Sicherheit und Komfort für den Patienten, ergonomische Arbeitsbedingungen für das OP-Team – diese Bedingungen muss ein modernes OP-Tisch-System erfüllen. Ohne Elektronik geht es auch hier nicht. Bei Maquet stehen die Entwickler der OP-Tisch-System-Elektronik vor der Herausforderung, dass die Entwicklung beginnen soll, bevor der Prototyp des OP-Tisches zur Verfügung steht. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst bei einem vorhandenen Prototyp, dieser nicht jedem Entwickler jederzeit zugänglich ist.

Ein erster Schritt sind Simulationsmodelle, die virtuell alle geometrischen und kinematorischen Verhältnisse nachbilden. Doch was ist so kompliziert an einem vermeintlich einfachen OP-Tisch? „Bei einem modernen OP-Tisch-System bilden Patientenlagerfläche und OP-Tisch-Säule ein komplexes kinematisches System, das sich durch eine hohe Variabilität auszeichnet. Das HiL muss dieses System so genau wie nötig nachbilden,“ erklärt Gerd Leiprecht, Entwicklungsleiter bei Cosateq. Kompliziert wird es durch die verschiedenen Eingriffe und Untersuchungen, bei denen fast jede eine andere Patientenlagerung verlangt. Für eine Hüft-OP sollte eine hochgelagerte Position der Patientenlagerfläche möglich sein, damit der Chirurg auch bei längerer OP-Dauer ermüdungsfrei und rückenschonend arbeiten kann. Bei minimal-invasiven laparoskopischen Eingriffen, besser bekannt als Bauchspiegelung, ist eine extreme Tieflage erforderlich und für die Thoraxchirurgie hat sich die Seitenlage des Patienten als sinnvoll herausgestellt. Bei Bandscheiben-OPs ist die Knie-Ellenbogen-Lage gewünscht.

Komplexes kinematisches System

Ein modernes OP-Tisch-System wie das Magnus-System von Maquet weist deshalb vielfältige Einstellmöglichkeiten auf. Das wesentliche Element ist die OP-Tischsäule, die durch ihre Neigungssatteltechnik die Neigungswinkel bis 80 Grad ermöglicht und zugleich Kantungswinkel bis 45 Grad zulässt. Sie sichert stabile Kantlagen des Patienten, zeigt mit entsprechender Auslagerung gute Durchleuchtungsbedingungen und bietet freien Zutritt zum OP-Feld. Um die verschiedenen Patientenlagerungen zu erreichen, setzt sich die Lagerfläche des OP-Tisch-Systems Magnus aus einer Vielzahl gepolsterter Platten, beispielsweise für Kopf, Rücken, Beine und Rumpf (Bild 1) zusammen.

Visuell Bewegung steuern

Intelligente Lagersysteme von OP-Tischen fordern eine flexible Steuerung. Bei der Simulation wie sich der OP-Tisch in Echtzeit verhält, kommt das HiL-System ins Spiel. Es ermöglicht den Test von Steuerungsgeräten und deren Funktionen im virtuellen Umfeld. Es arbeitet wie Echtzeit-Systeme allerdings umfasst es noch eine reale Komponente.

Mit einem Bediengerät lässt sich die räumliche Ausrichtung der Platten in weiten Grenzen über motorische Gelenkmodulpaare einstellen. Zusammen mit den Einstellmöglichkeiten der OP-Tischsäule umfasst das Gesamtsystem neun Freiheitsgrade. Das sind drei Freiheitsgrade mehr als sie industriell genutzte Knickarm-Roboter haben. Durch die abnehmbare Lagerfläche lässt sich der Patient schon im Vorbereitungsraum darauf legen und mit einem Transporter zur OP-Säule fahren. Dort dockt die Lagerfläche an die OP-Säule an. Der Vorteil ist der, dass eine Umlagerung des Patienten damit entfällt.

Simulationsmodell als Basis

Alle möglichen Stellungen von OP-Tischsäule und Lagerfläche sowie der Andockvorgang bildet ein Simulationsmodell in Matlab/Simulink ab. Zum Ausführen des Simulationsmodells suchte Maquet einen flexiblen Hardware-in-the-Loop-Simulator (HiL), der das Verhalten des OP-Tisch-Systems in Echtzeit nachbildet. Den Zuschlag bekam Cosateq aus Wangen, ein Unternehmen, das sich auf Echtzeitsimulation, Steuerungs- und Regelungstechnik und Hardware fokussiert. Für Maquet nutzt Cosateq sein flexibles HiL-System genutzt, dessen Basis ein Industrie-PC bildet, den man mit den erforderlichen Schnittstellen-Karten bestückt.

Was ist HiL?

HiL steht für Hardware-in-the-Loop und ermöglicht ein gefahrloses, automatisiertes, kostengünstiges Testen von Steuergeräten im virtuellen Umfeld. Im Prinzip ist HiL eine Simulationsart, die sich von der reinen Echtzeit-Simulation durch das Hinzufügen einer realen Komponente unterscheidet. In diesem Fall ist die Hardware die OP-Tisch-Steuerung. Ein HiL-System stellt dem Steuergerät alle Ein- und Ausgangssignale zur Verfügung, die es in der späteren realen Umgebung „sieht“. Das HiL-Konzept entwickelt Costeq auch, da herkömmliche Testansätze wie Stimuli-Boxen mit offenem Regelkreis nicht die Dynamik von geschlossenen Regelkreisen testen können. Außerdem sind damit automatisierte Methoden zum Testen und Überprüfen aller Steuergerätefunktionen und die geforderte Testabdeckung zu akzeptablen Kosten möglich. Mit HiL lassen sich darüber hinaus Tests durchführen, die in einem realen Umfeld Geräte beschädigen und Menschen gefährden könnten.

Als Echtzeit-Simulationsumgebung, also die Softwareumgebung, die das OP-Tisch-Modell in Echtzeit ausführt, setzt Cosateq sein Scale-RT ein. Mitentscheidend für die Wahl von Scale-RT war, dass sich diese Echtzeit-Simulationsumgebung in vielen HiL-Projekten im Maschinenbau, Automotive, Avionik und Prüfstandsbau bewährt hat. Scale-RT fügt sich nahtlos in bestehende Toollandschaften ein. So werden auf der Modellierungsseite Matlab/Simulink, Scilab/Scicos und SimulationX unterstützt.

Deadline einhalten

Scale-RT kombiniert den Linux-Kernel mit der Echtzeiterweiterung Xenomai. Es unterstützt aktuelle Multicore-Prozessor-Architekturen und gängige I/O-Hardware von nahezu allen relevanten Anbietern. Als hartes Echtzeitsystem steht es mit seiner Umgebung in Wechselwirkung und liefert innerhalb einer spezifizierten Zeitschranke (Deadline) ein beabsichtigtes Ergebnis. Das bekannte Beispiel für eine harte Echtzeit-Anwendung ist das Antiblockiersystem (ABS). Es erkennt das Blockieren eines Rades über einen geeigneten Sensor und reduziert innerhalb einer vorgegebenen Zeitschranke die Bremskraft über einen Aktor (Bremszylinderventil).

Man spricht von einem harten Echtzeitsystem, weil das Berechnungsergebnis (verringere die Bremskraft) nach Überschreiten der vorgegebenen Zeitschranke ungültig wird und zu einer Gefährdung von Menschen oder Maschinen führen kann. Bei einem weichen Echtzeitsystem ist das Berechnungsergebnis nach dem Überschreiten der Deadline noch gültig. Ein Beispiel dafür ist eine Videokonferenzanlage, bei der bei einem Überschreiten der Zeitschranke allenfalls Bildframes verloren gehen. Eine Gefährdung der Beteiligten tritt jedoch niemals auf.

Alle Neune simulieren

Bei der OP-Tisch-Anwendung simuliert das HiL-System (Bild 2) alle Sensoren und Aktuatoren. In der späteren Anwendung erkennen digitale Hall-Sensoren, ob eine Lagerfläche an der OP-Säule angedockt oder ein Transporter da ist. Die Steuerung schränkt daraufhin den Bewegungsraum des Tisches ein, damit der Transporter nicht mit dem Tisch kollidiert. Der größte Teil des Simulationsmodells wird mit einer Zykluszeit von 1 Millisekunde ausgeführt. Die Simulation erfasst alle Antriebe mitsamt den zugehörigen Inkrementalgebern. Trotz der langsamen Bewegungsabläufe erfolgt eine Übertragung von relativ großen Datenmengen zwischen Lagerfläche und Säule. So läuft die Lagerflächenkommunikation mit rund 200 kBaud.

Die Drehzahlregelung der pulsbreitenmodulierten Gleichstrommotoren ist sehr zeitkritisch, da das HiL-System die Werte der simulierten Motoren auslesen und zurückschreiben muss, wie sie sich bewegen. Daraus resultiert eine Zykluszeit rund 250 Nanosekunden, die das HiL-System erst mithilfe einer speziellen FPGA-Karte meistert. Das HiL-System simuliert neun Antriebe – davon sind fünf in der Lagerfläche und vier in der Säule integriert.

Steuerungssoftware-Test

Warum wird ein so aufwändiges Verfahren wie HiL verwendet? Dazu bemerkt Leiprecht: „Steuergeräte werden zunehmend komplexer. Demgegenüber steht die Forderung nach dem Durchführen von Validierungstests; in möglichst kurzer Zeit und zu möglichst geringen Kosten. Der Vorteil des virtuellen Testens mit der HiL-Simulation kann erheblich sein, da die Produktivität der Entwickler steigt und die Kosten im Rahmen bleiben.“ Maquet genießt noch andere Vorteile des HiL-Systems. Bereits in einer frühen Projektphase lässt sich die Software zur OP-Tisch-Steuerung entwickeln und schrittweise testen. Leiprecht stellt klar: „Durch die Echtzeit-Simulation bekommen die Entwickler einen besseren Eindruck davon, was am Tisch selbst passiert. Sie können Testläufe durchführen, die am realen Tisch ohne dessen Beschädigung nicht möglich wären.“

Das Verhalten von Sensoren, die im realen Tisch unzugänglich sind, lässt sich untersuchen. Auch die Lagerflächen und deren Verstellmöglichkeiten erfordern frühzeitige Testmöglichkeiten. Michael Früh, Leiter der Elektronik- und Softwareentwicklung bei Maquet für den Bereich OP-Tische erklärt: „Bereits nach einer kurzen Nutzungszeit des Cosateq-HiL-Systems hat sich gezeigt, dass man mit der Entwicklung und dem Test der Software für die Steuerungen schon beginnen kann, bevor ein Prototyp zur Verfügung steht. Auch dass sich die neue Version unter den gleichen Kriterien wie die Vorgängerversion testen lässt, verkürzt die Entwicklungszeit.“

Dieter Strauss

ist selbstständiger Texter für Technikthemen und befasst sich seit mehreren Jahren mit Simulationstechnik.

(rao)

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Cosateq Gmbh & Co. KG

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