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Produktions- und Lieferketten in der EMS- und OEM-Industrie sind besonders komplex. Gerade wenn es um den Bezug von Platinen, SMT-Masken/Stencils und elektronischen Bauteilen geht, haben wir es mit einer langen Lieferkette zu tun, die aus vielen Zwischenprodukten bestehen kann. Zulieferer sind über den Globus verteilt, das Know-how ist ebenso auf die ganze Kette verteilt. Die Herausforderungen in der Lieferkette sind dabei enorm. Wie schnell kann es zu Engpässen in der Zulieferung kommen, wenn beispielsweise Handelsembargos unvermutet greifen oder logistische Probleme aufgrund von unerwarteten Umweltereignissen eintreten, erwähnt sei hier nur kurz der Vulkanausbruch des Eyjafjalla 2010 auf Island? Die aktuelle Corona-Pandemie zeigt, wie brüchig unsere Herstellungs- und Lieferketten geworden sind und wie wichtig dann Mehrgleisigkeit im Beschaffungsprozess sein kann. Aus Angst vor Ansteckung ihrer Mitarbeiter und Kunden drosseln Unternehmen in besonders stark von der Krankheit betroffenen Regionen ihre Produktion oder stellen sie sogar ein. Das hat dramatische Folgen für die Supply Chain. Multi-Vendor Sourcing kann sich dabei nicht nur in Krisenzeiten als Retter in der Not erweisen. Wenn die Zulieferprozesse so gestaltet werden, dass Zulieferprodukte, die für eine Bauteilgruppe benötigt werden, von mehreren Lieferanten bezogen werden können, dann spricht man von Multi-Vendor Sourcing. Die Austauschbarkeit des Lieferanten bei gleichbleibender Produktqualität ist dabei das strategisches Ziel.

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(Bild: A Stockphoto_AdobeStock_313356660)

Fragen, die Sie sich zu Ihrer Lieferkette stellen sollten

Ein paar Leitfragen sollten sich Firmen stellen, um zu beurteilen, ob die Lieferkette ihrer EMS- oder OEM-Produkte gut abgesichert ist:

  1. Wie gering kann ich als Einkäufer in einer Firma meine Anforderungen an den Lieferanten halten? Ist meine Anforderung, die ich an den Zulieferer habe, aus seiner Sicht komplex? Der Hintergrund der Frage ist, die Abläufe des Zulieferers zu verstehen. Was sind Standardprozesse? Welche meiner Anforderungen verursachen Sonderleistungen und was sind die Kostentreiber dabei? Je geringer diese Anforderung sind, umso größer ist die Auswahlmöglichkeiten an Lieferanten. Oder anders ausgedrückt: Jede Anforderung verkleinert den Kreis möglicher Lieferanten.
  2. Wie hoch ist der Lieferanten-Fingerabdruck? Wie hoch ist die Varianz in den gelieferten Produkten? Ist sie hoch, dann ist der Fingerabdruck besonders ausgeprägt. Auch hier muss man wieder aus Lieferantensicht denken. Wo fallen manuelle Arbeiten bei der Fertigung an? Überall dort, wo manuelle Arbeiten durchgeführt werden, entstehen kleine Abweichungen. Wenn eine große Varianz bei gleichem Auftrag zu erwarten ist, ist der Fingerabdruck groß. Das Know-how des Lieferanten ist meistens durch Mitarbeiter gewährleistet, was ebenfalls eine Varianzquelle darstellt. Ein starker Fingerabdruck kann einen Lieferanten-Wechsel unmöglich machen!
Patrick Franken, Geschäftsführer Aisler B.V., Lemiers/Niederlande
Patrick Franken, Geschäftsführer Aisler B.V., Lemiers/Niederlande (Bild: Aisler)

„Wir sehen uns auch als Mittler für die Firmen, die vielleicht erst am Beginn dieses Veränderungsprozesses stehen, und den OEM- und EMS-Lieferanten, deren Anforderungen wir genau kennen.“ Patrick Franken, Geschäftsführer Aisler 

Konkrete Tipps aus der Praxis

Nach Beantwortung dieser Fragen für jeden einzelnen der Lieferanten, entsteht eine Art Matrix, mit der man wertvolle Erkenntnisse über die eigene Lieferkette gewinnen und gegebenenfalls mit Verbesserungsmaßnahmen ansetzen kann. Patrick Franken, Geschäftsführer bei Aisler B.V verdeutlicht das an drei konkreten Beispielen aus seinem eigenen Branchenumfeld.

Beispiel Platinenfertiger

„Für uns als EMS beispielsweise impliziert eine hohe Lagenanzahl der Platine in der Regel auch eine komplexe Bestückung, da Komplexität und Dichte der Bauteile zunehmen. Für unseren Platinenfertiger dagegen ist das ein standardisierter Vorgang, der Aufwand steigt logischerweise mit der Anzahl der verwendeten Lagen, der Vorgang bleibt allerdings identisch. Schauen wir uns den Fertigungsvorgang aus Herstellersicht im Detail an, dann wird mit einer höheren Lagenanzahl die Lieferkette nicht länger. Das Risiko ist überschaubar. Dagegen ist die Oberflächenveredelung für uns nur ein zusätzliches Bestell-Feature, das wir unseren Kunden im Auftrags- und Bestellvorgang anbieten. Für den Platinenfertiger hingegen bedeutet eine andere Oberflächenveredelung häufig, dass sie einen Drittanbieter hinzuziehen müssen. Dies bringt wieder Risiken mit sich. Um also die Anforderung an unseren Platinenfertiger gering zu halten, müssen wir deshalb darauf achten, dass potentielle Platinenlieferanten die von uns gewünschten Oberflächenveredelungsverfahren im eigenen Haus durchführen können. Dies schränkt natürlich die Auswahl wiederum ein. Die Fragen müssen wir uns als EMS auch stellen, wenn es um die Verarbeitung unsere CAD-Daten beim Platinenlieferanten geht. Dies ist ein meist händischer Schritt, welcher den Lieferanten-Fingerabdruck massiv beeinträchtigt. Hier müssen wir fragen, ob es nicht sinnvoller ist, gegebenenfalls Anpassungen an den CAD-Daten selber vorzunehmen, um dadurch einerseits eine hohe Produktqualität abzusichern und dabei gleichzeitig den Lieferanten-Fingerabdruck zu verringern.“

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Quelle: DOC RABE Media_AdobeStock_68498882

Beispiel SMT-Masken-Lieferanten

„Überspitzt formuliert bekommen wir vom Lieferanten ein Stück Blech mit Ausschnitten geliefert. Das Know-how des Lieferanten besteht darin, die von uns gelieferten Schablonen-Daten durch erfahrene Mitarbeiter bearbeiten zu lassen, so dass beim späteren Reflow der Ausschuss so niedrig wie nur möglich ist. Wollen wir an dieser Stelle den Fingerabdruck des SMT-Masken-Lieferanten entfernen, dann bleibt uns nichts Anderes übrig, als die Anpassung der Schablonen-Daten zukünftig selbst vorzunehmen. Erst ab diesem Moment bin ich unabhängig vom Know-how des Lieferanten.“

Beispiel Bauteil-Distributoren

„Obwohl hier aufgrund der hohen Anzahl von Bauteile-Lieferanten eine gute Verfügbarkeit von Standard-Bauteilen gewährleistet ist und somit der Fingerabdruck eines einzigen Lieferanten nicht so ausgeprägt sein kann, achten wir beispielsweise bei der Lieferantenauswahl auf einheitliche Bestellschnittstellen, um den Arbeitsaufwand für Bestellvorgänge zu minimieren. Insgesamt werden diese Anforderungen von uns an Bauteil-Distributoren nicht für so bedeutsam eingestuft, wie wir das für Platinen- und SMT-Masken-Lieferanten vornehmen.“

Nicht nur auf einen Anbieter vertrauen

Die Praxisbeispiele zeigen, in welchem Spannungsfeld das Multi-Vendor Sourcing verortet ist. Mit den Leitfragen können Firmen systematisch ihre Lieferkette überprüfen und krisensicherer gestalten. Aisler wendet die Prinzipien des Multi-Vendor Sourcings in allen Geschäftsprozessen an und hat gute Erfahrungen damit gemacht - eine ständige Produkt- und Serviceverbesserung ist die positive Folge daraus. (pg)

Der Autor

Patrick Franken, Geschäftsführer Aisler B.V., Lemiers/Niederlande

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