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dSPACE/MEC

Das Lenksystem und seine Charakteristik sind entscheidend für das Fahrverhalten eines Fahrzeugs und vor allem für das subjektive Empfinden des Fahrerlebnisses. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die haptische Rückmeldung, die den Fahrer über Fahrbahn und Fahrzeugzustand informiert. In den letzten Jahren haben sich mechatronische Lenksysteme wie zum Beispiel elektromechanische Lenkungen zunehmend in allen Fahrzeugklassen etabliert. Durch passende Wahl und Abstimmung der Steuergeräte-Software kann der Entwickler Lenkgefühl und Fahrverhalten nun freier gestalten. Zusatzfunktionen wie Automatisches Einparken oder Spurhalteassistenten erhöhen darüber hinaus den Komfort und die aktive Sicherheit. Zusätzlich verbessern diese Systeme die CO2-Bilanz und verringern den Kraftstoffverbrauch.

Die somit immer wichtiger werdende Rolle der Software und gleichzeitig erhöhte Sicherheitsanforderungen, zum Beispiel ISO 26262, erfordern auch Änderungen im Produktentwicklungsprozess vom klassischen mechanischen Entwicklungsprozess hin zum mechatronischen Entwicklungsprozess nach dem V-Modell. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses eines Lenksystems steht dabei immer die finale Integration des gesamten Lenksystems in das Fahrzeug.

Bild 1: Konzept des Gesamtprüfstands.

Bild 1: Konzept des Gesamtprüfstands.dSPACE/MEC

Erst hier wird es möglich, einen subjektiven Eindruck vom Lenksystem in Kombination mit anderen Fahrwerkregelsystemen und dem Gesamtfahrzeug zu gewinnen und erstmalig das Gesamtsystem erlebbar zu machen. Gerade dieser subjektive Eindruck ist für den Entwickler von großer Bedeutung. Allerdings ist diese Integration mit hohen Kosten verbunden, birgt Sicherheitsrisiken und benötigt eine spezielle Infrastruktur, zum Beispiel eine verfügbare Teststrecke und gut geschultes Personal. Der hier vorgestellte neue Prüfstand vermittelt durch die haptische Rückmeldung bereits in einer früheren Phase des Produktentwicklungsprozesses einen ersten subjektiven Eindruck vom neuen Lenksystem.

Prüfstandkonzept und –aufbau

Wesentliche Bestandteile des neuen Prüfstands sind ein HIL-Lenkungsprüfstand (HIL: Hardware-in-the-Loop), der mit einem statischen Fahrsimulator gekoppelt ist. Zusammen mit einer Visualisierung und einem 3D-Echtzeit-Fahrdynamikmodell entsteht eine Testumgebung, ähnlich einem Fahrzeug (Bild 1).

Im Fahrsimulator wird der Lenkwinkel des Fahrers gemessen und an den Prüfstand übermittelt. Der Prüfstand wiederum stellt den Lenkwinkel mittels eines Lenkroboters der echten Lenkung ein.

Bild 2: Schnittstelle zwischen Fahrzeugmodell, HIL-Simulator, Lenkungsprüfstand und Fahrsimulator.

Bild 2: Schnittstelle zwischen Fahrzeugmodell, HIL-Simulator, Lenkungsprüfstand und Fahrsimulator.dSPACE/MEC

Eine Drehmoment-Messwelle ermittelt dort das Lenkmoment, das dem Fahrer über ein Force-Feedback-Lenkrad im Fahrsimulator mitgeteilt wird. Gleichzeitig stellt der Prüfstand der Lenkung eine Zahnstangenkraft ein, analog der im Simulationsmodell berechneten Kraft. Der hierfür zuständige Linearaktuator erzeugt Zahnstangenkräfte von maximal 20 kN bei einer Verstellgeschwindigkeit von ±200 mm/s. Die resultierende Position der Zahnstange im echten Lenksystem wird genau vermessen und dient der Simulation als weitere Eingangsgröße. Die optische Rückkopplung des Fahrzeug- und Fahrbahnzustandes erhält der Fahrer durch Folienrückprojektionen, die im 90-Grad-Winkel ohne sichtbare Verbindung für die Frontal- und Seitensicht angebracht sind. Kleine LCD-Monitore als Außen- und Innenspiegel vervollständigen das simulierte Fahrzeug. Fahrbahn- und Motorgeräusche runden den Eindruck der Simulation ab. In dieser Testumgebung „erfährt“ der Fahrer einen ersten subjektiven Eindruck von seinem Lenksystem.

Diverse Vorteile

Dieses Konzepte weist mehrere Vorteile auf: So nimmt der Fahrer bereits zu einem früheren Zeitpunkt aktiv am Produktentstehungsprozess teil, und er kann Eigenschaften wie Lenkgefühl mit Hilfe von virtuellen Testfahrten untersuchen. Außerdem lassen sich diese Testfahrten aufzeichnen, und sie sind anschließend jederzeit reproduzierbar. Dabei können gezielt einzelne Testbedingungen individuell variiert werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, Lenkungen mit veränderten Eigenschaften wie variabler Lenkübersetzung, größeren Rückwirkungskräften, Fehlern (zum Beispiel zu große Lose) nachzubilden.

Kombi aus HIL-Lenkungsprüfstand und Fahrsimulator

Mit dem vorgestellten Konzept bestehend aus HIL-Simulator-Lenkungsprüfstand und statischem Fahrsimulator, den dSPACE für den Lehrstuhl für Mechatronik in der Fahrzeugtechnik der Technischen Universität Kaiserslautern konzipiert und schlüsselfertig realisiert hat, ist die Vorapplikation am virtuellen Versuchsfahrzeug Wirklichkeit geworden. Eine haptische Rückmeldung des Lenksystems ist frühzeitig erfahrbar. Besonderes Kennzeichen ist seine Vielseitigkeit. So konnten neben der Untersuchung und Abstimmung von Lenkungen auch bereits Fahrerassistenzsysteme wie Spurhalteassistenten erfolgreich betrieben werden.

Zusätzliche Komponenten wie diverse Fahrerassistenzsysteme und Relativaktuatoren können als Soft-ECU integriert werden. Die Umrüstung des Prüfstands auf andere Lenkungen reduziert sich auf das Austauschen des Lenkgetriebes sowie das Laden neuer Fahrzeugparameter.

Auch Lkw-Lenkungen können ohne große Umbauten integriert werden. Prüfstand und Fahrsimulator lassen sich auch vollkommen unabhängig voneinander betreiben. So sind haptische Tests im Fahrsimulator mit einer Soft-ECU möglich, bevor das Lenksystem fertiggestellt ist. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, gleichzeitig am Fahrsimulator Funktionsentwicklung und am Prüfstand Funktionstests zu betreiben.

Simulationsmodelle

Einen entscheidenden Anteil an einem realistischen Fahrgefühl hat die zugrundeliegende Simulation. Im vorgestellten Prüfstand bilden die dSPACE Automotive Simulation Models  (ASM) auf einem DS1006 Quad-Core-Prozessor diese Basis. Die Automotive Simulation Models sind offene Simulink-Modelle für die Echtzeitsimulation von Pkw, Lkw und Anhängern.

Als Mehrkörpersystem mit 24 Freiheitsgraden simulieren sie die Vertikal-, Längs- und Querdynamik des Fahrzeugs. Für die realistische Simulation der Reifenkräfte wählt der Anwender zwischen zwei unterschiedlichen Reifenmodellen. Die Offenheit der Modelle ermöglicht eine einfache Integration von Kundenmodellen oder echten Komponenten. Im vorgestellten HIL-Fahrsimulator sind die echte Lenkung mit ihren Aktuatoren und der Fahrsimulator mit Belastungsmaschine für das Lenkrad sowie Gas- und Bremspedal an das Simulationsmodell gekoppelt.

Zusätzlich zum eigentlichen Fahrzeugmodell beinhaltet ASM Modelle für Fahrbahn und Fahrer sowie die Möglichkeit, komplexe Manöver automatisch abzufahren. Bild 2 zeigt alle wichtigen Signale, die das ASM-Simulationsmodell, der Lenkungsprüfstand und der statische Fahrsimulator kontinuierlich untereinander austauschen.

Markus Plöger

ist Gruppenleiter für HIL, E-Drive, interne Tools und Testautomatisierungs-Kundenprojekte bei dSPACE.

André Lehmann

ist Senior Application Engineer für HIL-Kundenprojekte bei dSPACE

Prof. Dr.-Ing. Steffen Müller

leitet den Lehrstuhl für Mechatronik in Maschinenbau und Fahrzeugtechnik an der Technischen Universität Kaiserslautern.

Steffen Stauder

ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mechatronik in Maschinenbau und Fahrzeugtechnik an der TU Kaiserslautern im Bereich Entwicklung mechatronischer Lenksysteme und Hardware-in-the-Loop-Simulation tätig.

(av)

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dSPACE GmbH

Rathenaustraße 26
33102 Paderborn
Germany