Fußball und digitale Vernetzung

Digitalisierung wird im Maschinenbau-Mittelstand oft als Thema für die ferne Zukunft gesehen. Neue Ökosysteme rufen aber branchenfremde Herausforderer auf den Plan. (Bild: Adobe Stock / alphaspirit)

Die kritischen Stimmen zu Investitionen in Apps oder „Dashboards“ sind besonders in kleinen Unternehmen gestiegen. Der zunehmende Kostendruck auf die Branche und die anhaltenden Krisen bieten keinen Raum für die Entwicklung von Softwarelösungen, die sich nicht kurzfristig rechnen.

Zudem wiegt sich die Industrie in Sicherheit. Schließlich spricht der größtenteils nur leicht gedämpfte Erfolg der Branche trotz Krisenzeiten für die etablierten Angebote und Geschäftsmodelle. „Auftragsbücher sind voll“, „zu kompliziert“, „zahlt eh keiner“: Die Begründungen zur Ablehnung von Anpassungen sind firmenübergreifend gleich, leider genauso wie das Risiko, von neuen Playern im Markt überholt zu werden. Eine ungewohnte und unangenehme Situation für den etablierten Maschinenbau, der mit technischer Perfektion zu Weltruhm gelangte. Doch ähnlich zum Fußball sind Weltmeisterschaften vergänglich und die Relevanz des konsequenten Wandels ist, gerade in Erfolgszeiten, wichtiger denn je. Der wesentlichste Schritt dabei: Reflexion.

Der Blick auf die Trendthemen, die der Maschinenbau auf den Weltleitmessen präsentieren soll, führt schnell zu KI, 5G oder dem IIoT. Besonders für den Mittelstand im Projektgeschäft sind dies jedoch Aufgaben für die ferne Zukunft oder schlichtweg die nächste Generation der Unternehmensführung. Es kollidieren somit Trendthemen mit den akuten Herausforderungen der operativen Wettbewerbsfähigkeit. Ein Dilemma, das es zu überwinden gilt, da die eigentlichen Wettbewerber der Maschinen- und Anlagenbauer nicht mehr ausschließlich die industriebekannten Marktbegleiter sind, sondern Newcomer aus ganz anderen Bereichen.

Dirk Engelbrecht
Dirk Engelbrecht (Bild: andugo.io)

Dirk Engelbrecht

...ist der Gründer und CEO der Plattform andugo.io (gesprochen: „and you go“), das Industrieunternehmen Services für ihre Digitalisierung bereitstellt. Er ist Absolvent der TU München (Dipl.-Ing. Maschinenwesen und MBA) und hat langjährige Erfahrung in der Industrie gesammelt, etwa als Director Sales Platforms bei Kuka.

Betrachten wir die Digitalisierung im Consumer-Bereich, wird das Smartphone häufig zum physischen Symbol der Veränderung. Kaum eine Entwicklung hat das Nutzerverhalten länderübergreifend so fundamental verändert. Bemerkenswert ist jedoch, dass die technische Leistungsfähigkeit der verschiedenen Produkt-Modelle dabei noch nie im Vordergrund stand. Vielmehr haben Bedienbarkeit und die digitalen Ökosysteme dahinter entscheidende Auswirkungen auf die Kaufentscheidung und die Akzeptanz der Nutzer:innen gegeben – vom Preis an dieser Stelle abgesehen.

Digitalisierung: Enabler für Zusammenarbeit

Die beiden Überbegriffe „Bedienbarkeit“ und „digitale Ökosysteme“ sind auch für zukünftige Lösungen und Portfolios im Maschinenbau essenzielle Unterscheidungsmerkmale. Für dessen Diskussion bedarf es jedoch eines Perspektivwechsels, einer neuen Interpretation der Digitalisierung, denn sie ist viel weniger ein Bestandteil neuer Produkte, sondern vielmehr ein Enabler für höhere Agilität, gesteigerte Kundennähe und Erweiterung des eigenen Angebots.
Die Bedienbarkeit von komplizierten Produkten, Maschinen und Lösungen, erhält in der Industrie bereits höhere Aufmerksamkeit. Die Gewohnheiten aus dem Konsumentenverhalten wirken sich auch auf die Erwartungshaltung im geschäftlichen Umfeld aus. Intuitive Bedienoberflächen reduzieren die Arbeitsaufwände und steigern den Begeisterungsfaktor der Bediener:innen. Nüchterne Bedienungsanleitungen liegen Pro Forma bei, während die Befähigung zur Selbsthilfe ebenfalls an Bedeutung gewinnt. Tutorials, Webinare und schnelle Reaktionszeiten des Supports werden zu Mindestanforderungen von den neuen Maschinen-Bediener:innen.

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Guter Service ist kritischer Erfolgsfaktor

Die Befähigung der Kunden benötigt mutige Konzepte, neue Kanäle und nimmt eine wesentliche Rolle in der strategischen Ausrichtung von Industriefirmen ein. Speziell die Qualität und Effizienz der Servicedienstleistungen gehören zu den kritischen Erfolgsfaktoren in einem zunehmend digitalen Wettbewerbsumfeld. Es gilt, Nutzer:innen zu begeisterten Key Usern zu entwickeln. Im Vordergrund steht dabei aber nicht ein kurzfristiger Mehrumsatz. Vielmehr ist die neu gewonnene Kundennähe das Unterscheidungsmerkmal, welches besonders stark zwischen den Marktbegleitern und besonders gegenüber neuen Marktteilnehmern entscheidet.

Im Anlagenbau bestehen die Systemlösungen grundsätzlich aus verschiedenen, aufeinander abgestimmten Einzelprodukten. Diese werden von Integratoren in Betrieb genommen. Die Vielzahl an beteiligten Firmen birgt weitere Herausforderungen für die erwartete Kundennähe. Es tut sich die Frage auf, von wem und über welche Kanäle erhält der gemeinsame Kunde welche Services? Die individuellen Umsatzziele konkurrieren mit der Loyalität zwischen den Partnerfirmen. Nun wird unweigerlich das zweite Unterscheidungsmerkmal relevant: Die Fähigkeit zur Kollaboration von Industriefirmen über digitale Ökosysteme.

Speziell bei den Produktanbietern sind firmenspezifische Ökosysteme im Trend. Je mehr Partner im verwalteten Ökosystem, desto größer die Relevanz der eigenen Produkte. Der versprochene Kundenmehrwert, anbie-terübergreifende Informationen und Services in einer einzigen Umgebung zu finden, wird dadurch jedoch stark begrenzt. Werden in einer Anlage Produkte zweier konkurrierender Marken verwendet, so bedeutet das bildlich gesprochen, mindestens zwei Plattform-Logins für die Betreiberin. Weiter noch, wird es für die Firmen, die sich ausschließlich als Teilnehmerinnen sehen, eine Herausforderung, sämtliche Inhalte plattformübergreifend aktuell zu halten. Mit der steigenden Anzahl von-einander getrennter, firmeneigener Ökosysteme sinkt schlussendlich die Differenzierungsmöglichkeit.

Die Ambition, dass jeder (meist große) Produktanbieter für sich beansprucht, sowohl Betreiber als auch vollwertiger Teilnehmer des eigenen Netzwerkes zu sein, wird zur Krux. Gemäß den grundsätzlichen Prinzipien der Plattformökonomie müssen klare ökonomische Interessen aller beteiligten Firmen berücksichtigt und verfolgt werden. Eine neutrale Rolle ist praktisch Grundvoraussetzung für die Initiatorin. Andernfalls wird immer nur ein Teil des verfügbaren Angebots für Nutzer:innen zugänglich.

Größtmöglicher Mehrwert für die Kunden steht im Fokus

Genau diese Spielregeln digitaler Ökosysteme werden im Consumer-Bereich von digitalen Konzernen vorwiegend aus den USA und China beherrscht. Sie setzen den größtmöglichen Kundenmehrwert stets ins Zentrum der Entwicklungen, um eine Sogwirkung der Nachfrage zu erzeugen. Die initialen, weitreichenden Mehrwerte für Partnerfirmen, also für die Anbieterseite, relativieren die Risiken der Abhängigkeit – oder machen diese schlichtweg zum notwendigen Übel. Bei Uber war es nicht das nächste Taxi-Unternehmen, das schlagartig zum Wandel der Branche geführt hat. Es war ein branchenfremder, digitaler Player, der vor allem den größtmöglichen Mehrwert für die gemeinsamen Kunden im Fokus hatte.

Firmen in der Industrie sind aufgefordert, diesen Paradigmenwechsel für sich zu starten und nicht auf den Lorbeeren des technischen Weltmeisters zu verweilen.Dazu gilt es vor allem, die eigene Rolle in digitalen Ökosystemen zu definieren, Kollaboration konsequent zu verankern und moderne Kommunikationskanäle auszubauen. Denn nur so rückt die Kundenzufriedenheit auch wirklich in den Mittelpunkt des Tuns.

 

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