„Pkws sehen wir nicht als Level-4- oder Level-5-Fahrzeuge in den nächsten Jahren“, stellt Wolf-Henning Scheider, CEO von ZF, fest. Während ein Level-5-System Kosten von 70.000 bis 100.000 Dollar verursache, könne ein L2+-System „um den Faktor 100 oder 50 günstiger sein“.

„Pkws sehen wir nicht als Level-4- oder Level-5-Fahrzeuge in den nächsten Jahren“, stellt Wolf-Henning Scheider, CEO von ZF, fest. Während ein Level-5-System Kosten von 70.000 bis 100.000 Dollar verursache, könne ein L2+-System „um den Faktor 100 oder 50 günstiger sein“. (Bild: Matthias Baumgartner)

Den ersten Vortrag auf dem 23. Automobil-Kongress in Ludwigsburg hielt Wolf-Henning Scheider, CEO von ZF. Dabei zeigt er mit einem Schmunzeln auf den Lippen sehr deutlich auf, wie groß das Spannungsfeld im Bereich AD (Automatisiertes Fahren) ist: „Ich sage zu meinen Kollegen im Bereich AD, ihr seid gerade mein größtes Hobby“, denn einerseits seien hier hohe Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe notwendig und andererseits stehe stets die Frage im Raum, wann denn der Return of Investment (ROI) komme. Es sei jetzt an der Zeit, die neue Art der Mobilität aktiv zu gestalten, denn es gehe darum, „die individuelle Mobilität … in einer neuen Form zu erhalten“ – und dafür müsse sie „sauber, sicher, komfortabel und vor allem bezahlbar sein, bei Menschen und bei Gütern“.

Dabei ist der Standpunkt des ZF-CEOs ganz klar: „Wir wissen alle, dass wir etwas verpassen würden, wenn wir da nicht mit Vollgas reingehen.“ Wie ZF unter diesen Rahmenbedingungen ohne klare Projektrechnungen und ohne direkt sichtbaren ROI agiert, das erläuterte er in seinem Vortrag zum Thema
„Realistische Wege zum automatisierten Fahren.“

Mit einer skalierbaren Plattform, die vom Pkw über Robotaxis, Ride-Hailing und Nutzfahrzeuge bis zu Off-Highway-Anwendungen reicht, geht ZF die Thematik an. Schlüsseltechnologie ist dabei die Digitalisierung mit dem Internet der Dinge. „Jedes Produkt von ZF wird in den nächsten Jahren connected sein – bis hin zum einfachen Querträger im Fahrzeug…“ All das ließe sich nur mit Partnerschaften erzielen. So habe ZF beispielsweise seine skalierbare IoT-Cloud gemeinsam mit Microsoft aufgebaut, wobei die Azure-Cloud auch beim automatisierten Fahren zum Einsatz komme.

Impressionen vom 23. Automobil-Elektronik Kongress in Ludwigsburg

L2  ist „ein typisches Tool, um Verbraucher in den nächsten Jahren an Automatisierung zu gewöhnen und Vertrauen ­aufzubauen.“ Wolf-Henning Scheider (ZF)

L2+ ist „ein typisches Tool, um Verbraucher in den nächsten Jahren an Automatisierung zu gewöhnen und Vertrauen ­aufzubauen.“ Wolf-Henning Scheider (ZF) Matthias Baumgartner

„Pkws sehen wir nicht als Level-4- oder Level-5-Fahrzeuge in den nächsten Jahren“, stellt Wolf-Henning Scheider fest. „Pkws brauchen typischerweise eine gute Level-2+- Verfügbarkeit.“ ZFs neuster Versuchsträger namens ZF Copilot enthält beispielsweise neben der Rechenplattform Pro AI auf Nvidia-Basis auch ein Front-Imaging-Radar, vier Corner-Radare und acht Kameras. Das Fahrzeug biete „sämtliche Komfortmerkmale, die der Verbraucher schätzt“ und nehme ihm viele Aufgaben ab, während der Fahrer allerdings noch auf die Straße blicken muss. Das Imaging-Radar erreiche eine Performance, die man bisher nur aus dem Lidarbereich kannte.

Level 2+ ist für ihn besonders wichtig, denn es ist „erstens bezahlbar für Privatleute und zweitens schaffen wir über die L2+-Funktion Vertrauen“. L2+ sei „ein typisches Tool, um Verbraucher in den nächsten Jahren an Automatisierung zu gewöhnen und Vertrauen aufzubauen.“ ZF sei dabei „mit Mobileye auf der gesamten Euro-NCAP-Schiene unterwegs“. Während ein Level-5-System Kosten von 70.000 bis 100.000 Dollar verursache, könne ein L2+-System „um den Faktor 100 oder 50 günstiger sein“. Seine Schlussfolgerung: Vollautomatische Systeme „sind so teuer, dass sie in erster Linie für kommerziell eingesetzte Fahrzeuge geeignet sind.“ Zudem könnten L2+-Systeme dem Gesetzgeber beweisen, dass die Systeme wirklich gut funktionieren.

Große Cloudanbieter entdecken zunehmend die Automobilindustrie für sich, sagt Dr. Christoph Grote, Head of Electronics Development bei BMW. Hier gilt es zu überlegen, ob OEMS und große Tier1 nicht eine engere Partnerschaft mit einem Cloud-Player benötigen.

Große Cloudanbieter entdecken zunehmend die Automobilindustrie für sich, sagt Dr. Christoph Grote, Head of Electronics Development bei BMW. Hier gilt es zu überlegen, ob OEMS und große Tier1 nicht eine engere Partnerschaft mit einem Cloud-Player benötigen. Matthias Baumgartner

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„Beim Thema Cloud ist die Automobilbranche im Moment in einer Phase, in der sie viel richtig, aber auch viel falsch machen kann.“ Dr. Christoph Grote (BMW) Matthias Baumgartner

Für 2030 sieht ZF einen Marktanteil der Robotaxis (Level 4/5) von etwa 2 % und in jedem Fahrzeug ADAS-Funktionen, was auf Grund des zuvor erwähnten Faktor 100 gegenüber Level-2+-Systemen ein hochattraktives Segment darstelle. Und durch den Zukauf des Unternehmens 2Getthere sei ZF jetzt noch besser aufgestellt, zumal der große Schritt Richtung Vollautomatisierung zunächst über den Einsatz in abgegrenzten Bereichen erfolge, in denen auch die Validierung erfolge. Eines betont Wolf-Henning Scheider jedoch nochmals: „Für ZF sind Partnerschaften ganz wichtig… Auch ein fast 40-Milliarden-Konzern könnte sich das nicht alles aus eigener Kraft leisten.“

Cloud First

Die Cloud ist einer der wesentlichen Trends, auch für den Automobilelektroniker, sagt Christoph Grote, Head of Electronics Development bei BMW. Analog zum automatisierten Fahren sind OEMs gut beraten, wenn sie sich frühzeitig über legen, wie sie das Ökosystem gestalten wollen. Zu groß sei hier die Gefahr, dass sie wie oft in der Vergangenheit in ein Thema hineinstolpern, viele eine völlig überzogene Vorstellung ihrer eigenen Rolle entwickeln und zu spät darüber nachdenken, wie die gemeinsamen Regeln in einem wachsenden Ökosystem aussehen.

Im Automobilbereich gebe es einen Block funktionaler Argumente für die Cloud, der stark wirkungsfixiert sei. Für viele Funktionen müssen Daten zentral zusammengeführt und auch aus der Zentrale heraus wieder verteilt werden. Außerdem lässt sich Intelligenz Cloud-basiert viel besser realisieren als Client-seitig, besonders wenn es um die Personalisierung von Funktionen geht. Auf der Cloudseite lassen sich Funktionen einfacher und besser weiterentwickeln sowie leichter pflegen. Deshalb müsse sich die Automobilindustrie fragen, welche Funktionen sie denn wirklich in die Cloud bringen wolle.

Ein großes Thema ist auch die Anbindung von Third-Party-Ökosystemen. Nutzer wollen in vielen Funktionen eben Zugriff auf ihre gewohnten Services haben. Dies über eine direkte Implementierung im Fahrzeug zu realisieren sei tendenziell schwieriger pflegbar, skalierbar und mit Security vereinbar. Im rein funktionalen Bereich sei die Aggregation von kooperativen Verkehrsfunktionen schon stark Cloud-basiert. BMW extrahiert Daten aus ADAS- und anderen Systemen und schickt diese anonymisiert an einen zentralen Cloud-Dienst. Dieses selbstlernende System erkennt Gefahren und erstellt daraus einen Hazard-Preview-Dienst, der fahrzeugindividuell ist. Dies sei aus Sicht von BMW ein erfolgreicher Ansatz, um den kollektiven Wert von Daten über eine Schwarmintelligenz tatsächlich einem praktischen Nutzen zuzuführen.

Die Branche ist laut Grote im Moment in einer Phase, in der sie vieles richtig, aber auch vieles falsch machen kann. Hier gelte es zu überlegen, ob große Tier1 und OEMs nicht eine engere Partnerschaft mit einem Cloud-Player benötigen. Dabei seien aber einige Dinge zu beachten: B2B und B2C müssen hart getrennt werden, denn die Vermischung sei nicht kompatibel. Eine unterschätzte Tatsache sei auch, das eine fähige, standardisierte Client-Seite essenziell ist. Auch End-to-End-Entwicklungstools seien wichtig, genau wie integrierte Datenmarktplätze und das Teilen von Daten. Von großer Bedeutung sei auch die globale Skalierbarkeit: eine zunehmende globale Divergenz sollte im Keim erstickt werden, gerade auf der Cloud-Seite.

Kommunikation – 5G

Für die Automobilbranche ist bei 5G besonders eine geringe Latenzzeit wichtig, erklärte Dr. Dirk Hoheisel, Mitglied der Geschäftsführung bei Bosch. Für ­einen kooperativen Spurwechsel sei eine maximale Latenzzeit von 50 ms, für das Platooning gar 10 ms, möglichst sogar 8 ms erforderlich.

Für die Automobilbranche ist bei 5G besonders eine geringe Latenzzeit wichtig, erklärte Dr. Dirk Hoheisel, Mitglied der Geschäftsführung bei Bosch. Für ­einen kooperativen Spurwechsel sei eine maximale Latenzzeit von 50 ms, für das Platooning gar 10 ms, möglichst sogar 8 ms erforderlich. Matthias Baumgartner

1,3 Millonen Tote im Straßenverkehr jährlich, hoher CO2-Ausstoß, Staus: es gebe viele Gründe, die Mobilität neu zu überdenken, erklärt Dr. Dirk Hoheisel, Mitglied der Geschäftsleitung bei Robert Bosch in seinem Vortrag „Herausforderung der neuen Kommunikationstechnologie für die E/E“. Die Mobilität ist für die Menschen sehr wichtig, und der Anstieg der Kilometer im Passagiertransport steige im Zeitraum von 2015 bis 2050 um den Faktor 2,4 an; er wächst damit überproportional in Relation zum Wachstum der Weltbevölkerung. Beim Transport von Gütern gebe es sogar ein Wachstum um den Faktor 3.

Bei Bosch steht die neue Denkweise für die Mobilität unter dem Motto PACE: Personalized, Automated, Connected, Electrified. Der Enabler für vieles davon ist die Verbindung des Fahrzeuges mit der Cloud, also die Konnektivität. 5G werde dabei eine wichtige Rolle spielen und soll bis 2025 bereits 99 Prozent der Bevölkerung und 95 Prozent der Fläche erreichen. Leider liege hier Deutschland im Ausbau weit hinter Ländern wie Japan oder Südkorea zurück.

Der Enabler für vieles im Rahmen von PACE ist die ­Verbindung des Fahrzeuges mit der Cloud, also die ­Konnektivität. 5G wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Dr. Dirk Hoheisel (Bosch)

Der Enabler für vieles im Rahmen von PACE ist die ­Verbindung des Fahrzeuges mit der Cloud, also die ­Konnektivität. 5G wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Dr. Dirk Hoheisel (Bosch) Matthias Baumgartner

Die Technologie eröffnet viele neue Möglichkeiten, zum Beispiel für die Übertragung großer Datenmengen. Wichtig sei hier vor allem die Latenz, die in Konkurrenz zur Rechenleistung der Fahrzeugsysteme steht: mit beiden Parametern lasse sich eine Art Schieberegler schaffen, der je nach den Anforderungen des jeweiligen Systems neu positioniert wird. Mit 5G lässt sich beispielsweise eine lokale Cloud bilden, die eine sehr schnelle Kommunikation zwischen zwei Fahrzeugen oder einem Fahrzeug mit der Infrastruktur ermöglicht.

5G vereint viele unterschiedliche Technologien und Konzepte unter einem Dach, eines davon ist Boschs „Battery in the Cloud“. Ziel des Konzepts ist es, die gesamte Lebensdauer der Batterie zu dokumentieren. Dies sei besonders dann nützlich, wenn das Fahrzeug verkauft würde, denn der Nutzer besitzt dadurch eine Art Zertifikat über den Status der Batterie.

Ein weiteres Konzept ist die Road Signature im autonomen Fahren, die Radar- und Kameradaten von Fahrzeugen in die Cloud schickt, wo eine Validierung der Daten geschieht, bevor sie zurück an das Fahrzeug gehen. Aus diesen Daten lassen sich vor allem hochaktuelle Kartendaten erzeugen, an denen sich andere Autos gut orientieren können.

Wenn jeder OEM weiterhin softwaretechnisch das Rad neu erfinden wolle, könne die Menge der zu entwickelnden Software die weltweite Kapazität an verfügbaren Embedded-Softwareentwicklern übersteigen, konstatierte Chuck Gray, E/E-Leiter bei Ford in den USA.

Wenn jeder OEM weiterhin softwaretechnisch das Rad neu erfinden wolle, könne die Menge der zu entwickelnden Software die weltweite Kapazität an verfügbaren Embedded-Softwareentwicklern übersteigen, konstatierte Chuck Gray, E/E-Leiter bei Ford in den USA. Matthias Baumgartner

Aber auch hier ist die Konnektivität Voraussetzung, denn es muss immer genau klar sein, wo sich das Fahrzeug gerade befindet. „Die Anforderungen an die Konnektivität sind gering, aber sie muss absolut zuverlässig sein“, sagt Dr. Hoheisel. Die geringen Latenzen von 5G seien zum Beispiel interessant für den kooperativen Spurwechsel, der eine Datenübertragung mit einer Latenz unter 50 ms benötigt, um überhaupt zu funktionieren.

Noch zeitkritischer aber sei das Platooning, das besonders durch die damit einhergehende CO2-Reduzierung und angesichts des Mangels an Fahrern sehr attraktiv sei. Hier seien Latenzen unter 10 ms notwendig, wobei Experten von Bosch hier maximal 8 ms fordern.

Die hohe Bandbreite von 5G sei zum Beispiel in autonom fahrenden Shuttles von großer Bedeutung, denn der Hersteller müsse sich überlegen, womit sich die Passagiere während der Fahrt beschäftigen. Mit datenhungrigen Video-on-demand-Angeboten ließen sich ganz neue Geschäftsmodelle ins Fahrzeug bringen. Aber auch auf zwei Rädern beim Pedelec sei 5G wichtig, zum Beispiel für den Diebstahlschutz, denn der Eigentümer des doch recht kostenintensiven Rads sollte in der Lage sein, sein Bike tracken zu können – auch wenn die Antriebsbatterie entfernt wurde.

Standardisierung und Zusammenarbeit: Automotive trifft IT

„Das Mobilitätsmodell, das wir heute haben, wird morgen nicht mehr funktionieren... Die Autoindustrie muss neue ­Formen der Zusammenarbeit finden.“ Chuck Gray (Ford)

„Das Mobilitätsmodell, das wir heute haben, wird morgen nicht mehr funktionieren... Die Autoindustrie muss neue ­Formen der Zusammenarbeit finden.“ Chuck Gray (Ford) Matthias Baumgartner

Mit den Parallelen zwischen der IT und der Fahrzeugindustrie setzt sich Chuck Gray von der Ford Motor Company in seinem Vortrag „Automotive OEM zu Software-Hersteller: Der Computerindustrie folgen?“ auseinander. Der Manager, der im Range eines Directors für den Themenbereich Electrical and Electronics System Engineering verantwortlich ist, stellt die Frage in den Raum, ob sich die Fahrzeugindustrie bei zunehmender Bedeutung der Software womöglich ein Beispiel an der IT-Industrie nehmen sollte.

Seine Betrachtungen ordnet Chuck Gray zunächst in den aktuellen gesellschaftlichen Rahmen ein, der weltweit von vier Trends bestimmt wird: Urbanisierung, Aufstieg der Mittelklasse, Verschlechterung der Luftqualität und veränderte Nutzergewohnheiten, vor allem in der jungen Generation. Die Urbanisierung werde dazu führen, dass schon bald 70 Prozent der Bevölkerung in Ballungszentren leben, so Gray. Trend Nummer zwei, der Aufstieg der Mittelklasse als Resultat des wirtschaftlichen Erfolgs der Schwellen- und Entwicklungsländer, macht ein eigenes Auto für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Gemeinsam mit der Urbanisierung resultiert daraus Trend Nummer drei: Die Verschlechterung der Luftqualität, zu dem der Verkehr einen Anteil von einem Drittel leiste. Der vierte Trend schließlich, die veränderten Nutzergewohnheiten jüngerer Generationen, führen zu einer Abkehr von althergebrachten Verhaltensmustern und Konsumgewohnheiten: für die Jüngeren steht das Auto nicht mehr so weit oben auf der Prioritätenliste wie früher.

Das hat Konsequenzen für die Autoindustrie. „Das Mobilitätsmodell, das wir heute haben, wird morgen nicht mehr funktionieren“, sagt Chuck Gray. „Wir werden schon bald intelligente Autos bauen, aber wir brauchen auch intelligente Straßen, Parkplätze und öffentliche Verkehrssysteme.“ Das Auto ist nicht mehr das alleinige Bezugssystem. „Jede Minute werden in den USA 30 neue Autos ausgeliefert, aber im selben Zeitraum erzeugt jedes Connected Car 450 KByte an Daten, fahren 125.000 Taxis sowie Uber- und Lyft-Fahrzeuge auf den Straßen umher, jede Minute werden 60.000 Fahrten mit Carsharing-Fahrzeugen unternommen.

Und die Autoindustrie? Sie habe es nicht so mit der gemeinsamen Nutzung von Bauteilen, kommentiert Chuck Gray. „Wir sind nicht gut darin, zusammenzuarbeiten.“ Denn wie viele gemeinsam genutzte Bauteile finden im Fahrzeugbau tatsächlich Verwendung? Der oberste E/E-Leiter von Ford hat es recherchiert: Ein einziges Teil haben Fahrzeuge über alle Marken hinweg gemeinsam, nämlich das Ventil im Autoreifen.

Das klassische Geschäftsmodell, bei dem der Kunde einzelne Features für die Fahrzeugkonfiguration bestellt, müsse um Services ergänzt werden, erklärte Thomas Müller, Vice President Development Chassis und Autonomous Driving bei Audi. Dabei gehe es vor allem um Flexibilität und Geschwindigkeit.

Das klassische Geschäftsmodell, bei dem der Kunde einzelne Features für die Fahrzeugkonfiguration bestellt, müsse um Services ergänzt werden, erklärte Thomas Müller, Vice President Development Chassis und Autonomous Driving bei Audi. Dabei gehe es vor allem um Flexibilität und Geschwindigkeit. Matthias Baumgartner

Chuck Gray vergleicht die Situation in der Autoindustrie und speziell in der Autoelektronik mit dem Siegeszug des IBM PC, der vor nunmehr gut 30 Jahren begann und seitdem eine ganze Industrie begründete. In den Autos sind, Stand heute, zahllose maßgeschneiderte Steuergeräte verbaut, für jede Funktion ein anderes. Der PC hingegen war gerade deswegen so erfolgreich, weil er weitestgehend auf die Standardisierung von Bauteilen setzte. Systemarchitektur, Kommunikationsverbindungen, Programmschnittstellen – alles standardisiert. Das ermöglichte Skalierbarkeit und war die Basis für Innovation und Differenzierung, so der Ford-Manager.

Für die Autoindustrie stellt sich die Frage, wie sie von Standardisierung und der Wiederverwendbarkeit von Teilen profitieren könne, wobei sich letzteres vor allem auf Softwarefunktionen beziehe. Wettbewerbsrelevante Differenzierungsmöglichkeiten gibt es in der Fahrzeugelektronik etwa bei den ganz hardwarenahen Schichten Sensorik/Aktorik, bei den Programmschnittstellen und -Diensten sowie bei den softwaregestützten Features und Applikationen.

„Wir brauchen einen anderen An­satz zur Zusammenarbeit“, fordert Chuck Gray. Dies schließe die Schaffung einer Standard-Referenzarchitektur für die bordeigene IT ein. Mit der Etablierung solcher Standards könne die Autoindustrie nicht nur viel Geld sparen: Wenn in der Branche jeder OEM seine eigene Computing-Plattform für die Fahrzeuge entwickle, komme leicht eine Summe jenseits der Marke von 7,5 Milliarden Dollar zusammen. Womöglich noch wichtiger ist aus Chuck Grays Sicht die Frage der Fachkräfte. Wenn jeder OEM weiterhin softwaretechnisch das Rad neu erfinden wolle, könne die Menge der zu entwickelnden Software die weltweite Kapazität an verfügbaren Embedded-Softwareentwicklern übersteigen.

Fahrerlebnis verbessern, ­Komplexität reduzieren

„Architektur hat (beim Fahr-Erlebnis) die Lösung geliefert, um nicht den Komplexitäts- oder Aufwands-Tod zu sterben.“ Thomas Müller (Audi)

„Architektur hat (beim Fahr-Erlebnis) die Lösung geliefert, um nicht den Komplexitäts- oder Aufwands-Tod zu sterben.“ Thomas Müller (Audi) Matthias Baumgartner

Fahrwerk und Fahrerlebnis werden für den Nutzer immer wichtiger, erläutert Thomas Müller, Vice President Development Chassis und Autonomous Driving bei Audi im Vortrag „Elektronik & Fahrvergnügen: Neue Möglichkeiten durch das Architektur-Design“. Das grundsätzliche Geschäfts-­modell lautet: Der Fahrer bestellt ein oder mehrere Features für das Fahrzeug, und diese bieten ihm das gewünschte Fahr-Erlebnis. Ein Beispiel dafür sei die Motion Sickness Control. Um dies er­möglichen zu können und an den Punkt zu gelangen, an dem die Autobauer heute sind, musste sich in der Architektur viel verändern.

Audi habe gelernt, in der Architekturauslegung aus zwei Richtungen zu kommen: einmal vom Anwendungsfall, hergeleitet auf eine logische Topologie, und andererseits habe der Architektur-Entwicklungsprozess schrittweise eine Abstraktion erhalten. Ohne diese Abstraktion wäre die Wirkketten-Technologie nicht beherrschbar. Viele verschiedene Systeme, insbesondere auch Fahrwerkssysteme, hatten früher einzelne Recheneinheiten mit einzelnen Software-Modulen und Reglern, wobei sich die einzelnen Elemente gegenseitig gestört hätten.

Diese Komplexität einzelner Systeme stellte die Entwickler vor große Herausforderungen. Daher war die Abstraktion der erste logische Schritt. Audi habe einen Integralregler entwickelt, der das Fahrzeug in der Summe betrachtet und dann zentral entscheidet, welcher Aktuator in welcher Fahrsituation – Agilisierung, Komfort oder Stabilisierung – zum Einsatz kommt. In Summe solle dies das perfekte Fahr-Erlebnis kreieren. „Architektur hat hier die Lösung geliefert, um nicht den Komplexitäts- oder Aufwands-Tod zu sterben“, führt Thomas Müller hierzu aus. „Heute kommen wir in unseren Fahrzeugen mit sechs Parametersätzen zurecht und können damit das gesamte Fahrzeug applizieren.“ Dies sei einer der größten Enabler gewesen, um bei der Entwicklung schneller zu werden.

Neue Nutzer dieser Systemwelt seien unter anderem ADAS-Systeme sowie das automatisierte Fahren. Auch hier lasse sich durch zusätzliche Abstraktion in der Architektur die Komplexität reduzieren. Das klassische Geschäftsmodell, bei dem der Kunde einzelne Features für die Fahrzeugkonfiguration bestellt, müsse um Services ergänzt werden. Bei diesen Services gehe es vor allem um Flexibilität und Geschwindigkeit, weniger um Komplexitätsabbau.

Hier gäbe es drei Aspekte, die wichtig sind: Was sind interessante Services, die sich mit dem Fahrzeug kombinieren lassen, um das Kundenerlebnis zu maximieren? Das Stichwort hier sei vor allem Info- und Entertainment. Als Zweites muss die Architektur Lösungen schaffen, die neuen Services mit der klassischen Welt des Automobils so zu verbinden, dass die Schnittstellen sicher sind und die jeweiligen Partner auch Zugriff auf die Produkte haben. Und schließlich sei die Kooperation ein wichtiges Thema – also die Komplexität des Produkts gemeinsam mit der Komplexität der Organisation selbst zu bewältigen.

Dipl.-Ing. Alfred Vollmer

Chefredakteur AUTOMOBIL-ELEKTRONIK

Dr.-Ing. Nicole Ahner

Redakteurin AUTOMOBIL-ELEKTRONIK

Dipl.-Ing. (FH) Christoph Hammerschmidt

Freier Journalist

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