Viele Unternehmen wollen in Richtung Industrie 4.0 – doch dafür müssen sie erst wissen wo sie stehen und welche Maßnahmen sinnvoll sind. burstfire/Style-Photography – Fotolia

Viele Unternehmen wollen in Richtung Industrie 4.0 – doch dafür müssen sie erst wissen wo sie stehen und welche Maßnahmen sinnvoll sind. (Bild: burstfire/Style-Photography – Fotolia)

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen benötigen Unterstützung beim Umsetzen digitaler Transformationsmaßnahmen und beim Wandel zur Industrie 4.0 – also die digitale Transformation der Produktion. Allerdings können die Unternehmen nicht von heute auf morgen eine komplett neue Smart Factory erschaffen. Dennoch gilt es, Investitionen gezielt zu tätigen, um sich Schritt für Schritt der Industrie 4.0 anzunähern. Dafür müssen den Unternehmen unter Berücksichtigung ihrer Situation die Potenziale, die sie mit der vierten industriellen Revolution erreichen können, aufgezeigt werden. Zugleich braucht es entsprechende Maßnahmen, um diese Potenziale auch zu nutzen.
Die Möglichkeit, sich mithilfe eines „einfachen“ Online-Checks über den eigenen Stand zu informieren, scheint vor diesem Hintergrund attraktiv. Diese Checks – auch Reifegradmodelle genannt – beurteilen die aktuelle Situation eines Unternehmens hinsichtlich der digitalen Transformation. Neben dem Bestimmen der Leistungsfähigkeit, helfen sie auch beim Ableiten von Verbesserungsmaßnahmen und unterstützen so Organisationen, sich strukturiert weiterzuentwickeln.

Tabelle mit genaueren Informationen über die untersuchten Industrie-4.0-Reifegradmodelle

Reifegradmodelle als Standortbestimmung

Reifegradmodelle enthalten in der Regel zwei grundlegende Elemente. Erstens die Reifegradebenen: Dabei handelt sich meistens um mindestens drei bis sechs Stufen, die aufeinander aufbauen und durch klar formulierte Anforderungen abgegrenzt sind. Zweitens besitzt ein Reifegradmodell mehrere Dimensionen, wodurch sich verschiedene Merkmale der untersuchten Objekte beschreiben lassen. Durch ein unterschiedliches Maß an Übereinstimmung zwischen definierten Kriterien und deren Erfüllung ergeben sich verschiedene Grade der Reife. Jedem Reifegrad sind eine oder mehrere Anforderungen zugeordnet. Ein Grad gilt nur dann als erreicht, wenn sowohl die Unternehmen die beschriebenen Prüfsteine der entsprechenden Stufe, als auch die aller vorhergehenden Stufen nachweislich erfüllen.
Im Zusammenhang mit der digitalen Transformation und dem Wandel zur Industrie 4.0 ist der Einsatz von Reifegradmodellen immer verbreiteter. Gründe dafür sind unter anderem, dass sie systematisch Verbesserungspotenziale in Unternehmensbereichen identifizieren können. Dabei können Anwender qualitative Sachverhalte so einordnen und bewerten, dass eine umfangreiche Analyse der Ist-Situation sowie ein Vergleich mit dem geplanten Soll-Zustand möglich ist. Durch den strukturierten Aufbau innerhalb eines vorgegebenen Rasters und den definierten Anforderungsaspekten lassen sich die Sachverhalte zudem intersubjektiv bewerten. Das heißt: Das Einordnen ist für mehrere Betrachter erkenn- und nachvollziehbar, zum Beispiel für Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen mit einer jeweils anderen Sicht auf das Unternehmen. Außerdem ist das Ermitteln des Reifegrads mithilfe eines Modells in der Regel unkompliziert und in kurzer Zeit durchführbar. Außerdem liegen die Ergebnisse unmittelbar nach Abschluss der Bewertung vor und eignen sich für eine direkte Interpretation.

Reifegrad online bestimmen

Die Reifegradmodelle bieten Orientierungshilfen für die Entwicklung einer unternehmensspezifischen Industrie-4.0-Roadmap sowie der Steuerung der damit verbundenen Aktivitäten. www.industrie40-readiness.de

Die Reifegradmodelle bieten Orientierungshilfen für die Entwicklung einer unternehmensspezifischen Industrie-4.0-Roadmap sowie der Steuerung der damit verbundenen Aktivitäten. www.industrie40-readiness.de

Der geringe Zeitaufwand zur Bestimmung des Status Quo der digitalen Transformation eines Unternehmens macht insbesondere die Reifegradmodelle interessant, die mittels einer Selbstbewertung über das Internet funktionieren. Diese online angebotenen Selbsttests beinhalten Fragen, die sich auf verschiedene Industrie-4.0-spezifische Themenbereiche beziehen. Deren Beantwortung erlaubt unter anderem einen Rückschluss darauf, inwieweit die im Unternehmen eingesetzten Technologien etwa für die Informationsgenerierung und -vernetzung oder die Interaktion in cyber-physischen Systemen und intelligenten, selbststeuernden Prozessen geeignet sind.  Da die Selbstbewertung online stattfindet, lassen sich die Ergebnisse direkt in einer Datenbank speichern, wodurch sie – im Sinne eines Benchmarkings – mit denen anderer Unternehmen derselben Branche vergleichbar sind. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Online-Selbsttests nur die Ist-Situation bestimmter Unternehmensbereiche analysieren; mit ihnen lässt sich nicht herleiten, welche dezidierten Schritte oder Maßnahmen zur digitalen Transformation folgen sollten.

Hilfe von außen

An dieser Stelle bieten Reifegradmodelle mit Consulting-Partner einen Vorteil. Auch wenn diese Erhebungsmethoden meist mit Kosten verbunden und zeitaufwendiger sind, ermöglichen sie eine wesentlich umfassendere Analyse der Unternehmensbereiche. Die meisten Consultants oder Anbieter von Reifegradanalysen geben konkrete Handlungsempfehlungen für die Einführung von Industrie 4.0, teilweise erarbeiten sie dafür auch eine unternehmensspezifische Roadmap.
Darüber hinaus unterscheiden sich Industrie-4.0-Reifegradmodelle hinsichtlich der analysierten Themenbereiche und der Anwendung. Während sich insbesondere die Modelle zur Selbstbewertung meist auf technische Aspekte der Produktion fokussieren, etwa Informations- und Kommunikationstechnik-Infrastruktur, Maschine-zu-Maschine-Kommunikation oder Datenverarbeitung, untersuchen Modelle mit einer kooperativen Reifegradbewertung zumeist die gesamte Wertschöpfungskette, beispielsweise produktbezogene IT-Services, Geschäftsmodelle etc.

Welche Variante passt?

Die Studie zeigt, dass sich Unternehmen mit einer wachsenden Vielfalt an Checks und Tests zur Bestimmung ihres „digitalen Reifegrades“ konfrontiert sehen. Entscheidend ist ein aufmerksamer Blick auf Inhalte und Entwickler der Reifegradmodelle, denn die Ergebnisse einer Reifegradanalyse leiten Unternehmen nicht automatisch in die richtige Richtung. Sie ersetzen auch nicht den selbstkritischen und kompetenten Blick auf die eigene Ausgangssituation. Anwender sollten unbedingt darauf achten, einen Check zu wählen, der zu ihrer Situation und dem geplanten weiteren Vorgehen passt. Wer die eigene Situation selbst in Ruhe analysieren möchte, braucht dazu nicht unbedingt externe Consulting-Partner. Wer sich dennoch für die Zusammenarbeit mit ihnen entscheidet, muss sich über die Kompetenzen und Interessen des Partners im Klaren sein.
Manche Tests erwecken den Eindruck, die „digitale Reife“ sei ausschließlich abhängig vom Umfang verfügbarer digitaler Systeme und der Vernetzung. Diese Faktoren können die Effizienz von Unternehmensprozessen erheblich steigern. Jedoch gehört zur digitalen Reife auch die Fähigkeit, den Digitalisierungsumfang zu erkennen, der für das eigene Unternehmen sinnvoll und wirtschaftlich ist. Unternehmen, die so viel digitalisieren „wie nötig“ und diesen Umfang genau beschreiben und begründen können, verfügen vielleicht über weniger Technik, aber haben deswegen sicherlich keinen niedrigeren Reifegrad als Unternehmen, die so viel digitalisieren wie möglich – allerdings weniger reflektiert.
Industrie 4.0 sollte auf einem soliden Fundament robuster und verschwendungsfreier Prozesse stehen. Dieses Fundament muss zunächst mit den passenden Methoden des Lean Management, ganzheitlicher Produktionssysteme oder des Industrial Engineerings geschaffen werden. Deren „reife“ Umsetzung ist also ein wichtiger Erfolgsfaktor und Voraussetzung für Industrie 4.0. Die Güte des Fundaments bleibt jedoch in Reifegradmodellen oft unberücksichtigt. Unternehmen sollten daher auch ihre diesbezüglichen Voraussetzungen sorgfältig reflektieren und scheinbar „altmodische“ konventionelle Verbesserungspotenziale nicht aus dem Blick verlieren.

 

David Kese

wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa)

Sebastian Terstegen

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa)

(ml)

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