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(Bild: MathWorks)

KI und Simulation: Synergie für die Automobilindustrie

Die Geschichte der Automobilindustrie ist durch stetige Innovation geprägt. Immer komplexere Fahrzeuge und engere Produktionspläne erforderten ständig neue Tools und Techniken, um ein Produkt auf die Räder zu stellen, das sich von anderen abhebt. Heute stehen Automobilingenieure vor neuen Hürden, da sie mit der Aufgabe betraut werden, KI in Fahrzeugsysteme sowie in ihre Forschungs- und Entwicklungs-Workflows zu integrieren. KI darf dabei keineswegs als eigenständige Komponente betrachtet werden. Vielmehr müssen Entwickler KI-Funktionalität unter Berücksichtigung ihres Einflusses auf die angrenzenden Systeme integrieren. KI-Algorithmen müssen deshalb vor deren Einsatz in Fahrzeugen gemeinsam mit anderen Komponenten simuliert werden, um sowohl ihre Auswirkungen als auch ihre Funktion zu verstehen.

Auf übergeordneter Ebene gibt es in der Automobil- und Fahrzeugindustrie drei zentrale Punkte, an denen KI und Simulation sich in besonderer Weise überschneiden.

Der erste Punkt betrifft die Sachlage, dass oft nur unzureichende Daten zur Verfügung stehen. Simulationsmodelle können dann dazu eingesetzt werden, Daten zu synthetisieren, die ansonsten etwa nur schwer oder mit hohem Kostenaufwand erhoben werden könnten.

Der zweite Punkt ist der Einsatz von KI-Modellen als Näherung und Ersatz für komplexe, rechenintensive hochrealistische Simulationen, was auch als Modellierung mit reduzierter Ordnung bezeichnet wird.

Drittens werden KI-Modelle in Embedded Systemen für Anwendungen wie Regelungstechnik, Signalverarbeitung und Embedded Vision eingesetzt. Die Simulation ist hier bereits ein zentraler Bestandteil des Entwicklungsprozesses.

Automobilingenieure suchen entsprechend nach neuen Wegen zur Entwicklung effektiverer KI-Modelle. Dieser Beitrag gibt einen Einblick, wie sich durch den gemeinsamen Einsatz von KI und Simulation Herausforderungen wie Zeitdruck, Modellzuverlässigkeit und Datenqualität erfolgreich bewältigen lassen.

1. Herausforderung: Daten zum Trainieren und Validieren von KI-Modellen

Die Erfassung realer Daten und die Erstellung geeigneter, bereinigter und katalogisierter Daten sind ein schwieriger und zeitraubender Prozess, insbesondere in der Automobilindustrie. Ingenieure müssen sich bewusst sein, dass die meisten KI-Modelle zwar statisch sind (sie arbeiten also mithilfe fester Parameterwerte), jedoch ständig mit neuen Daten konfrontiert werden, die nicht unbedingt im Trainingsdatensatz enthalten sind.

Ohne fehlerresistente Daten zum Trainieren eines Modells werden Projekte in der Regel scheitern, weshalb die Datenaufbereitung ein entscheidender Schritt im KI-Workflow ist. Mit "schlechten" Daten kann ein Automobilingenieur mühevoll und über Stunden hinweg untersuchen, warum das Modell nicht funktioniert, ohne dass aussagefähige Ergebnisse zu erwarten sind.

Die Simulation kann Automobilingenieuren dabei helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen. In den letzten Jahren hat datenzentrierte KI den Fokus der KI-Community auf die Bedeutung von Trainingsdaten gelenkt. Anstatt die gesamte Zeit eines Projekts auf die Optimierung der Architektur und der Parameter des KI-Modells zu verwenden, konnte gezeigt werden, dass der Zeiteinsatz zur Verbesserung der Trainingsdaten die Genauigkeit oft deutlich mehr erhöht. Der Einsatz von Simulationen zur Ergänzung vorhandener Trainingsdaten bietet eine Reihe von Vorteilen:

  • Computersimulationen sind in der Regel wesentlich kostengünstiger als physikalische Experimente am Fahrzeug.
  • Der Automobilingenieur hat die vollständige Kontrolle über die Umgebung und kann Szenarien simulieren, die in der Realität schwierig nachzustellen oder zu gefährlich wären. Beispiele sind Notbremsungen auf vereisten Straßen oder der Umgang mit Beinahe-Kollisionen im Falle von autonomen Fahrzeugen.
  • In der Simulation lassen sich interne Zustände ermitteln, die in einem Versuchsaufbau möglicherweise nicht gemessen werden können. Dies kann nützlich sein, um herauszufinden, warum ein KI-Modell in bestimmten Situationen schlecht abschneidet. Hierzu zählen Tests zur Fähigkeit von Modellen, nichtlineare Werte vorherzusagen, wie etwa NOx-Emissionen.

Da die Leistung eines Modells direkt zur Qualität der zum Training verwendeten Daten korreliert, können Automobilingenieure die Ergebnisse durch einen iterativen Prozess verbessern. Sie simulieren zunächst Daten, mit denen das KI-Modell aktualisiert wird. Nach Identifizierung der Bedingungen, die das Modell nicht ausreichend vorhersagen kann, sammeln sie für genau diese Bedingungen neue Daten und wiederholen den Vorgang. Abbildung 1 zeigt das für einen Notbremsassistenten, der auf einer Autobahnauffahrt getestet wird. Durch Variation von Geschwindigkeit und Abstand lassen sich rasch und ohne Risiko Daten für unterschiedlichste Szenarien sammeln.

Abbildung 1: 3D-Szenario zur Gewinnung von Daten für einen Notbremsassistenten auf einer Autobahnauffahrt. Links das animierte Szenario, rechts das Verhalten des zum Abbremsen veranlassten Folgefahrzeugs.
Abbildung 1: 3D-Szenario zur Gewinnung von Daten für einen Notbremsassistenten auf einer Autobahnauffahrt. Links das animierte Szenario, rechts das Verhalten des zum Abbremsen veranlassten Folgefahrzeugs. (Bild: MathWorks)

Branchenübliche Tools wie Simulink und Simscape geben Automobilingenieuren die Möglichkeit, simulierte Daten zu generieren, die reale Szenarien widerspiegeln. Durch Kombination von Simulink und MATLAB arbeiten sie zudem in der gleichen Umgebung, in der sie auch ihre KI-Modelle erstellen. Sie können so zum einen den Prozess weiter automatisieren und müssen sich zum anderen keine Gedanken über einen Wechsel der Toolchain machen.

2. Herausforderung: Komplexe Systeme durch KI annähern

Beim Entwurf von Algorithmen, die mit physikalischen Systemen interagieren, etwa eines Algorithmus zur Steuerung eines Hydraulikventils, ist ein simulationsbasiertes Modell des Systems der Schlüssel zu einer effizienten Entwurfsiteration für die entsprechenden Algorithmen. Im Bereich der Regelungstechnik wird dies als "Streckenmodell" bezeichnet, im Bereich der drahtlosen Fahrzeugkommunikation "Kanalmodell". Beim Reinforcement Learning nennt man dieses Modell das "Umgebungsmodell".  Egal wie es heißt, der Grundgedanke ist derselbe: Es gilt, ein simulationsbasiertes Modell zu erstellen, dessen Genauigkeit ausreicht, um das physikalische System nachzubilden, mit dem die Algorithmen interagieren.

Die Schwierigkeit bei diesem Ansatz besteht jedoch darin, dass zur Erreichung der "erforderlichen Genauigkeit" Modelle mit hoher Wiedergabetreue ursprünglich auf der Basis physikalischer Grundprinzipien (First Principles) aufgebaut wurden, was bei komplexen Systemen viel Zeit sowohl für die Erstellung als auch für den Simulationsablauf in Anspruch nehmen kann. Bei langlaufenden Simulationen sind damit weniger Entwurfsiterationen möglich, sodass möglicherweise nicht genug Zeit bleibt, um potenziell bessere Entwurfsalternativen zu bewerten.

Hier kommt KI ins Spiel: Das von Automobilingenieuren erstellte hochrealistische Modell des physikalischen Systems kann durch ein KI-Modell (ein Modell reduzierter Ordnung) approximiert werden. In anderen Situationen wird das KI-Modell unter Umständen einfach anhand experimenteller Daten trainiert, ohne dass ein physikalisches Modell erstellt werden muss. Der Vorteil hierbei besteht in dem geringeren Rechenaufwand des Modells mit reduzierter Ordnung im Vergleich zum First-Principles-Modell, was bedeutet, dass der Automobilingenieur den Entwurfsraum in größerer Tiefe ausloten kann. Ist bereits ein physikalisches Modell des Systems vorhanden, kann dieses jederzeit im weiteren Verlauf des Prozesses verwendet werden, um den mithilfe des KI-Modells erstellten Entwurf zu validieren.

Es muss auch nicht zwangsläufig das gesamte System genähert werden. Stattdessen kann der Benutzer anhand einer Abwägung zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit diejenigen Systembestandteile bestimmen und priorisieren, die sich am besten für die KI-Approximation eignen. Abbildung 2 zeigt das beispielhaft für ein Motormodell eines Pkw. Aus dem hochgetreuen Modell (u. r.) extrahiert ein KI-Modell aus verschiedensten Eingaben das geleistete Drehmoment in unterschiedlichen Lastzuständen, das hier als Kennzahl ausreichend ist.

Für viele Fahrszenarien reicht das Drehmoment als Kennzahl für den aktuellen Motorzustand. KI-Modelle können dafür Kennfelder oder andere geeignete Darstellungen extrahieren.
Abbildung 2: Für viele Fahrszenarien reicht das Drehmoment als Kennzahl für den aktuellen Motorzustand. KI-Modelle können dafür Kennfelder oder andere geeignete Darstellungen extrahieren. (Bild: MathWorks)

Ein weiterer Vorteil KI-basierter Ansätze bei der Modellierung mit reduzierter Ordnung ist, dass weniger Software-Tools zur Simulation eines Systems kombiniert werden müssen.  Wird beispielsweise versucht, eine detaillierte Steuerung zu einem System hinzuzufügen oder Subsysteme zu größeren Modellen zu kombinieren (häufig in Simulink), kann die Modellierung mit reduzierter Ordnung dabei helfen, weitere Software-Abhängigkeiten, die FMU/FMI-Integration und andere Hürden zu reduzieren, die bei der Co-Simulation mit verschiedenen Tools für die Automobilentwicklung auftreten.

Jüngste Fortschritte im KI-Bereich wie neuronale ODEs (Ordinary Differential Equations) kombinieren KI-Trainingsmethoden mit Modellen, in die physikalische Prinzipien eingebettet sind. Solche Modelle können hilfreich sein, wenn bestimmte Aspekte des physikalischen Systems beibehalten werden sollen, während der Rest des Systems mit einem eher datenzentrierten Ansatz approximiert wird.

3. Herausforderung: KI im Algorithmen-Entwurf

Zur Entwicklung von Algorithmen für automobiltechnische Regelungssysteme greifen Ingenieure immer mehr auf die Simulation zurück. Oft handelt es sich dabei um virtuelle Sensoren, sogenannte Beobachter, deren Aufgabe es ist, Werte zu berechnen, die nicht direkt von den verfügbaren Sensoren gemessen werden können. Die hierzu verwendeten Ansätze sind beispielsweise lineare Modelle oder Kalman-Filter.

Diese Methoden sind jedoch nur begrenzt in der Lage, das nichtlineare Verhalten vieler realer Systeme zu erfassen. Automobilingenieure wenden sich daher zunehmend KI-basierten Ansätzen zu, die über die nötige Flexibilität zur Modellierung solcher komplexen Faktoren verfügen. Ein KI-Modell, das den unbeobachteten Zustand aus den bisher beobachteten Zuständen vorhersagen kann, wird mit Daten (entweder gemessenen oder simulierten) trainiert und anschließend in das System integriert.

Virtueller Sensor zur Schätzung des Ladezustands der Batterie (SOC), Generierung von C/C++-Code für das KI-Modell und Implementierung im Fahrzeug.
Abbildung 3: Virtueller Sensor zur Schätzung des Ladezustands der Batterie (SOC), Generierung von C/C++-Code für das KI-Modell und Implementierung im Fahrzeug. (Bild: MathWorks)

In solch einem Fall stellt das KI-Modell also einen Teil des Regelungs-Algorithmus dar, der am Ende auf der ECU eingesetzt wird. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Ladezustand (SOC – state of charge) einer Autobatterie, der sich nicht direkt messen lässt (Abbildung 3). Ein KI-Modell wird trainiert, diesen zu schätzen (oben), in das Batteriemanagement-System integriert und dann als Code im Fahrzeug bereitgestellt (unten). Ein solcher Algorithmus unterliegt Leistungs-/Speichereinschränkungen und muss in der Regel in einer hardwarenahen Sprache wie beispielsweise C programmiert werden. Nicht alle Machine-Learning-Modelle eignen sich daher für solche Anwendungen. Ingenieure müssen unter Umständen verschiedene Modelle ausprobieren und vergleichen, wie sich deren Genauigkeit und Leistung im Fahrzeug genau verhält.

An der Spitze der Forschung in diesem Bereich treibt das Reinforcement Learning diesen Ansatz noch einen Schritt weiter.  Anstatt nur die Schätzfunktion zu erlernen, lernt das Reinforcement Learning die gesamte Regelungsstrategie. In einigen anspruchsvollen Anwendungen wie der Robotik und bei autonomen Systemen hat sich dies als leistungsfähige Technik erwiesen – jedoch erfordert der Aufbau eines solchen Modells ein genaues Umgebungsmodell, das unter Umständen nicht sofort verfügbar ist, sowie ausreichend Rechenleistung, um eine große Anzahl von Simulationen durchzuführen.

Neben virtuellen Sensoren und Reinforcement Learning werden KI-Algorithmen zunehmend im Bereich Embedded Vision sowie in der Audio- und Signalverarbeitung und bei Drahtlos-Anwendungen eingesetzt. In Fahrzeugen mit Funktionen für das automatisierte Fahren erkennt beispielsweise ein KI-Algorithmus Fahrbahnmarkierungen und hilft bei der Spurhaltung. KI-Algorithmen können außerdem bei Sprachassistenten im Fahrzeug die Erkennung verbessern und Hintergrundgeräusche unterdrücken.

Gemeinsam ist diesen Anwendungen, dass KI-Algorithmen in größere Systeme integriert sind. Durch Simulationen wird sichergestellt, dass der Gesamtentwurf die Anforderungen erfüllt.

Die Zukunft von KI in der Simulation

Immer anspruchsvollere Anwendungen in der Automobilindustrie bedeuten eine stetig wachsende Größe und Komplexität der beteiligten Modelle. KI und Simulation werden darum zu immer wichtigeren Werkzeugen im Kompendium der Automobilingenieure. In der Branche verbreitete Tools wie Simulink und MATLAB haben es Ingenieuren ermöglicht, ihre Workflows zu optimieren und Entwicklungszeiten zu verkürzen, indem sie den Einsatz von Methoden wie der Generierung synthetischer Daten und der Modellierung mit reduzierter Ordnung sowie eingebettete KI-Algorithmen für Regelungen, die Signalverarbeitung, Embedded Vision und für Drahtlosanwendungen gestatten.

Durch die Fähigkeit, Modelle sowohl präzise als auch kostengünstig zu entwickeln, zu testen und zu validieren, noch bevor Hardware verfügbar ist, wird die Verbreitung dieser Methoden in Zukunft weiter zunehmen.

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