776iee0817 Automatisierungspyramide OPC TSN Ethernet Echtzeit

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Im Anwendungsbereich der industriellen Automatisierungstechnik bestehen hohe Anforderungen an die zuverlässige Übertragung von Daten in Echtzeit. Speziell im Bereich der von Antriebssystemen für schnelle Bewegungen in Maschinen haben die Anforderungen hinsichtlich der Zyklus- und Latenzzeiten an die verwendeten Kommunikationssysteme stetig zugenommen. Gleichzeitig steigt die zu übertragende Datenmenge durch immer mehr Diagnose- und Wartungsdaten sowie Peripheriedaten. Dies  führte dazu, dass neben den klassischen Feldbussystemen Ethernet-basierte Feldbussysteme entwickelt wurden. , schon viele Jahrzehnte im Einsatz als Netzwerktechnologie für IT- und Internetanwendungen, schien eine optimale Lösung für die Weiterentwicklung der zu sein, da es mit 100 Mbit/s deutlich schneller als die Feldbussysteme ist, deutlich mehr Bandbreite bereithält und durch seine Verbreitung eine bewährte Technologiebasis hat. Einziges Manko von Standard-Ethernet bislang: die fehlende Echtzeitfähigkeit.
Daher haben die hinter den Feldbussystemen stehenden Organisationen und Firmen eigene, teils sehr unterschiedliche Ansätze und Lösungen entwickelt, um Ethernet echtzeitfähig zu machen. Zudem wurde auf dieses die bewährten Konzepte der jeweiligen Feldbussysteme übertragen und erweitert. Die Folgen sind bekannt: Diverse Echtzeit-Ethernetstandards, die zwar auf der physikalischen Schicht (Layer 1) kompatibel sind, auf der Datenübertragungsschicht und darüber jedoch in der Regel sich vollständig inkompatibel zueinander verhalten.

TSN – der universelle Ethernet-Echtzeitstandard

Tabelle IEE 802 TSN Fortschritt

Die einzelnen TSN-Standards und deren aktueller Status. Von zehn Spezifikationen sind gerade drei verabschiedet. HMS

In der Fabrikautomation spielt nicht nur die Vernetzung der Komponenten innerhalb der Maschinen eine essentielle Rolle, sondern auch die Vernetzung zwischen Maschinen, Robotern und Fördertechnik in einer Produktionsanlage. Auch hierfür bietet sich Ethernet an, um eine größere Menge an Daten schnell zu transportieren, aber auch um eine einfache Anbindung der Produktionsanlage an die Unternehmens-IT zu ermöglichen. Allerdings erfordert auch die Vernetzung der Produktionsanlagen untereinander eine Echtzeitkommunikation, um Prozessschritte über einzelne Maschinen und Anlagenelemente hinweg zu synchronisieren.
Nicht nur aus der Automatisierungswelt kommt die Forderung nach einem einheitlichen Standard für Echtzeiteigenschaften für Ethernet, sondern auch aus Bereichen wie den Automobilherstellern (Ethernet im Fahrzeug), dem Finanzwesen (Echtzeitkommunikation für die Börse) oder aus der Multimediawelt (Verteilung von und synchron über das Netzwerk). Aus diesem Grund hat die 802.1 Arbeitsgruppe der die „Time-Sensitive Networking Task Group“ gegründet, um eine Echtzeit Erweiterung für Ethernet nach 802.1 zu definieren.

TSN – ein Baukasten aus zehn Standards

Die Echtzeiterweiterung darf man jedoch nicht als einen einzelnen Standard in Form einer Spezifikation verstehen, welche Ethernet echtzeitfähig macht. Vielmehr ist ein Baukasten aus aktuell zehn Standards für einzelne Mechanismen und Funktionen.
Je nach Anwendungsbereich und dessen Anforderungen lässt sich daraus die für das Echtzeitverhalten geforderte Funktionalität zusammenstellen. Dies erproben derzeit verschiedene Firmengruppen im Rahmen ihrer Testbeds, beispielsweise das Industrial Internet Consortium (IIC) in seinem TSN Testbed oder das Testbed des Labs Network Industrie 4.0 e.V. (LNI 4.0), welches am Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Augsburg aufgebaut wird.
Derzeit sind erst drei – Frame Preemption, Enhancements for Scheduled Traffic sowie Path Control and Reservation – der zehn Standards verabschiedet. Die restlichen befinden sich noch in der Entwicklung beziehungsweise Standardisierung durch die IEEE.
Alle Mechanismen von TSN konzentrieren sich im Wesentlichen darauf, die Echtzeitfähigkeit in der Schicht 2 zu realisieren. Dies bedeutet: TSN für sich allein gesehen ist kein Ersatz für die heutigen Einsatzbereiche der Feldbus- und Industrial-Ethernet-Systeme. Denn hierzu werden TSN wesentliche Eigenschaften fehlen:
– Applikationsschicht mit definierten Kommunikationsdiensten und zugehörenden Protokollen
– Dienste für Netzwerk-, Geräte- und Anwendungsmanagement
– Safety-Unterstützung
– Geräte- und Applikationsprofile
– Conformance Tests zur Sicherstellung der Inter­operabilität
Die Feldbus- und Industrial-Ethernet-Systeme wurden dagegen speziell für den Einsatz in Steuerungsnetzwerken innerhalb von Maschinen konzipiert (OT-Bereich). Diese Systeme haben neben der Echtzeitfähigkeit die aufgeführten spezifischen Eigenschaften.
Hinzu kommt deren vorhandenes Ökosystem als ein wesentlicher Wert: Es existiert bei Herstellern und Anwendern ein breites Wissen über die Systeme. Viele Gerätehersteller, Technologieanbieter und Systemintegratoren unterstützen die Systeme mit entsprechenden Schnittstellen, Software- und Hardware-Tools für die Entwicklung von Geräten sowie für die Inbetriebnahme und Diagnose. Letztere sind mitunter die wichtigste Voraussetzung für die breite Akzeptanz eines Kommunikationssystems in der Automatisierungswelt.

Seite 2 geht der Frage nach, ob durch TSN etablierte Strukturen aufbrechen.

Brechen etablierte Strukturen auf?

776iee0817_Bild2A (heutige Struktur)

Die typische, hierarchisch geprägte Automatisierungsstruktur... HMS

776iee0817_Bild2B (zukünftige Struktur)

...wird mit TSN und OPC UA wesentlich flacher: Meshed Networks könnten die künftige Struktur von Fabrikautomationsnetz-werken sein. HMS

Die heutige Struktur von Fabrikautomationsnetzwerken ist in der Feldebene durch die verschiedensten industriellen Kommunikationssysteme geprägt; in der Regel abhängig davon, welcher Steuerungshersteller eingesetzt wird. Innerhalb der Maschine vernetzen diese Kommunikationssysteme I/O-Knoten, sowie sicherheitsgerichtete Komponenten.
In einer Produktionslinie mit unterschiedlichen Maschinentypen sind daher zur Vernetzung der Maschinen bzw. deren Steuerungen untereinander in der Regel auch notwendig. Zur Anbindung an die /ERP-Ebene und damit zur IT-Welt kommt in der Regel heute schon Standard-Ethernet zum Einsatz, manchmal in Verbindung mit (classic) oder OPC UA als Protokoll. Oft braucht es aber auch hier noch Gateways für die Anbindung der Maschine(n) an die IT.

‚Grenzüberschreitende‘ Kommunikation per TSN und OPC UA

Für den sogenannten Factory Backbone, der die Maschinen untereinander und mit der IT-Welt verbindet, wird TSN in Verbindung mit OPC UA als zentrale Lösung gesehen: TSN ermöglicht einerseits Echtzeitkommunikation zwischen den Maschinen, die unerlässlich ist für eine immer engere Kopplung und Integration der Maschinen mit den Produktionsprozessen. Andererseits wird TSN als Bestandteil des allgemeinen Ethernet-Standards künftig in Switches und Ethernet-MACs integriert sein und allein auf Grund der hohen Stückzahlen dadurch kostengünstig verfügbar sein. Zudem erlaubt die Technologie die Integration von Geräten ohne eigenes TSN-Interface in entsprechende Netzwerke.
Auch OPC UA spielt dabei eine zentrale Rolle. Dessen einheitliche Semantik ermöglicht die Definition von Diensten, Protokollen und Datenbeschreibungsmethoden – alles wesentliche Aspekte für den Austausch von Daten zwischen den Steuerungen und der IT-Welt. Darüber hat OPC UA die notwendigen Security-Mechanismen in Form von Datenverschlüsselung und Authentifizierung, die in derartigen räumlich verteilten Netzwerken, ggf. mit , erforderlich sind. Hinzu kommt die Pub/Sub-Erweiterung (Spezifikation derzeit in Arbeit), welche die notwendige Voraussetzung für eine Echtzeitkommunikation in Verbindung mit TSN schafft.
Stehen OPC UA und TSN als gemeinsame Netzwerktechnologie zur Verfügung, ist davon auszugehen, dass sich die bisherige Struktur der Fabrikautomationsnetzwerke mittelfristig wandelt: TSN und OPC UA werden dann zur Vernetzung der Maschinen untereinander in den Produktionslinien und mit der IT-Welt genutzt. Ebenso denkbar wäre es, dass sich die heute in Fabrik- und Produktionsanlagen vorhandenen Netzwerkhierarchien auflösen und so genannte meshed networks entstehen.

TSN und OPC UA auch für Steuerungsnetzwerke?

Am Puls der Zeit

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Anybus-Modul für Profinet mit integriertem OPC UA-Server HMS

HMS Industrial Networks wird mit den Anybus-Produkten künftig einen einfachen Einstieg oder Umstieg in TSN-basierte Netzwerke ermöglichen. Hierzu engagiert sich HMS in der „Time-Sensitive Networking Task Group“ innerhalb der IEEE 802.1 Arbeitsgruppe. Zusätzlich zu TSN werden die Komponenten auch OPC UA-Server- bzw. MQTT-Server-Funktionalität integriert haben. Der Vorteil: Parallel zu dem verwendeten industriellen Protokoll kann auch per OPC UA mit dem Gerät kommuniziert werden. Ebenso kann das Gateway direkt mit der IT-Welt kommunizieren. Erste Varianten mit Profinet/IRT und OPC UA bzw. MQTT sind bereits als Muster verfügbar.

Als Steuerungsnetzwerk, also innerhalb von Maschinen, ist eine Lösung bestehend aus TSN und OPC UA aus heutiger Sicht nicht oder nur bedingt geeignet: Für OPC UA gibt es bislang keine Geräteprofile, welche beispielsweise festlegen, wie die Daten und Parameter eines Antriebs definiert, referenziert und codiert übertragen werden. Ohne Profil kann es keinen Konformitätstest geben, der das korrekte Verhalten eines Geräts und seiner Daten im Netzwerk prüft. Somit wäre eine Interoperabilität von Geräten, auf die sich Maschinenhersteller und Systemintegratoren verlassen, nicht mehr sichergestellt. Ebenso fehlen Mechanismen und Dienste für das in Steuerungssystemen notwendige Geräte- und Netzwerkmanagement.
Nicht unerwähnt bleiben sollen die sogenannten Compagnion-Standards, die derzeit spezifiziert werden und die einerseits OPC UA Schnittstellenprofile auf Maschinenebene (z.B. für Extruder), andererseits aber auch die Nutzung von OPC UA in Verbindung mit den Feldbussystemen definieren.
OPC UA führt aber auch einen deutlichen Protokoll-Overhead ein, der für die schnelle Übertragung von Steuerungsdaten, die ihrer Aufgabe entsprechend kurz sind (wenige Bytes bis zu einzelnen Bits), dafür aber häufig übertragen werden, zu längeren Übertragungszeiten führen würde. Dies und auch die erforderlichen Speicherressourcen für das Ausführen eines OPC UA Softwarepakets verlangen schnellere CPUs und mehr in den Geräten zur Bearbeitung der Protokolle und Daten in derselben oder noch kürzeren Zeit. Das führt in der Regel zu höheren Gerätekosten. Hier könnte das nach wie vor gültige mooresche Gesetz helfen, die Kosten zumindest konstant zu halten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Thema , also die Übertragung von sicherheitsrelevanten Daten über das Kommunikationsnetzwerk. Hier müssten bei Einsatz von OPC UA erst noch die notwendigen Voraussetzungen in Form von Spezifikationen und verfügbarer geschaffen werden.
Generell zeigt ein Blick zurück, dass im Bereich der Steuerungsnetzwerke die Entwicklung und Einführung von neuen Technologien viel Zeit beansprucht, da der Fokus vor allem auf Robustheit, Zuverlässigkeit, Langzeitverfügbarkeit aber auch Kosten liegt.
Ein gutes Beispiel ist die Einführung der Industrial-Ethernet-Systeme: selbst heute, 20 Jahre nach deren Einführung basiert die Mehrzahl der Netzwerke immer noch auf dem klassischen Feldbus.

TSN als universelles Echtzeit-Ethernet für IT und OT

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TSN fehlen noch wichtige Eigenschaften etablierter Kommunikationssysteme. Deshalb wird die Umstellung im industriellen Umfeld wie schon beim Wechsel von Feldbussystemem zu Ethernet-basierten Systemen nicht von heute auf morgen gehen. HMS

Ein Umstieg auf den einheitlichen Ethernet-Standard 802.1 mit seinen TSN-Echtzeiterweiterungen könnte beschleunigt werden, indem etablierte Industrial-Ethernet-Systeme diesen Standard als eine weitere Datenübertragungsschicht verwenden.
Damit lassen sich das eingangs erwähnte Ökosystem sowie die bestehenden Spezifikationen für Geräteprofile, Netzwerk- und Gerätemanagement, Safety usw. weiter verwenden. Es gäbe also für den erfahrenen Maschinenbauer oder Systemintegrator keinen wesentlichen Bruch mit der bekannten Technologie und Infrastruktur. Ein wesentlicher Vorteil dieser Lösung wäre auch, dass eine durchgängige zwischen IT-Welt und Automatisierungs­geräten innerhalb der Maschine parallel zur Steuerungskommunikation auf Grund der identischen Datenübertragungsschicht deutlich einfacher zu realisieren wäre. TSN stellt dabei die Echtzeitkommunikation für die Steuerungskommunikation sicher.
Den Reiz dieses Ansatzes haben auch die Nutzerorganisationen erkannt: Unter anderem hat die PI ( + International) Organisation erklärt, TSN als weitere Datenübertragungsschicht und als Ersatz für die IRT-Kommunikation im Profinet zu spezifizieren. Mit der Fertigstellung der Spezifikationen ist nicht vor 2019 zu rechnen. Ebenso arbeitet auch die ODVA bereits an entsprechenden Spezifikationen.
Allerdings ist für den Einsatz von TSN in den Steuerungsnetzwerken noch einiges an Spezifikations- und Entwicklungsarbeit zu leisten: Zunächst muss definiert werden, welche Elemente von TSN in welcher Form zum Einsatz kommen. Ein wichtiger Aspekt für Steuerungsnetzwerke ist dabei die Linientopologie, für die es cut through-Swichtes braucht, um Latenzzeiten bei der Übertragung von Daten möglichst kurz zu halten. Dies ist jedoch in den TSN-Spezifikationen bislang nicht vorgesehen, da der TSN-Ansatz sehr stark von der IT-Welt geprägt ist, die traditionell auf Stern-Topologien setzt.
Auch ist noch ungeklärt, wie ein TSN-Netzwerk konfiguriert wird. Hierzu sind verschiedene Ansätze in der Diskussion. Allerdings kommt für Steuerungsnetzwerke eine dezentrale, quasi selbständige Konfiguration sicher nicht in Frage. Schließlich muss das Netzwerk jederzeit zuverlässig funktionieren. Somit wird unter anderem ein Engineering-Werkzeug benötigt, das auch ein SPS-Programmierer bedienen können muss, wenn er ein und das damit verbundene Netzwerk in Betrieb nimmt.
Die Frage, wie sich die TSN-Technologie entwickeln und etablieren wird, bleibt spannend. TSN wird aber sicherlich künftig eine wichtige Rolle spielen.

Christian Schlegel

ist Leiter der Business Unit IXXAT von HMS Industrial Networks und Geschäftsführer des Technologiezentrums Ravensburg.

(sk)

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