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Bild 1: Verschiedene Betriebssysteme in einem modernen Automobil.

Bild 1: Verschiedene Betriebssysteme in einem modernen Automobil.Mentor Graphics

Das Betriebssystem Linux hat seinen Weg in viele Bereiche des täglichen Lebens gefunden – vom Hosting von Social-Media-Sites wie Twitter und Facebook bis zur Wall Street, wo über 80 Prozent aller Finanztransaktionen auf Linux-Servern erfolgen. Mittlerweile gibt es über 100 Linux-Varianten auf dem Markt. Die Anwendungsgebiete reichen von Home- und Office-Desktops bis zu kundenspezifischen Applikationen. Linux wurde zur größten gemeinsamen Softwareentwicklung aller Zeiten. Mehr als 8.000 Entwickler aus über 800 Unternehmen aus jedem Winkel der Welt sind seit 2005 daran beteiligt. Das Betriebssystem hat sich als sicheres und zuverlässiges Fundament in nahezu jedem Marktsegment bewährt. Da es keinem einzelnen Unternehmen gehört, profitiert es zwar nicht von stark konzentrierten Marketingkampagnen, aber dennoch ist seine Popularität sowohl in der Open-Source-Gemeinde als auch in vielen kommerziellen Implementierungen stetig gewachsen. Durch seine Stärke als anpassungsfähiges Multi-Tasking-Betriebssystem, das nahezu jede Hardware-Peripherie unterstützt, fand Linux Anwendungen in vielen Branchen und eine Heimat in Fahrzeug-Infotainment-Systemen (In-Vehicle Infotainment – IVI).

Da IVI-Systeme immer komplexer werden, steigen auch die Anforderungen an die Hardware und Betriebssysteme. Heutige Autokäufer erwarten Unterstützung für leistungsfähiges Multimedia, drahtlose Netzwerkanbindung, lebendige Grafiken/Displays, Sprachverarbeitung, Navigation und standortgebundene Dienste sowie eine Vielzahl von anderen Fähigkeiten vernetzter Automobile. Diese neuen Erwartungen haben von Halbleiteranbietern zusätzliche Innovationen im System-on-Chip (SoC) abverlangt. Ein flexibles, skalierbares und konfigurierbares Betriebssystem wie Linux wurde zur ersten Wahl für moderne IVI-Systeme.

Auswahl eines Betriebssystems

In modernen Luxusfahrzeugen kommen viele verschiedene Betriebssysteme zum Einsatz (Bild 1). Einige sind relativ einfach wie ein Echtzeitbetriebssystem, das eine bemerkenswerte Aufgabe beim Hosting von elektronischen Steuergeräten (ECUs) erfüllt, wo Zuverlässigkeit und Sicherheit von größter Bedeutung sind. Für komplexere Funktionen wie IVI-Systeme und Kombiinstrumente wird ein besser skalierbares, funktionsreicheres Betriebssystem benötigt.

Bild 2: Eine Genivi-konforme Plattform besteht aus Linux-basierten Diensten, Middleware und offenen Schnittstellen auf Anwendungsebene. Dies sind wichtige, nicht differenzierende Kernelemente einer allgemeinen IVI-Lösung.

Bild 2: Eine Genivi-konforme Plattform besteht aus Linux-basierten Diensten, Middleware und offenen Schnittstellen auf Anwendungsebene. Dies sind wichtige, nicht differenzierende Kernelemente einer allgemeinen IVI-Lösung. Mentor Graphics

Der Anwender muss nicht nur das richtige Betriebssystem auswählen, sondern auch prüfen, auf welche Weise mehrere Betriebssysteme zusammenarbeiten können, und die Kommunikation zwischen den Geräten ermöglichen.

Fahrzeugfunktionen wie Bremsen, Antriebsstrang und Lenkung müssen den höchsten Sicherheits- und Zuverlässigkeitsstandards entsprechen. Wenn ein Betriebssystem in einem Steer-by-Wire-Szenario involviert ist, muss es mit der höchsten Sicherheitsklassifizierung ASIL D kompatibel und gemäß einem ISO-26262-konformen Prozess entwickelt sein. Wo Sicherheit und geringer Speicherbedarf unabdingbare Voraussetzungen sind, verwenden Designer sichere, cycle-predictable Echtzeitbetriebssysteme für sicherheitskritische Fahrzeugfunktionen. Für diese weniger komplexen/hochzuverlässigen Applikationen ist Linux nicht so gut geeignet.

Andererseits ist ein Betriebssystem wie Linux die ideale Wahl für Infotainment-Anwendungen, bei denen das System simultan rechenintensive Tasks durchführen muss (bei gleichzeitiger Unterstützung asynchroner Interrupts von verschiedenen Quellen im Fahrzeug). Ein Beispiel ist das Umschalten von Audio-Feeds vom Navigationssystem zu einem eingehenden Anruf und das Vermischen mit Warnungen vom Rückfahrsensor – all das mit richtiger Priorität und in passender Lautstärke.

Sichere Trennung

Die widersprüchlichen Anforderungen bei der Konsolidierung der Fahrzeugfunktionen zur Reduzierung ECU-Anzahl und Aufrechterhaltung einer sicheren Funktionstrennung wurden zum jüngsten Ziel für die Entwickler von Fahrzeugarchitekturen. Eine sichere Trennung lässt sich auf verschiedenen Wege erreichen. ECUs sind heute über CAN, LIN und FlexRay-Busse verbunden. Die Kommunikation zwischen verschiedenen ECU-Typen wird mit Hilfe relativ einfacher serieller Protokolle verwaltet. Multicore-SoC-Plattformen ermöglichen die Partitionierung zwischen den einzelnen Bereichen auf Hardwareebene und kommunizieren auf sichere Weise zwischen den beiden Domänen, die auf derselben Plattform laufen. Standard-Kommunikationsprotokolle wie I2C oder SPI lassen sich zur sicheren Kommunikation nutzen.

Mit Hilfe dieses Ansatzes kann eine sichere OSEK/RTOS- oder Autosar-basierte ECU neben einem offenen Linux- oder Android-Betriebssystem auf derselben Hardware laufen.

Zwei der populärsten Open-Source-Software-Plattformen (OSS) für komplexe Subsysteme sind Android und Linux. Speziell für das Infotainment steht nun Genivi-Linux zur Verfügung.

Genivi-Linux

Die Genivi-Allianz wurde 2009 mit dem Ziel gegründet, eine Open-Source-Basisplattform für IVI-Entwickler zu etablieren. Die gemeinsame Nutzung von nicht differenzierenden

Bild 3: Prognostizierte Mischung von Betriebssystemen für Infotainment-Einheiten.

Bild 3: Prognostizierte Mischung von Betriebssystemen für Infotainment-Einheiten. iSuppli

Softwareelementen unter Mittbewerbern war ein relativ neues Phänomen in der Automobilindustrie, es wurde jedoch als die beste Lösung akzeptiert. In diesem Jahr hat Genivi (die Allianz umfasst mittlerweile rund 180 Organisationen) einen Meilenstein erreicht: Die ersten Serienfahrzeuge haben Genivi-konforme IVI-Systeme.

Ein wesentlicher Vorteil des Genivi-Ansatzes besteht darin, dass jede konkrete Umsetzung dieser gemeinsamen OSS-Lösung von den einzelnen Automobilherstellern abhängt. Beispielsweise liegen die Spezifikationen der Mensch-Maschine-Schnittstelle außerhalb der Genivi-Spezifikationen und lassen sich spezifisch implementieren, um Branding und Modellabgrenzungen zwischen den einzelnen Automobilherstellern oder Tier-1-Lieferanten zu erlauben.

Der technische Anwendungsbereich von Linux-basierten Genivi-Lösungen wird kontinuierlich überprüft und gemäß dem Votum der Genivi-Mitglieder aktualisiert. Bild 2 zeigt die derzeit aktuellen IVI-Fähigkeiten von Genivi-Linux.

Eine der wichtigsten Leistungen von Genivi ist das Compliance-Programm. Dieses Programm erlaubt es Software- und Service-Anbietern, ihre Produkte an die aktuellen Anforderungen von Genivi anzupassen und als konform zu registrieren. Diejenigen, die die Spezifikationen des Compliance-Programms erfüllen, können mit ihrem Compliance-Status werben und werden auf der Genivi-Website aufgelistet. Dies ist wichtig, weil Automobilhersteller Genivi-Compliance nun zu einer Forderung in ihren Ausschreibungen für neue IVI-Systeme machen. Um auf diese Ausschreibungen zu reagieren, müssen Softwareanbieter (und deren Zulieferer) nachweisen, dass sie Produkte herstellen und Services anbieten können, die die Genivi-Compliance-Anforderungen erfüllen.

Genivi wird bald die 5.0-Spezifikationen veröffentlichen. Diese enthalten Details über die neusten Versionen der OSS-Pakete, die zusammen eine immer vollständigere Infotainment-Basisplattform bilden. Die Genivi-Gemeinde bietet zwei OSS-Linux-Distributionen: „Baserock“ und „Yocto“. Mehrere kommerzielle Anbieter wie Mentor Graphics stellen für bestimmte Halbleiterplattformen Software-Stacks und Design-Tools zur Verfügung, die den Genivi-Spezifikationen entsprechen und die Entwicklung vollständiger Infotainment-Lösungen unterstützen.

Bild 4: Die LXC/Android-Lösung auf Mentors Automotive Technology Platform (ATP).

Bild 4: Die LXC/Android-Lösung auf Mentors Automotive Technology Platform (ATP).Mentor Graphics

Der Einsatz von Genivi-Linux durch Automobil-OEMs und Tier 1s erfolgt auf Kosten von proprietären Betriebssystemen wie QNX und Microsoft Windows CE, zusammen mit proprietären herstellerspezifischen Betriebssystemen. Es gibt bereits viele Infotainment-Designs, die sich sehr gut auf Open-Source-Linux und zukünftig auf Genivi-Linux migrieren lassen (Bild 3).

Der Vorteil enger Beziehungen

In einer von Unterhaltungselektronik dominierten Welt ist es wichtig, die Rolle von Android in IVI zu betrachten und intelligente Geräte zu verlinken. Es gibt bereits mehrere Android-basierte Infotainment-Systeme auf dem Markt. Im Grunde genommen basiert Android auf einem Linux-Kernel, und die direkte Ausführung von Android auf einer SoC-Plattform ermöglicht die schnelle Implementierung eines funktionsreichen Infotainment-Systems. Ein paar Anpassungen sind zum Beispiel für Audio-Mischung, Grafikunterstützung und Fahrzeugvernetzung erforderlich, da es für einige dieser Anforderungen in Android keine standardmäßige Unterstützung gibt.

Android und Linux in einem Multi-Betriebssystem

Neuere Entwicklungen bei Softwarearchitekturen erlauben es nun, dass Android und Linux in einem Multi-Betriebssystem koexistieren. Zum Beispiel kann Android mit Hilfe der Linux Container Architecture (LXC) oder Hypervisor-Technologie oberhalb von Linux gehostet werden (Bild 4). Die Ressourcen, Zugangskontrolle und Sicherheit des Android-Clients werden vom Host-Linux-Betriebssystem verwaltet. Für Systemdesigner, die über die Sicherheit von Android besorgt sind, ist das eine gute Möglichkeit, Zugriff auf Android-Apps zu ermöglichen, während andere Systemfunktionen sicher auf der Standard-Linux-Plattform laufen. Multicore-SoC-Plattformen machen diese Architektur sogar noch attraktiver, denn hier sind ausreichende Ressourcen für Linux- und Android-Bereiche vorhanden, um sie simultan auszuführen. Die CPU-Ressourcen können gemeinsam mit Speichern, Ressourcen zur Grafikverarbeitung und anderen wichtigen Peripheriegeräten genutzt werden.

Support von Halbleiterherstellern

Mehrere führende Halbleiterhersteller konzentrieren sich nun auf den Automobil-Infotainment-Markt. Dies geschieht mit Multicore-SoCs auf der Basis von ARM- und Intel-Mikroprozessorkernen, die weit verbreitet sind. Alle zielen auf das Hosting von Linux-basierten Lösungen ab. Heutige Top-Halbleiterlieferanten haben sich aus drei wesentlichen Gründen auf das Linux-Betriebssystem festgelegt. Der erste Grund ist die Tatsache, dass das Betriebssystem großes Potential für die Unterstützung einer Vielzahl von Peripheriekomponenten bietet. Außerdem steht Softwareentwicklern eine große Anzahl von Tools zur Verfügung, und drittens kann Linux als Open-Source-Software theoretisch von jedem Entwickler frei verwendet werden.

Die heutzutage angekündigten SoC/Linux-basierten Plattformen verfügen über alle Peripheriekomponenten, die zur Implementierung eines vollständigen Infotainment-Systems erforderlich sind. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Jacinto C6000 von Texas Instruments (Bild 5).

Andere SoCs wie R-Car H2 von Renesas, i.MX6 von Freescale und Tegra 4 von Nvidia sind ebenfalls beliebte Plattformen mit voller Peripherie-Unterstützung. Ein neuer Trend bei Halbleitern sind Low-Level-Linux-Treiber für die On-Board-Peripheriekomponenten, die mit Standard-Linux-Distributionen zusammenarbeiten. Hochoptimierte Treiber für Ethernet, Grafikbeschleuniger (GPUs), Audio, USB, Datenspeicher, Kameraunterstützung, Multi-Screen-Support und vieles mehr werden wichtige differenzierende Teile des Software-Stacks für das Fahrzeug-Infotainment.

Anbieterabhängigkeit durch Linux vermeiden

Eine Sorge unter den Entwicklern von komplexen Infotainment-Systemen und Cluster-Einheiten war die Abhängigkeit von teuren proprietären Softwareplattformen. Diese Art von Kosten multipliziert sich leicht durch spätere Upgrades und Austausch von Komponenten. Höchstwahrscheinlich wird es für jedes kommerziell eingesetzte Betriebssystem ein Kostenrisiko für Nutzungsrechte und Lizenzgebühren geben.

Bild 5: Ein typisches, voll ausgestattetes SoC für die Entwicklung von IVI-Systemen: der TI Jacinto 6000

Bild 5: Ein typisches, voll ausgestattetes SoC für die Entwicklung von IVI-Systemen: der TI Jacinto 6000 Texas Instruments

Open-Source bietet größere Freiheiten – insbesondere beim Einsatz von Linux, das höchstwahrscheinlich als Open-Source-Plattform erhalten bleibt. Android ist zwar unter der Kontrolle von Google, es gibt aber auch hier keine Anzeichen, dass das Unternehmen die Eigentums- und Lizenzrechte seines Android-Betriebssystems ändern will.

Ein Open-Source-Ansatz gewährt Automobil-OEMs mehr Einblick in die von Zulieferern bereitgestellten oder gebauten Software-Stacks. OSS erlaubt es dem OEM, eine aktivere Rolle bei den einzelnen Paketspezifikationen einzunehmen. Dies hat sich bei der Konzeption, Entwicklung und dem Einsatz von IVI-Systemen bereits bewährt, wo der OEM üblicherweise die Mensch-Maschine-Schnittstelle verwaltet. Die detaillierten Hardware- und Software-Inhalte erstellen dann die Tier-1s. Die Gewährleistung einer guten Performance für die endgültige Lösung muss eine Teamleistung zwischen OEMs und Tier 1s sowie Software-Plattformanbietern und Halbleiter-SoC-Herstellern sein.

Die Zukunft

In Zukunft wird Linux sicherlich eine Plattform für vernetze Autos und Telematik-Fähigkeiten sein. Es wird prognostiziert, dass bis zum Ende des Jahrzehnts neue Fahrzeuge miteinander (V2V), mit straßenseitiger Infrastruktur (V2I) und Cloud-basierten Diensten (V2C) kommunizieren werden. Dies geschieht mit Hilfe von Linux-Plattformen, die WiFi- und LTE-Connectivity-Services hosten. Mentor Graphics plant für seine Embedded-Software-Automobil-Roadmap einen ganzheitlichen Ansatz, der mehrere Fahrzeugfunktionen integriert und nebeneinander ablaufen lässt, egal ob sie auf Linux, Android, RTOs, Autosar oder jedem anderen Betriebssystem basieren.

Auf einen Blick

Linux im Auto

Das Betriebssystem Linux ersetzt allmählich auf Lizenzgebühren basierte proprietäre Lösungen und hat den Vorteil, dass es in der Regel als Open Source verfügbar ist. Fahrzeughersteller waren bei der Verwendung von OSS bisher vorsichtig. Sie haben aber festgestellt, dass die Einführung von Innovationen durch Softwarefunktionalität und die Senkung der Softwareentwicklungskosten ihre Fahrzeuge wettbewerbsfähiger machen. Die Industrie hat sich schnell an diese neuen Herausforderungen angepasst und sowohl OEMs als auch Tier 1s finden neue Wege, um Linux-basierte IVI-Systeme und Kombiinstrumente in Fahrzeuge einzubauen, die sich bereits auf unseren Straßen befinden.

MSEE Andrew Patterson

ist bei der Embedded-Software-Division von Mentor Graphics Business-Development-Director für den Automobilmarkt.

(av)

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