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Continental

Von den 35.050 Personen, die 2009 im europäischen Straßenverkehr umkamen, waren 6.853 (20 Prozent) Fußgänger. 70 Prozent davon starben innerhalb einer Stadt oder Ortschaft. Das größte Problem im urbanen Straßenverkehr ist Ablenkung. Manchmal laufen einfach zu viele Dinge gleichzeitig ab, um den Fußgänger wahrzunehmen, der zwischen geparkten Autos auftaucht, oder das andere Fahrzeug, das auf die Kreuzung zusteuert. Dahinter verbirgt sich ein noch tiefer liegendes Problem: Menschen sind nicht auf Zuverlässigkeit, sondern vielmehr auf Flexibilität und Findigkeit ausgelegt. Deshalb können wir uns zwar auf ständig neue Verkehrssituationen einstellen, aber ein Moment der Ablenkung reicht aus, um einen Unfall zu verursachen.

Fußgänger und Radfahrer sind besonders gefährdet. Die Europäische Union hat auf diesen Sachverhalt reagiert und mehr Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer gefordert, um Unfälle möglichst ganz zu verhindern. Da dies bislang nicht möglich ist, besteht das Zwischenziel zumindest darin, den Aufprall abzumildern. Sogenannte Bremsassistenten sollen den Fahrer in Situationen unterstützen, in denen er zwar auf die Bremse tritt, aber eben nur halbherzig. Einer einer GIDAS-Studie zufolge hat der Fahrer in 37 Prozent aller Fußgängerunfälle mit Todesfolge nie das Bremspedal berührt.

Bild 1: Fußgänger sind besonders gefährdete Verkehrsteilnehmer und bei Verkehrsunfällen einem hohen Risiko schwerer oder sogar tödlicher Verletzungen ausgesetzt.

Bild 1: Fußgänger sind besonders gefährdete Verkehrsteilnehmer und bei Verkehrsunfällen einem hohen Risiko schwerer oder sogar tödlicher Verletzungen ausgesetzt.Continental

Weitere Verbesserungen sind daher nur mit einem vorausschauenden Notbremsassistenzsystem möglich. Continental entwickelt deshalb eine Stereokamera, die auf einem 6D-Objekterkennungsalgorithmus des Fahrzeugherstellers Daimler basiert und Hindernisse jeder Art –insbesondere Fußgänger – schnell sowie präzise erkennen kann.

Bionik – Die Vorteile des räumlichen Sehens

Wir alle können durch unsere zwei Augen räumlich sehen – unser Gehirn vergleicht die kleinen Unterschiede zwischen den Bildern des linken und des rechten Auges und kann mit ihrer Hilfe Entfernungen gut abschätzen. Eine Stereokamera funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Zwei CMOS-Kameras sind im definierten Abstand von 22 Zentimetern voneinander hinter der Windschutzscheibe montiert. Ein Megapixel-Chip in jeder Kamera liefert Grauskala- und Farbdaten, die anschließend in der Kamera selbst ausgewertet werden. Die Bilder werden miteinander abgeglichen und korreliert. Wird ein Bereich mit ähnlichen Merkmalen von beiden Kameras identifiziert, ist dies die erste Bestätigung eines potenziellen Objekts beziehungsweise Hindernisses.

Doch das Zweiaugenprinzip der Stereokamera hat noch mehr zu bieten. Anhand der Parallaxenverschiebung zwischen den beiden optischen Lichtwegen lässt sich die Distanz zum potenziellen Objekt mit beeindruckender Präzision direkt berechnen: Die Distanzbestimmung geschieht über 20 bis 30 Meter mit einer Toleranz von nur 20 bis 30 Zentimetern. Diese hervorragende absolute Auflösung steht auch in Situationen zur Verfügung, in denen sich mehrere stehende Objekte wie beispielsweise parkende Autos nahe beieinander befinden.

Monokameras wiederum können Distanzen nur schätzen – und dies nur bei Objekten, die sie vorher zu identifizieren „gelernt“ haben. Zwar bietet diese Technik eine annehmbare Leistung für die Erkennung eines Fahrzeughecks und deutlich sichtbarer Fußgänger, aber ungewöhnliche Objekte wie teilweise verdeckte oder nur seitlich sichtbare Fahrzeuge beziehungsweise Fußgänger, die zwischen parkenden Fahrzeugen hervorkommen, identifiziert eine Monokamera nicht.

6D statt 3D

Ein weiterer entscheidender Vorteil der Stereokameratechnik von Continental ist die Analyse der Bewegungsrichtung der Objekte. Der optische Bewegungsfluss äußert sich als Pixelbewegung auf der horizontalen, vertikalen und longitudinalen Achse. Relevante Objekte werden somit anhand gemeinsamer Merkmale in sechsdimensionaler Wahrnehmung bestimmt und charakterisiert.

Bild 2: Continental entwickelt das neue Stereokamerasystem zusammen mit Daimler. Es wird in den folgenden Jahren einsatzbereit sein.

Bild 2: Continental entwickelt das neue Stereokamerasystem zusammen mit Daimler. Es wird in den folgenden Jahren einsatzbereit sein. Continental

Insbesondere durch die Kombination der detaillierten stereoskopischen 6D-Objektinformationen mit den Fußgängermerkmalen erreicht die Objekterkennung eine hohe Robustheit und Fahrerassistenzsysteme damit eine Funktionssicherheit, die auch eine autonome Bremsung ermöglicht. Im Vergleich mit heutigen Sicherheitssystemen wird sich damit die Anzahl der damit adressierbaren Unfallszenarien vervielfachen.

Gemäß einer Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) können aktuelle Bremsassistenten bei realistischer Betrachtung etwa sechs Prozent aller schweren Unfälle verhindern. Fügt man die vorausschauende Funktionalität hinzu, verdoppelt sich der Wert auf zwölf Prozent. Vermeidet der vorausschauende Notbremsassistent auch Unfälle mit Fußgängern beziehungsweise Radfahrern und entgegenkommenden oder kreuzenden Fahrzeugen, erhöht sich das Potenzial zur Vermeidung schwerer Unfälle auf etwa 41 Prozent. Die Stereokameratechnik von Continental ist Voraussetzung für die Ausschöpfung dieses Potenzials.

Da die Stereokamera gleichzeitig die aus der Monokamera bekannten Assistenten wie Spurhaltung, Verkehrszeichenerkennung und intelligente Lichtsteuerung realisiert, kann sie mittel- bis langfristig einen neuen Trend setzen. Abgesehen vom Einsatz der neuen Möglichkeiten der 6D-Objekterkennung zur Leistungsverbesserung wird die Kameratechnologie in absehbarer Zeit auch in großen Stückzahlen produziert werden können, so dass das Konzept des räumlichen Sehens in Zukunft in allen Fahrzeugklassen – vom Kleinwagen bis zum Premiumfahrzeug – verfügbar sein wird.

Fußgängererkennung ist nur der Anfang

Das Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr schreibt vor, dass der Fahrer stets die Kontrolle über sein Fahrzeug und das Verhalten seiner Systeme behalten muss. Infolge dessen wird heute eine autonome Notbremsung mit maximaler Verzögerung der Bremsanlage nur ausgelöst, wenn eine Kollision offensichtlich unausweichlich ist, weil sie der Fahrer aufgrund der physikalischen Gegebenheiten nicht mehr verhindern kann.

In der Praxis ist das deutlich weniger als eine Sekunde vor dem Aufprall. Dadurch beträgt die verbleibende Zeitspanne bis zur Kollision, in der eine Vollbremsung (bis zu 1g) erfolgen kann, durchschnittlich weniger als 0,6 Sekunden. In Anbetracht dieser knappen verfügbaren Zeit liegt es auf der Hand, dass die Hinderniserkennung äußerst zuverlässig erfolgen muss. Die Stereokamera mit 6D-Objektklassifizierung erfüllt diese Anforderung. Dank ihrer Präzision und Detailerkennung kann sie auch atypische Fußgänger wie Rollstuhlfahrer oder kleine Kinder identifizieren und erkennt sogar teilweise verdeckte Fußgänger, die zwischen geparkten Fahrzeugen hervortreten.

Aufgrund der genauen Vermessung der Fahrbahn und aller dreidimensionalen Objekte auf ihr kann die Stereokameratechnologie auch die Verkehrssituation analysieren und im besten Fall nach einem möglichen Ausweichweg suchen. Existiert keine solche Möglichkeit, können das Kollisions-Warnsignal sowie die unfallvermeidende Notbremsung früher ausgelöst und somit wertvolle mehrere Hundert Millisekunden zur Abbremsung gewonnen werden – Millisekunden, die Leben retten können.         

Wilfried Mehr

: ist Leiter Business Development Fahrerassistenzsysteme bei Continental

(av)

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