagnose und Prozessoptimierung tangieren Feld­geräte, Steuerungstechnik, MES bis hin zu den ERP-Systemen. Nur dann kann ich dieses Gesamtsystem realisieren und auch eine Wertschöpfung generieren, die einen schnellen ROI möglich macht. Um das für den Anwender einfach realisierbar zu ­machen, können alle Anbieter in der Kette sich auf gemeinsame Festlegungen einigen und damit die Interoperabilität sicherstellen, quasi als kleinster gemeinsamer Nenner.

Werden bei Industrie 4.0 die Ressentiments und die Zuständigkeitsgerangel zwischen IT- und Elektroabteilung nicht erneut zum Problem?

Wem gehört das Netzwerk, der Server oder die SPS? Die Diskussionen kenne ich. Mit dem Edge-Gateway stiften wir Frieden, da wir rückwirkungsfrei arbeiten. Wir greifen damit weder in die Steuerungstechnik noch direkt in die IT-Ebene ein, stören aus Sicht der Automation also nicht. Für die IT-Abteilungen sind wir wiederum ein interessanter Partner, der für eine Cloud-Anbindung der Produktion die erforderlichen Daten liefern kann.

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"Daten in der Cloud machen noch keine Industrie 4.0." Stefan KörteRenate Schildheuer/Redaktion IEE

Welche Use-Cases sehen sie konkret als umsetzbar? Vorbeugende Instand­haltung und Maintenance werden hier häufig genannt.

Diese zugegebenermaßen nicht ganz neuen Anwendungen sind für mich die idealen Use-Cases zum Einstieg in Industrie 4.0, da Anwender daraus auch einen realen Nutzen ziehen. Und das Thema Diagnose von Bussystemen, was natürlich bei Hilscher nahe liegt, und vorbeugende Wartung aber auch die Produktionsoptimierung – das sind ganz konkrete Ansätze zum Einstieg in die Zukunftstechnologie. Mit Industrie 4.0 sind sicherlich noch weit mehr und andere Use-Cases realisierbar; Dinge, an die bisher noch gar nicht ­gedacht wurde. Wie damals beim Internet und anderen Entwicklungen werden zukünftige Ideen den Wert von Cloud-basierter Automatisierung auf einen anderen Level heben.

Die Wertschöpfung passiert aber nicht allein dadurch, dass nun alle Daten in der Cloud verfügbar sind. Das bringt erst mal gar nichts. Software-Anbieter oder auch Anwender müssen die ­Daten verknüpfen, damit sie bestimmte Dinge erkennen oder ­eine Optimierung schaffen. Was das alles sein könnte, wissen wir heute noch gar nicht. Aber wir schaffen mit der Verfügbarkeit der Prozessdaten aus der Feldebene jedenfalls die Voraussetzungen für neue Ideen und Umsetzungen einer effizienteren und gleichzeitig flexibleren Produktion.

Ebenso können diese Daten eine Grundlage für komplett neue Geschäftsmodelle bei Maschinen- und Geräteherstellern werden. Ein Beispiel: Unser Edge-Gateway könnte unab­hängig von der Steuerung die Drehmomente und Betriebsstunden eines komplexen Antriebs in die Cloud transferieren. Über die Cloud nutzt das ERP-System diese Daten für die monat­liche Abrechnung, nach Betriebsstunden, der Anzahl ­Hübe oder was auch immer sinnvoll ist, und berechnet daraus automatisch die Pay-per-use-Rate. Die Daten in der Cloud und Industrie 4.0 bieten hier schier unend­liche Möglichkeiten, vergleichbar mit dem Internet. Industrie 4.0 und die Cloud sind letztendlich nichts anderes als ein Internet, nur nicht für Menschen, sondern für Maschinen. Und Hilscher schafft mit der Gateway-Familie einen Teil der Infrastruktur – den IoT-Zugang zur Feldebene – und damit einen entscheidenden Schritt zur Umsetzung von Industrie 4.0.

Stefan Kuppinger

ist Chefredakteur der IEE.

(sk)

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