Die Bionik ist im Innovationsprozess einiger Branchen bereits etabliert, aber im Kontext der Bordnetzentwicklung war bislang wenig darüber zu lesen. Jedoch müssen Fahrzeuge angesichts der zunehmenden Zahl an Fahrerassistenzsystemen und im Hinblick auf das automatisierte Fahren künftig in der Lage sein, eine Vielzahl an Pfaden zur Informations- und Leistungsübertragung effizient zu koordinieren. Insofern lohnt sich heute mehr denn je ein Blick auf erprobte Mechanismen und Strukturen der Natur: Sinnvolle Redundanzen bei Energieversorgung, Kommunikation und Funktionsabsicherung stellen sicher, dass das Gesamtsystem auch bei Störungen funktionsfähig bleibt.
Der Begriff „Bionik“ beschreibt allgemein die Übertragung von Phänomenen beziehungsweise Wirkmechanismen aus der Natur auf technische Problemlösungen. Die Einordnung von Bionik reicht von der Wissenschaftsdisziplin über einen Entwicklungsprozess bis hin zur Kreativitätstechnik. Eine gerade in den Ingenieurwissenschaften gängige Verwendung entspricht der Bionik im Rahmen der Vorentwicklung zur Generierung von Produktideen. Dabei ist die Durchführung der Bionik als Methode in die vier Schritte Ziel festlegen, Vorbilder suchen, Analyse der gefundenen Systeme und Übertragbarkeit prüfen eingeteilt.
Überlegene Konzepte setzen sich durch
Gerade im Kontext des Innovationsmanagements stellt die Methode der Bionik eine interessante Perspektive bereit. Ein typisch strukturierter Innovationsprozess startet mit der Phase der Ideengenerierung und besteht in der Folge aus verschiedenen Zwischenstufen, deren Anzahl und Anordnung meist unternehmensspezifisch angepasst ist und die in der Markteinführung münden. Innerhalb eines solchen Innovationsprozesses ist die Bionik in die Phase der Generierung von Ideen einzuordnen, die zu marktfähigen Produkten und schließlich zu Innovationen weiterentwickelt werden können (Bild 1). Die Anwendung der Bionik gerade in solchen frühen Phasen des Innovationsprozesses erscheint vielversprechend, zumal man unterstellen kann, dass die Evolutionsprozesse in der Natur bereits überlegene Konzepte ausgewählt haben, was den unternehmerischen Entscheidungsprozess unterstützen kann.
Bisher öffentlich bekannte Anwendungen der Bionik beschreiben Analogien wie beispielsweise Brücken-Analogien, die sich an Skelett-Strukturen von Säugern orientieren, Reifenkonstruktionen, die Katzenpfoten nachempfunden sind, oder ein künstliches Känguru. Eine Anwendung im Bereich Elektrik/Elektronik und hier insbesondere mit Bezug auf Bordnetze in Fahrzeugen ist allerdings bislang nicht bekannt. Der vorliegende Beitrag zeigt deshalb in Anlehnung an biologische Systeme Überlegungen zur Konzeption der Signal- und Leistungsübertragung zukünftiger Bordnetzsysteme.
Steigende Anforderungen an den Kabelsatz
Einhergehend mit der Dynamik in der Entwicklung der Automobile unterliegt auch die Entwicklung des Bordnetzes einer kontinuierlichen Evolution und Weiterentwicklung – vor allem hinsichtlich Funktionsumfang und Komplexität. Auf ein Bordnetz wirken verschiedene Trends aus der Fahrzeugentwicklung ein, die zu immer komplexeren Anforderungen führen (Bild 2). Exemplarisch zu nennen sind hier die Anhebung der Bordnetzspannung auf 48 V, die steigende Anzahl an Fahrerassistenzsystemen (Stichwort: automatisiertes beziehungsweise autonomes Fahren), die Zunahme des Datenverkehrs im Fahrzeug sowie die damit zusammenhängenden Sicherheits- beziehungsweise Echtzeitanforderungen.
Daraus folgen für zukünftige Bordnetzsysteme erhöhte Anforderungen an Fehlertoleranz, Signalverarbeitung, Verfügbarkeit und Notlaufeigenschaften. Ausgehend vom heutigen Bordnetz bedeutet dies, dass die Realisierung der Übertragungsaufgaben grundlegend neu überdacht werden muss, um auch in Zukunft ein effizientes, zuverlässiges und beherrschbares System zur Signal- und Leistungsübertragung bereitstellen zu können.
Verarbeitung von Informationen und Nervensysteme
In der Natur vorkommende Systeme zur Signal- und Leistungsübertragung erfüllen die oben skizzierten Anforderungen von Haus aus. Ein Lebewesen zeichnet sich durch die Verarbeitung komplexer Informationen, durch schnelle Reaktionen sowie durch einen effizienten Energieeinsatz aus. Dafür sind bei Lebewesen die Nervensysteme beziehungsweise die Blutkreisläufe vorgesehen.
Im Laufe der Evolution wurden unterschiedliche Strukturen beziehungsweise Übertragungskonzepte herausgebildet. Auf der untersten Stufe der Evolution stehen netzförmige Nervensysteme, wie sie zum Beispiel bei Hohltieren wie Polypen und Quallen vorkommen. Die nächste Stufe stellen strangförmige Nervensysteme, Strickleiter-Nervensysteme und zentralisierte Nervensysteme dar. Die komplexeste Struktur weist ein Zentralnervensystem mit Gehirn und Rückenmark auf, wie es in unterschiedlicher Leistungsfähigkeit bei Wirbeltieren vorkommt.
Erste Evolutionsstufen beim Bordnetz
Betrachtet man demgegenüber die bisherigen Evolutionsstufen eines Bordnetzes, so wird offensichtlich, dass die Entwicklung vergleichsweise erst am Anfang steht. Zwar hat sich das Bordnetz aus ingenieurtechnischer Perspektive zu einem sehr komplexen System mit wechselseitigen Abhängigkeiten entwickelt, und es lässt sich über verschiedene Bus-Systeme auch eine gewisse intelligente Verteilung von Informationen realisieren, aber dennoch steht das Bordnetzsystem erst am Anfang einer Entwicklung, die durch die skizzierten Trends in der Automobilindustrie in den kommenden Jahren weiter an Dynamik gewinnen wird. Allerdings bietet diese gegenwärtig noch verhältnismäßig niedrige Evolutionsstufe des Bordnetzes zukünftig auch erhebliches Entwicklungspotenzial (Bild 3).
Übertragung durch Reizübermittlung
Zieht man somit bei der Konzeption zukünftiger Bordnetzsysteme Lebewesen zur Analogiebildung heran, so können sich die folgenden Überlegungen ergeben: Im Bereich Kommunikation erfolgt schon in verhältnismäßig einfachen Systemen wie dem Strickleiternervensystem eine Informationsübertragung in Form von Reizen. Es besteht also kein kontinuierliches Signal; vielmehr wird der Reiz von einem Abschnitt zum nächsten bereits nach Erreichen eines Schwellwertes weitergeleitet, was die Übertragungsgeschwindigkeit beschleunigt. Ein weiterer Vorteil entsteht, wenn nach jeder Reizübermittlung eine kurze Zwangspause herrscht, da in dieser Aufladezeit in diesem Abschnitt auf einem anderen Pfad ein weiteres Signal übertragen werden kann. Im Gegensatz dazu können bei einem herkömmlichen CAN-Bus theoretisch Probleme auftreten, wenn ein Signal, das fälschlicherweise permanent und auf höchster Priorität gesendet wird, den gesamten Bus lahmlegt.
Dezentrale Speicherung von Energie
Bionik: Potenziale für künftige Bordnetz-Systeme
Durch Analogiebildung zwischen biologischen Systemen und einem Bordnetz-System für zukünftige Entwicklungen lassen sich interessante und vielversprechende Ableitungen treffen. Dadurch ließen sich dringend benötigte Vorteile hinsichtlich Geschwindigkeit und Robustheit realisieren.
Der Blutkreislauf bei Lebewesen bietet neben der Energieübertragung eine Informationsübertragungsfunktion (beispielsweise Transport von Botenstoffen). Für das Bordnetz ergibt sich neben der bereits heute realisierten Implementierung zweier getrennter Systeme für die Signal- und für die Leistungsübertragung der Ansatz, zukünftig über die Leistungsversorgung auch Signale zu transportieren. Ein solcher Ansatz könnte dann ebenfalls eine Rückfalllösung bieten, um „lebenswichtige“ (im Sinne von funktionserhaltend) beziehungsweise sicherheitsrelevante Systeme im Notfall über die Versorgungsleitung zu steuern, um so einen sicheren Zustand erreichen zu können.
Im Bereich Energieversorgung verfolgt die Natur einen kombinierten Ansatz: Einmal die zentrale Energiegewinnung beziehungsweise Bereitstellung über den Verdauungstrakt und ergänzend die dezentrale Speicherung der Energie in Muskeln und Gewebe. Übertragen auf das Bordnetz könnten zukünftig mehrere dezentrale Energiespeicher im Fahrzeug verteilt sein, die den jeweiligen Verbrauchern bedarfsgerecht Energie zuführen. In Zuständen höchster Beanspruchung könnte dann kombiniert Energie bereitgestellt werden, während das Übertragungssystem selbst aber nicht spitzenlastfähig ist.
Absicherung kritischer Systemfunktionen
In der Natur erfolgt die Absicherung von Funktionen auf unterschiedliche Arten. Funktionen können von zwei oder mehr Systemen ausgelöst werden, und geschickt ausgewählte Redundanzen sichern das Überleben des Organismus in kritischen Betriebszuständen. Daneben stellen Reflexe einen wichtigen Schutzmechanismus dar, der getrennt von anderen Informationsübertragungs-strecken und mit anderen Prioritäten gesteuert wird. Durch Vergleich von Reflexbögen mit Reflex-kreisen höherer Art beziehungsweise der Abwägung von angeborenen und erlernten Reflexen lassen sich unterschiedliche Komplexitätsgrade erkennen. Allen gemein ist, dass bei Vorliegen eines bestimmten Reizes beziehungsweise Schwellwerts eine Reaktion ausgelöst wird und andere (bewusst gesteuerte) Aktionen „überschrieben“ werden. In Bezug auf das zukünftige Bordnetz ließe sich hier beispielsweise die Abbildung von grundlegenden Actio-Reactio-Funktionsmustern ableiten, die bewusst sicherheitsrelevante Funktionen aufrechterhalten.
In Summe führen alle diese Überlegungen dazu, dass schlussendlich auch die Netzwerktopologie zukünftiger Bordnetzsysteme grundlegend überdacht werden muss. Ein möglicher Lösungsansatz könnte zukünftig in der Aufhebung der konsequenten Trennung von Leistungs- oder Signalübertragung liegen, indem beide Systeme auch für den jeweils anderen Anwendungsfall zum Einsatz kommen können.
Zusatzpotenzial
Ein weiteres Entwicklungspotenzial ist auf einer mechanischen beziehungsweise werkstoffseitigen Ebene ebenso denkbar. So gibt es derzeit intensive Forschungen an Polymeren, die mithilfe von Zwei-Komponenten-Systemen in der Lage sind, sich selbst zu reparieren. Allerdings ist bis zur Verfügbarkeit solcher Materialien im Bordnetz noch viel Entwicklungsarbeit erforderlich – und vielleicht lassen sich im Zuge dessen noch mehr Analogien aus der Natur auf automobile Bordnetzsysteme übertragen.
Literatur
Der Autor verweist im Rahmen seines Beitrags auf folgende Quellen:
[1] Bertling, J.: Bionik als Innovationsstrategie, in: C. Herstatt et al. (Hrsg.),Innovationen durch Wissenstransfer, Springer, Wiesbaden, 2014, S. 139-182.
[2] Ehrlenspiel, K.; Meerkamm, H.: Integrierte Produktentwicklung – Denkabläufe, Methodeneinsatz, Zusammenarbeit, Carl Hanser Verlag München Wien, 2013.
[3] Nachtigall, W.: Bionik als Wissenschaft – Erkennen, Abstrahieren, Umsetzen, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010.
[4] Weinzierl, H.: Grußwort, in: Brickwedde/Erb/Lefèvre/Schwanke (Hrsg.), Bionik und Nachhaltigkeit – Lernen von der Natur, 12. Internationale Sommerakademie St. Marienthal, Erich Schmidt Verlag 2007, S. 7-11.
[5] Festo: BionicKangaroo – energieeffiziente Sprungkinematik nach natürlichem Vorbild, zuletzt abgerufen am 03.04.2014 unter http://www.festo.com/cms/de_corp/13704.htm.
[6] Ernst, M.: Use of Social Media in Innovation Management – Conceptual Background and Selected Empirical and Theoretical Aspect, Verlag Dr. Kovač, Hamburg, 2013.
[7] N.N.: Mehr Spannung an Bord, 06.09.2013, zuletzt abgerufen am 14.04.2014 unter http://www.focus.de/auto/news/schaeffler-auf-der-iaa-mehr-spannung-an-bord_aid_1093029.html.
[8] Reif, K.: Automobilelektronik, 4. Auflage, Vieweg + Teubner Verlag Wiesbaden, 2012.
[9] Gotzner, P.: Materialforschung: Blutender Kunststoff schließt Löcher von allein, zuletzt abgerufen am 13.05.2014 unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/blutender-kunststoff-selbstheilendes-polymer-flickt-loecher-a-968444.html.
(av)