Herr Rostan, auf der SPS 2019 haben Sie gesagt, dass das Thema um Time Sensitive Networking (TSN) viel Verwirrung stiftet, da eine Menge „Mythen und Gerüchte“ kursieren. Wie genau meinten Sie das?
Martin Rostan, Ethercat Technology Group: Nun, einige Protagonisten erzählen ihren Kunden, mit Hilfe von TSN könne man aus einem lahmen Ackergaul ein erfolgreiches Rennpferd machen. Und TSN sei fertig und verfügbar. Dabei gibt es „TSN“ als solches ja gar nicht: Der IEEE-Arbeitskreis arbeitet an einem ganzen Bündel von TSN-Technologien, von denen erst ein kleiner Teil als Spezifikation vorliegt. So wurde der Standard für Zeitsynchronisierung erst Anfang dieses Jahres verabschiedet – also kann es heute noch gar keine Chips geben, die ihn in Silizium gegossen haben. Und wie Netzwerke mit TSN-Eigenschaften konfiguriert werden sollen, ist noch völlig offen.
Sie erklärten auch, dass die ETG gestärkt aus dieser Entwicklung hervorgehen wird. Warum?
Martin Rostan: Weil EtherCAT stabil, verfügbar und verlässlich bleibt, während Profinet, CC-Link IE und voraussichtlich auch Ethernet/IP neue, nicht abwärtskompatible Versionen auf Basis von TSN-Technologien entwickeln. Und damit mindestens um fünf weitere Jahre zurückgeworfen werden, bis sie eine stabile Version mit verlässlicher Interoperabilität erreichen werden, die von ausreichend vielen Geräten unterstützt wird.
Die klassischen Feldbusse werden schon seit Jahren zu Grabe getragen. Wird TSN der letzte Sargnagel sein?
Martin Rostan: Ich sehe eher Ethercat als Herausforderung für die klassischen Feldbusse: Die Einfachheit dieser Systeme bleibt bei Ethercat voll erhalten, während TSN-Technologien die Komplexität der anderen Industrial-Ethernet-Systeme deutlich weiter nach oben treiben wird. Wir nennen Ethercat nicht umsonst „the Ethernet Fieldbus“.
Die erste Spezifikation zur Integration von TSN in Ethercat haben Sie bereits 2017 vorgestellt. 2019 hieß es „die ETG wird TSN integrieren, wenn es soweit ist und Sinn ergibt.“ Das klingt nach einer Rolle rückwärts.
Martin Rostan: Nein. „TSN integrieren“ heißt bei uns ja gerade nicht, Ethercat selbst auf links zu ziehen und TSN zur Basis unseres Ethernet-Feldbusses zu machen: Unser bereits 2017 vorgestelltes TSN-Profil beschreibt ja, wie Ethercat-Systeme an TSN-basierte Netzwerke angekoppelt werden können. Wir waren deshalb so früh dran, weil wir von Anfang an aktiv im IEEE-Arbeitskreis mitarbeiten. Und deshalb sind wir gut vorbereitet, wenn TSN Einzug in die Fabrikhallen finden wird, und tragen auch zur Fertigstellung der TSN-Spezifikationen bei. Gleichzeitig sind wir aber nicht zwingend auf den Erfolg von TSN angewiesen: Ethercat wird nicht „TSN-basiert“ sein.
Welche Rolle spielt die 2018 gegründete Technical Working Group Ethercat und TSN?
Martin Rostan: Die Ethercat Technology Group ist ja seit Ende 2017 offizieller „Liaison-Partner“ des IEEE-802.1-Arbeitskreises. Die ETG Technical Working Group „Ethercat and TSN“ füllt diese Partnerschaft mit Leben, und ist natürlich auch für die vorhin angesprochene Spezifikation zuständig.
Worin werden dann die Vorteile für Anwender liegen, wenn Ethercat um TSN ergänzt wird – etwas das Sie selbst als „perfekte Ergänzung“ bezeichnen.
Martin Rostan: Der Anwender kann dann Ethercat-Systeme perfekt mit einem TSN-basierten heterogenen Produktionsnetzwerk kombinieren: Die Einfachheit und die Performance von Ethercat bleiben dabei erhalten. Und die Anbindung übers Firmennetz an überlagerte oder benachbarte Steuerungen und Systeme wird dank TSN-Technologien echtzeitfähig.
Wird es durch TSN Änderungen am Ethercat-Frame geben?
Martin Rostan: Nein. TSN wird Ethercat nicht verändern, sondern ergänzen. „Ergänzung um TSN-Technologien“ trifft den Sachverhalt bei Ethercat also wesentlich besser als „Integration von TSN“.
Welche Auswirkungen hat TSN auf Ihre Aktivitäten bei Ethercat G und G10?
Martin Rostan: Auch Ethercat G und G10 ergänzen die bewährte Ethercat-Technologie, ohne sie abzulösen. Bei Ethercat G und G10 bleiben die Einfachheit sowie die Diagnose- und Konfigurationseigenschaften von Ethercat durchgängig erhalten. Damit ist Ethercat G das Mittel der Wahl zur Erhöhung der Bandbreite, wenn durchgängig Ethercat zum Einsatz kommt. Die Kombination mit TSN hat dagegen einen etwas anderen Fokus: Hier steht die Anbindung an heterogene Systeme im Vordergrund. Beide Ansätze haben damit ihre Berechtigung, ohne sich gegenseitig im Weg zu stehen.
Wie sehen Sie die Entwicklung rund um Single Pair Ethernet (SPE)?
Martin Rostan: Auch hier nehmen wir an den entsprechenden IEEE-Arbeitskreisen teil und begleiten die Entwicklung aktiv. Ob SPE als zusätzliche Physical-Layer-Option bei Ethercat Einzug halten wird, ist allerdings noch offen.
Spielt das Thema TSN bei Ihnen eine Rolle auf der Hannover Messe 2020?
Martin Rostan: Natürlich! Wir werden weiterhin unseren diesbezüglichen Ansatz zeigen. Und wir werden weiterhin Mythen und Gerüchten mit Fakten begegnen, auch wenn das ja nicht mehr überall angesagt ist…
Das Interview führte Martin Large, Redakteur IEE
(ml)