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Industrielle Revolutionen werden oft erst in der Rückschau als solche erkennbar. An der vierten wird aber schon aktiv gearbeitet. Aber keine Revolution geschah bisher von Heute auf Morgen. Redaktion IEE

Die Industrie 4.0 wird kommen, allerdings nicht vor 2025. Das ist der Aussage einer VDE-Studie unter 1.300 Mitgliedern zur Fabrik von Morgen. Acht von zehn Unternehmen und Hochschulen sehen dies so, nur eine Minderheit glaubt an eine frühere Realisierung. Die größten Bremsklötze sind IT-Sicherheitsprobleme, fehlende Normen und Standards sowie der hohe Qualifizierungsbedarf.

40 % der Befragten glauben, dass Industrie 4.0 einen wichtigen Pfad zur Re-­Industrialisierung Europas eröffnet. In der Frage, ob die Revolutionierung der Produktionsprozesse mehr Arbeitsplätze schafft, gehen die Meinungen auseinander. Die einen glauben Arbeitsplätze werden wegfallen, andere, dass neue hinzukommen. Detlef Wetzel, Vorstandsmitglied der IG Metall, äußerte sich auf der Hannover Messe hoffnungsvoll: „Die optimistische Variante ist: Die Beschäftigten bleiben als Entscheider, Steuerer und Problemlöser wichtig.“ Ähnlich formulierte es auch Siegfried Russwurm, CEO des Sektors Industry und Mitglied des Vorstands von Siemens, auf der Unternehmens-Pressekonferenz: „Zu unseren Lebzeiten sehe ich den Menschen als Entscheider weiterhin in der Produktion.“ Den Trend, dass immer weniger ungelernte Arbeiter, aber immer mehr Facharbeiter gebraucht werden, sieht Russwurm auch weiterhin. Dies sei ein gesellschaftliches Problem, dass die Unternehmen alleine nicht lösen können, stellte er fest.

Industrie 4.0 im Detail

Über den VDE-Trendreport

An der Umfrage nahmen 1.300 Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland (90 %) teil. Etwa die Hälfte der befragten Unternehmen zählt bis 100 Mitarbeiter. Der Anteil der Ingenieure an der Belegschaft liegt bei knapp 17 %. Die meisten Unternehmen ordnen sich der Elektrotechnik zu (48 %). Die Branchen Energietechnik, Elektronik und IKT folgen mit Anteilen zwischen 19 % und 26 %. 79 % der befragten Hochschullehrer kommen aus Fachhochschulen, 21 % aus Universitäten. Elektrotechnik ist der häufigste Fachbereich (44 %), gefolgt von Elektro- und Informationstechnik (24 %). Die Studie kann für 250 Euro kann beim VDE bestellt werden. Für VDE-Mitglieder ist sie kostenlos.

Wirtschaftsstandort erstarkt, Branchen wachsen zusammen

Trotz arbeitspolitischer Bedenken versprechen sich viele vor allem einen positiven Effekt für die deutsche Wirtschaft. 73 % der in der VDE-Studie befragten Unternehmen und Hochschulen sind der Meinung, dass Industrie 4.0 den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken wird. Fünf von zehn sprechen Deutschland eine führende Stellung bei der intelligenten Produktionstechnologie zu. Profitieren werden insbesondere die Branchen Automobilbau (65 %), Maschinenbau (55 %) sowie die Elektrotechnik (48 %) und die IKT-Branche (31 %). Die ITK-Branche entdeckt zurzeit ihre Verwandtschaft zur Industrie neu. Sie sieht sich als starker Partner für die Industrie 4.0. „Wir liefern die Infrastrukturen, Prozess-Know-how und eingebettete Systeme – und wir machen dieses hochkomplexe System sicher“, erklärte Dr. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer der Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien), selbstbewusst. In einer aktuellen Umfrage des Branchenverbands gaben 80 % der IT-Unternehmen an, dass sie in den kommenden Jahren in Industrie 4.0 ein wichtiges Geschäftsfeld sehen. Fast jedes dritte Unternehmen maß diesem Thema bereits heute große Bedeutung zu.

Weiter Weg von Teilaspekten bis zur realen Produktion

Auch in der Bitkom-Umfrage zeigt sich die Diskrepanz zwischen Forschung und Wirtschaft, oder auch zwischen Realität und Marketing. Während die Forschung die vierte industrielle Revolution erst in 15 bis 20 Jahren Wirklichkeit werden sieht, erklärten 10 % der IT-Unternehmen, dass sie heute schon Lösungen für die Industrie 4.0 anbieten. Bei genauerer Betrachtung trifft dies aber nur auf Teilaspekte der Fabrik von Morgen zu. Mit diesem Voranpreschen sind die IT-Unternehmen jedoch nicht alleine. Vor allem in der Software-Halle 7, der Digital Factory, warben auch Maschinenbau-­nahe Unternehmen damit, schon heute Lösungen für die Industrie der Zukunft zu haben. Noch ist es aber ein langer Weg, bis wirklich komplette Anlagen virtuell existieren und die Produktionsabläufe 1:1 simulieren. Auch einige Automatisierer konnten der Versuchung nicht widerstehen, sich als besonders zukunftsorientiert zu präsentieren und über neuen Produkten die Industrie-4.0-Fahne zu hissen. Da es sich dabei vor allem um schon bekannte Konzepte handelt, relativiert den gewünschten Image-Effekt.

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Die Smart Factory zeigt an einer Demoanlage wie die Produktion von Morgen aussehen kann. Redaktion IEE

Wirklich live erleben konnten Besucher die Fabrik von Morgen in Halle 8 bei der Demonstrationsanlage des Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Ganz ohne alles verwaltende SPS, die zwar eingebaut aber ganz symbolträchtig außer Betrieb war, zeigte die modular aufgebaute Anlage die flexible Fertigung eines Produkts, dessen Bauteile (Gehäusedeckel, Gehäuseboden, Platine) gehandhabt, mechanisch bearbeitet und montiert werden. Drei zentrale Aspekte der vierten industriellen Revolution waren zu sehen: das intelligente Produkt (Smart Product), die kommunizierende Maschine (Smart Machine) und mit kontextsensitiven Informationen unterstützte Bediener (Augmented Operator).

Die flexible Fertigung ist auch in der VDE-Studie ein wichtiges Thema. 75 % der Studienteilnehmer versprechen sich von den Smart Factories eine größere Flexibilität. 60 % erhoffen sich mehr Effizienz im Verbrauch von Ressourcen, speziell von Energie (42 %). Kostenvorteile erwarten 45 % der Befragten, Einflüsse auf die Qualität der Produkte oder die Störanfälligkeit der Prozesse dagegen nur eine Minderheit.

Industrie 4.0 im Detail

Leitfaden Cyber-Physical Systems

Als Leitfaden und um das Thema Cyber-Physical Systems (CPS) zu verdeutlichen hat die VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) ein Papier zum Thema ‚Thesen und Handlungsfelder Cyber-Physical Systems – Chancen und Nutzen aus Sicht der Automation‘ veröffentlicht. Das Papier erklärt was CPS überhaupt sind, wie sie in der Produktion eingesetzt werden können und welches Potenziale sie haben. Neun Thesen und Handlungsfelder fassen die kritischen Faktoren für den Erfolg von CPS in der Automation zusammen. Zum Beispiel müssen die Abhängigkeiten zwischen Safety, Security und Echtzeitfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Vernetzung untersucht, formalisiert und für die Anwendung handhabbar gemacht werden. Auch müssen sich Störeinflüsse und Fehler bei CPS-basierten Systemen beherrschen lassen. Ein weiterer Faktor ist, dass adaptive Mensch-Maschine-Schnittstellen entwickelt werden müssen, die sich selbständig an die selbstorganisierenden Automatisierungssysteme anpassen.

Plattform Industrie 4.0 – „Besser, statt billiger.“

Eine solch lange Entwicklung zu begleiten und sie vor dem Versanden zu retten ist eine schwierige Aufgabe – vor allem, weil nach dem Getrommel oft eine große Stille einkehrt. Als genau ein solcher Wegbelgeiter gründeten Bitkom, ­VDMA und ZVEI im Januar 2013 die Plattform Industrie 4.0 gegründet. „Wir wollen die zentrale Anlaufstelle für das Zukunftsthema Industrie 4.0 werden und dafür alle relevanten Akteure aktiv einbinden und koordinieren“, fasste Rainer Glatz, VDMA, die Ziele zusammen. Die Plattform besteht zusätzlich zur verbandsübergreifenden Geschäftsstelle in Frankfurt aus einem Lenkungskreis, einem wissenschaftlichen Beirat und mehreren thematischen Arbeitsgruppen. Die gemeinsame Geschäftsstelle soll die Arbeit des Arbeitskreises ‚Industrie 4.0′ aufgreifen und fortsetzen. Im diesem Arbeitskreis haben in den vergangenen Jahren Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft Empfehlungen erarbeitet, wie Deutschland die vierte industrielle Revolution gestalten und als Gewinner aus ihr hervorgehen kann.

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Die Plattform Industrie 4.0 soll die vierte Revolution auf ihrem Weg in die Realität begleiten. Wirtschaftsminister Philipp Rösler gab auf der Messe den offiziellen Startschuss. Redaktion IEE

Auf der Hannover Messe übergab der Arbeitskreis seinen Abschlussbericht der Bundesregierung und markierte damit die endgültige Übernahme der Industrie-4.0-Thematik an die Plattform. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler lobte die Initiative: „Es ist wichtig, dass bereits frühzeitig die Weichen richtig gestellt werden. Die Plattform Industrie 4.0 leistet einen wichtigen Beitrag beim raschen Transfer von wichtigen Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die industrielle Praxis.“

Ein Kernpunkt des Abschlussberichts sind die Forschungsempfehlungen. Im Zentrum zukünftiger Forschungstätigkeit sollen die Untersuchung und Entwicklung autonomer, vollständig beschreibbarer, kontextabhängiger regelbarer Produktionssysteme stehen. An die Politik gingen auch Empfehlungen zu allen zentralen industriepolitischen Handlungs­feldern. Sie reichen von den Themen ­Referenzarchitektur, Sicherheit und Rechtsrahmen bis hin zur Aus- und ­Weiterbildung sowie Arbeits- und Unternehmensorganisation. Im Juni 2013 geht es mit einem von der Acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) koordinierten wissenschaftlichen Beirat weiter. Vertreten sind Professorinnen und Professoren aus den Fachbereichen Produktion und Automatisierung, Informatik sowie Jura und Arbeitssoziologie. Das klingt viel eher nach Evolution als nach Revolution.

Interview mit Holger Bödeker, AMA Service

„Die Sensorik nimmt eine fundamentale Position ein“

Welche Rolle nimmt die Sensorik auf dem Weg in Richtung Industrie 4.0 ein?
Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 wird zu einer Vernetzung sämtlicher industrieller Prozesse führen. Ein Großteil der Informationen, die dann noch intensiver zwischen Maschinen, Systemen und Menschen ausgetauscht werden, stammt von Sensoren. Sie nehmen damit eine fundamentale Position ein, ohne sie hätte Industrie 4.0 kein Innovationspotenzial.

Die Kommunikation aller Geräte miteinander spielt eine Schlüsselrolle im Zusammenhang mit Industrie 4.0. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass sich ein einheitliches Kommunikationsprotokoll durchsetzen wird und welche Rolle wird dabei die drahtlose Datenübertragung in zukünftigen Anlagen einnehmen?
Die große Zahl der heute im Einsatz befindlichen Bussysteme fordert den Herstellern von Sensoren und Messsystemen einiges an Flexibilität ab. Die Fähigkeit, mit diversen Protokollen kommunizieren zu können, ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Das wird auch zukünftig so bleiben, denn das Kommunikationssystem wird meist von der Anwendung vorgegeben und die Hersteller der messtechnischen Lösungen passen sich an. Im globalen Markt werden auch auf Dauer mehrerer Standards nebeneinander existieren, ich sehe hier keinen Favoriten für eine Vereinheitlichung. Das gilt genauso für die drahtlosen Protokolle, die insbesondere im industriellen Umfeld wegen vorherrschender Sicherheitsbedenken noch einen schweren Stand haben.

Industrie 4.0 heißt auch dezentral produzieren. Inwiefern stellt das zusätzliche Anforderungen an die Intelligenz der Sensoren? Was müssen Sensoren in Zukunft intern leisten, was heute Messgeräte oder Steuerungen übernehmen?
Sie müssen einfach nur den Weg ihrer aktuellen Entwicklung fortsetzen. Schon heute sind die meisten Sensoren ‚smart‘, viele verarbeiten die aufgenommenen Daten in integrierten Messsystemen unmittelbar zu qualifizierten Kenngrößen. Die Zahl der Sensoren und Messstellen wird mit Blick auf Industrie 4.0 weiter wachsen, intelligente dezentrale Systeme – auch mit integrierter – Aktorik werden dabei an Bedeutung gewinnen und zentrale Steuereinheiten entlasten.

Wann glauben Sie, könnte eine echte Industrie 4.0, fernab von Forschungsanlagen, Realität werden?
In einigen Teilen erfüllt unsere Industrie die Voraussetzungen schon recht gut und ich glaube, dass es schneller geht, als wir es uns heute vorstellen.

Melanie Feldmann

Redakteurin der IEE

(mf)

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