Zur Absicherung von Gefahrenstellen kommen häufig Lichtvorhänge, Lichtgitter, Laserscanner, Schaltmatten, Zweihandschaltungen oder andere Schutzeinrichtungen zum Einsatz. Die neue Norm EN ISO 13855 ‚Sicherheit von Maschinen – Anordnung von Schutzeinrichtungen im Hinblick auf Annäherungsgeschwindigkeiten von Körperteilen‘ definiert wichtige Parameter zur korrekten Anwendung dieser Schutzeinrichtungen und nimmt verriegelte trennende Schutzeinrichtungen wie Schutztüren ohne Zuhaltung und zweidimensionale Sichtsysteme (Kamerasysteme) neu auf. Neue praxisgerechte Berechnungen des Mindestabstandes zum Gefährdungsbereich unter Berücksichtigung der Übergreifbarkeit sollen ein Umgehen des Schutzfeldes verhindern.

Verbesserung der Definitionen

Neben den aus EN 999:2008 bekannten Definitionen der Begriffe ‚Auslösen‘, ‚Nachlauf des gesamten Systems‘, ‚Sensordetektionsvermögen‘ und ‚Berührungslos wirkende Schutzeinrichtungen‘ wurden neue Begriffsdefinitionen in die Sicherheitsnorm aufgenommen. So ist eine ‚Annäherung indirekt‘, wenn der kürzeste Weg zum Gefährdungsbereich durch ein mechanisches Hindernis versperrt ist. Das heißt im Klartext, dass der Gefährdungsbereich lediglich erreicht werden kann, wenn sich eine Person um das Hindernis annähert.

Das ‚Umgehen des Schutzfeldes‘ wird in der Norm konkretisiert als das Erreichen einer Gefahrstelle durch „Über- oder Unterqueren oder seitliches Passieren des Schutzfeldes“. In Fällen, in denen sich das Umgehen eines Schutzfeldes nicht verhindern lässt, definiert EN ISO 13855 Maßnahmen, die ein Übergreifen oder Unterkriechen bestmöglich verhindern können, zum Beispiel durch die Kombination von berührungslos wirkenden Schutzeinrichtungen mit trennenden Schutzeinrichtungen.

Der Mindestabstand einer Schutzeinrichtung zu einem Gefährdungsbereich ist eine zentrale Größe der Maschinensicherheit. Er muss so groß sein, dass eine Gefahr bringende Maschinenfunktion gestoppt ist, bevor eine Person die Gefahrstelle erreichen kann. Das Abwarten des vollständigen Anhaltens der Gefahr bringenden Bewegungen ist aber nicht zwangsläufig notwendig, um von einem sicheren Zustand zu sprechen. Bei manchen Maschinenbewegungen ist ein sicherer Zustand auch schon vor dem vollständigen Stopp der Gefahr bringenden Bewegung erreicht. Das ist dann der Fall, wenn die verbleibenden Maschinenfunktionen als ungefährlich betrachtet werden können. Bei der Berechnung der Nachlaufzeit geht die Norm im Anhang D von der längst möglichen Nachlaufzeit aus (worst case). Zusätzliche Faktoren wie Umgebungsbedingungen der Maschine und mögliche Abnutzung der Bauteile, zum Beispiel Verschleiß von Bremsen, Abnutzung von Reifenmaterial oder glatte Bodenbeschaffenheit für Fahrerlose Transportfahrzeuge, sind dabei zu berücksichtigen.

Neue Methodik gegen Umgehen des Schutzfeldes

Die wohl grundlegendste Änderung gegenüber der alten EN 999:2008 ist die Berücksichtigung des Übergreifens von optoelektronischen Schutzeinrichtungen. Diese Problematik ist nicht neu, allerdings gab es bisher keine Vorgehensweise zur Festlegung der notwendigen Höhe. Bisher wurde die notwendige Höhe einer feststehenden trennenden Schutzeinrichtung nach EN 953, zum Beispiel die eines Zauns, als obere Schutzfeldgrenze zugrunde gelegt. Dies führte oft zu überdimensionierten Schutzfeldern. Da man sich im Gegensatz zu feststehenden trennenden Schutzeinrichtungen an diese Schutzfelder nicht anlehnen kann, um durch Übergreifen einen Gefährdungsbereich zu erreichen, reichen kleinere Schutzfelder aus. Eine dahingehende von der Industrie gewünschte Präzisierung ist durchaus sinnvoll, da sie den notwendigen Schutz des Bedieners sicherstellt und die Kosten reduziert.

EN ISO 13855 gibt dem Anwender eine Schritt-für-Schritt-Anleitung an die Hand, um diese Präzisierung umzusetzen, die wie bei der EN 999 in drei mögliche Ergebnisse mündet: Anwenden des Mindestabstandes, Anwenden des Mindestabstandes mit ergänzenden Maßnahmen oder notwendiges Anwenden zusätzlicher Schutzeinrichtungen.

Nicht übergreifen

Als erste Konsequenz der neuen Norm lässt sich bei vielen Gefahrstellenabsicherungen die Schutzfeldgröße verringern. Die neue EN ISO 13855:2010 konkretisiert jetzt die Maßnahmen im Falle der Übergreifbarkeit von senkrechten, berührungslos wirkenden Schutzeinrichtungen (BWS). Allerdings gibt es auch einige Zugangsabsicherungen, bei denen entweder der Mindestabstand S vergrößert oder die obere Schutzfeldgrenze b durch weitere Strahlen erhöht werden muss. Relevant für die Bestimmung der notwendigen Höhe einer BWS ist der Eindringabstand C. Dieser wird definiert als „Abstand, um den sich ein Körperteil an der Schutzeinrichtung vorbei in Richtung des Gefährdungsbereichs bewegen kann, bevor die Schutzeinrichtung ausgelöst wird“.

Im ersten Schritt wird der Eindringabstand C gemäß der bekannten Formeln für ein rechtwinklig zur Annäherungsrichtung ausgerichtetes Schutzfeld bestimmt:

CRT = 8 * (d – 14) für BWS mit einer Auflösung von d <= 40 mm oder

CRT = 850 für BWS mit einer Auflösung von d > 40 mm

Die Indexbezeichnung RT steht für Reach Through – der Eindringabstand C ist hierbei bezogen auf ein Durchgreifen durch die BWS und abhängig vom Auflösungs- oder Detektionsvermögen der BWS.

Im zweiten Schritt kommt die Tabelle 1 der EN ISO 13855 zur Anwendung. Dabei wird zuerst die maximale Höhe a des Gefahrbereichs definiert (1), anschließend sucht man im Vergleich zum auflösungsabhängigen CRT den erstkleineren beziehungsweise gleichen Wert des horizontalen Abstands CRO in der entsprechenden Tabellenzeile (2) und liest den Wert der erforderlichen Höhe der Schutzfeldoberkante b in der untersten Zeile der entsprechenden Spalte ab. Die Indexbezeichnung RO steht für Reach Over – der Eindringabstand C ist hierbei bezogen auf das Übergreifen einer BWS. Das Ergebnis zeigt, dass die Schutzfeldoberkante für den zugrunde gelegten Mindestabstand einer BWS mit einem Auflösungsvermögen größer als 40 mm bei einer Gefahrbereichshöhe von 1400 mm mindestens 1400 mm betragen muss.

Was aber, wenn die Schutzfeldgröße in einem Projekt bereits festgelegt wurde. In diesem Fall zeigt die EN ISO 13855 auf, wie der Abstand dieser geplanten BWS zum Gefährdungsbereich festgelegt wird. Dazu wird der Eindringabstand CRO bestimmt. Man legt zuerst die erforderliche Höhe b der Schutzfeldoberkante in der untersten Zeile der Tabelle fest (1). Anschließend ermittelt man die Zeile der maximalen Höhe a des Gefährdungsbereichs (2) und liest schließlich den erforderlichen Zuschlag CRO im Schnittpunkt der Zeile (2) und der Spalte (1) ab. Das Ergebnis zeigt, dass der horizontale Zuschlag des Mindestabstandes bei Verwendung einer dreistrahligen Standard-BWS (300 – 400 -1.100 mm) zur Absicherung einer 1400 mm hohen Gefahrstelle 1100 mm statt der früher üblichen 850 mm betragen muss.

Indirekte Annäherung an einen Gefährdungsbereich

Von einer indirekten Annäherung an einen Gefährdungsbereich spricht die EN ISO 13855 dann, wenn der Weg zum Gefährdungsbereich durch Hindernisse eingeschränkt ist. In diesem Fall setzt die neue Norm die Annäherungsgeschwindigkeit von 2,0 m/s auf 1,6 m/s herab. Existieren mehrere Gefährdungsbereiche, die durch eine einzelne BWS abgesichert werden, so ist der jeweils größere der errechneten Mindestabstände für die BWS anzuwenden. Man vergleicht die Mindestabstände, die sich aus der Berechnung von SA und SB (I1+I2) ergeben und wählt den größeren Wert.

Auch eine Tür schützt nicht vollkommen

Analog zur Vorgehensweise bei berührungslos wirkenden Schutzeinrichtungen muss auch bei verriegelten trennenden Schutzeinrichtungen ohne Zuhaltung ein Mindestabstand eingehalten werden. Da der Gefährdungsbereich nach dem Öffnen der entsprechenden Schutzeinrichtung erreicht werden kann, muss auch hier die Gefahr bringende Maschinenfunktion rechtzeitig gestoppt werden und ein Mindestabstand ist somit erforderlich. Die hierfür anzuwendende Formel lautet:

S = (K * T) + C

Für K muss eine Annäherungsgeschwindigkeit von 1,6 m/s angenommen werden. Falls sich Finger oder Hand einer Person vor der Erzeugung des Stoppsignals durch die Öffnung der Schutzeinrichtung zum Gefährdungsbereich bewegen können, muss der Eindringabstand C durch Anwendung der Tabelle 4 oder 5 der EN ISO 13857:2008 ermittelt werden. Wenn sich der notwendige Mindestabstand nicht realisieren lässt, muss eine Verriegelung mit Zuhaltung gemäß EN 1088 (in Zukunft ISO 14119) verwendet werden. Diese gibt den Zutritt erst nach dem Stopp der Gefahr bringenden Maschinenfunktion frei.

Nicht drunter durch

Die Anwendung von einstrahligen BWS wird jetzt im Punkt 6.2.6. der neuen Norm berücksichtigt. Als alleinige Lösung für eine Zugangsabsicherung sollten einstrahlige Schutzeinrichtungen jedoch vermieden werden. In der Praxis sollten einstrahlige Schutzeinrichtungen mit weiteren Schutzeinrichtungen kombiniert werden.

Auch zweistrahlige Einrichtungen dürfen nur dann als Zugangsabsicherung verwendet werden, wenn es die Risikobeurteilung nach der Maschinenrichtlinie zulässt. Der Anwender muss hierfür genau prüfen, ob eine zweistrahlige Einrichtung, bei der sich der unterste Strahl in einer Höhe von 400 mm befindet, einfach umgangen (unterkrochen) werden kann. Dies ist in vielen Anwendungen der Fall. In Konsequenz ist damit die mögliche Minimallösung eine dreistrahlige Einrichtung mit Strahlhöhen von 300, 700 und 1.100 mm. Wo der Maschinenhersteller bisher eine drei- oder vierstrahlige Einrichtung eingesetzt hatte, muss er mit Inkrafttreten der EN ISO 13855 entweder den Mindestabstand vergrößern oder die obere Schutzfeldgrenze durch weitere Strahlen erhöhen.

Zurücklehnen geht nicht mehr

Seit dem 01. Dezember 2010 sollte die EN ISO 13855 auf alle ab diesem Zeitpunkt in Verkehr gebrachten Maschinen angewendet werden. Für den Konstrukteur bedeutet dies, dass Mindestabstände und Schutzfeldgrenzen anders als bisher bewertet werden müssen. Bereits in Verkehr gebrachte Maschinen fallen nicht unmittelbar unter die neuen Maßgaben der EN ISO 13855. Allerdings hat der Betreiber gemäß Betriebssicherheitsverordnung eine Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsmittel durchzuführen und gegebenenfalls Anpassungen der Mindestabstände vorzunehmen. 

SPS/IPC/Drives 2011
Halle 7A, Stand 340

Christian Thol , Otto Görnemann

: Safety Solution Development und Manager Machine Safety & Regulations bei der Sick AG in Waldkirch

(mf)

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