Die Zeit läuft davon. Weißer Wecker mit fliegenden Zahlen als Symbol für verlorene Zeit. Das Konzept der Zeit läuft ab, Verlust oder Mangel an Zeit, ein Wecker mit Zahlen zerbricht in kleine Stücke

Der VDMA stellt einen negativen Produktivitätseffekt im deutschen Maschinen- und Anlagenbau fest, obwohl in den vergangenen Jahren vielfältig in Software und Digitalisierung investiert wurde. Wo Michael Finkler hierfür die Gründe sieht, was für ihn eigentlich Industrie 4.0 bedeutet und wo noch Potenzial liegen, das erzählt er im Interview. (Bild: SERSOLL – Adobe Stock)

Michael Finkler ist verantwortlich für das Business Development der ProAlpha Gruppe sowie Vorstand der VDMA Software. Er sieht keine nennenswerten Fortschritte bei der Produktivität und Profitabilität durch das Konzept der Industrie 4.0. Eine McKinsey-Studie im Auftrag des VDMA zeigt sogar, dass es trotz hoher Softwareinvestitionen einen negativen Produktivitätseffekt gibt. Wir haben nachgefragt.

Herr Finkler, wie würden Sie ihr Idealbild von Industrie 4.0 definieren?

Mein Idealbild von Industrie 4.0 ist, wenn Unternehmen nicht nur die industrielle Produktion über Digitalisierungsinitiativen auf ein neues Level hieven, sondern mit einer zielgerichteten digitalen Geschäftsstrategie den Bedürfnissen der heranrauschenden Plattformökonomie gerecht werden. Hier ist in den letzten zehn Jahren, seit der Begriff eingeführt wurde, viel zu wenig bis kaum etwas passiert. Daher sehe ich auch das Konzept der Industrie 4.0 rückwirkend als weitestgehend gescheitert.

Auf welche Daten stützen sie die Aussage, dass das Konzept von Industrie 4.0 gescheitert ist?

Die Aussage fußt zum einen auf meiner persönlichen Einschätzung und zum anderen auf unserer Kenntnis im Markt – als ERP+ Experte für die mittelständische Fertigung kennen wir bei ProAlpha die Herausforderungen und den Umsetzungsstand von Digitalisierungsinitiativen im industriellen Umfeld ganz genau. Zudem bestätigen Studien die These. So stellt der VDMA sogar einen negativen Produktivitätseffekt im deutschen Maschinen- und Anlagenbau fest, obwohl in den vergangenen Jahren vielfältig in Software und Digitalisierung investiert wurde. Diese Bilanz ist auch deswegen alarmierend, weil Unternehmen aus der Industrie längst weiter sein sollten, um sich für die kommenden Herausforderungen der Zukunft zu wappnen.

Michael Finkler
Michael Finkler ist stellvertretender Vorsitzende im VDMA Software und Digitalisierung und verantwortet den Bereich Business Solutions der ProAlpha Gruppe. (Bild: ProAlpha)

Wo sehen Sie die Hauptprobleme in der Umsetzung von Industrie 4.0?

Ein systemimmanentes Problem ist sicherlich, dass der Schwerpunkt der industriellen Digitalisierung in Europa, und damit auch in Deutschland, in den vergangenen Jahren zu sehr fabrikzentriert und weniger marktorientiert war. Daher sehen wir auch nach zehn Jahren keine nennenswerten Fortschritte bei Produktivität und Profitabilität in der Breite, auch wenn es unbestritten eine Hand voll Leuchtturmprojekte gibt.

Sehen Sie andere Regionen auf der Welt auf einem besseren Weg?

Andere Länder wie die USA und China sind hier weiter. Die haben sich nicht nur auf die verbesserte Effizienz von Produktionsprozessen und die Automatisierung beschränkt, sondern sahen schon frühzeitig das Potential digitaler Mehrwertdienste (gespeist von Daten aus dem IoT beispielsweise). Europa und auch Deutschland müssen sich jetzt richtig ins Zeug legen und sich frühzeitig Gedanken machen, wie sie im Zeitalter der Plattformökonomie im Bereich der Industrie 4.0 erfolgreich sein wollen. Die Zeit rennt – wer jetzt startet, rüstet sich für das kommende digitale Zeitalter und hat gute Chancen, in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben – auch gegenüber internationalen Marktteilnehmern.

Was muss passieren, damit die nächsten 10 Jahre in Sachen Industrie 4.0 erfolgreicher sind?

Es muss ein „Umdenken“ stattfinden, das am besten von der Unternehmensspitze getrieben wird. Entscheidend ist nicht mehr nur, wer Maschinen und Anlagen mit der größtmöglichen technischen Finesse bauen und seine Automatisierungsprozesse in der Fabrikhalle optimieren, sondern Geschäftsmöglichkeiten durch zusätzliche produktbezogene Services über den gesamten Lebenszyklus generieren und monetarisieren kann. Es geht heute und in Zukunft auch viel mehr darum, kundenzentrierte Lösungen und Services zu etablieren. So kann die Kundennähe und -Bindung auf ein komplett neues Niveau gehoben werden. Nur wer die strategische Relevanz digitaler Mehrwertdienste erkennt und angeht, wird in Zukunft seine Position halten und von der eigenen Prozessnähe sowie dem tiefen Anlagen-Know-how auch wirtschaftlich profitieren.

Welche Rolle spielen digitale Plattformen dabei?

Eine enorme und meiner Meinung nach zukunftsentscheidende. Die Industrie muss erkennen, dass digitale Plattformen und Mehrwertdienste mehr als nur eine digitale Ergänzung des bisherigen Geschäfts sind. In wenigen Jahren wird es wettbewerbsentscheidend sein, eigene Lösungen und Services über B2B-Plattformen zu vertreiben. Daher gilt es herauszufinden, in welchen Bereichen es sich für Unternehmen lohnt, digitale Plattformen, auch mit der Konkurrenz – denn Plattformen vereinen verschiedene Akteure – zu etablieren und wie eine höhere Kompatibilität zu bestehenden Systemen erreicht werden kann. Es gilt mehr denn je, nicht den Anschluss an die heranrauschende industrielle Plattformökonomie zu verschlafen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Hyperscaler wie Amazon Web Services, Microsoft und Google den Aufbau von Industrie-Plattformen forcieren.

Wie kann der VMDA Software-Unternehmen – und gerade KMUs mit kleinem Budget – unterstützen?

Die vom VDMA beauftragte McKinsey-Studie spricht ganz konkrete Handlungsempfehlungen aus, mit denen auch kleinere Unternehmen ihren Digitalisierungsrückstand aufholen. Denn wie bereits erwähnt: Unternehmen stehen vor der großen Aufgabe, sich nicht nur mit Digitalisierungsinitiativen in der Fabrikhalle oder im Büronetzwerk auseinanderzusetzen, sondern sich intensiv mit digitalen Geschäftsoptionen und werttreibenden Services zu beschäftigen. Hierzu gehört, dass sie neue digitale Mehrwertdienste identifizieren, die das Unternehmen anbieten beziehungsweise monetarisieren kann, sowie auch, dass sie Lösungen entwickeln, die das eigene Produkt- und Serviceportfolio plattformkompatibel machen. Es müssen außerdem Konzepte und Pläne zur Optimierung und Digitalisierung der Wertschöpfungsketten in der Smart Factory geschaffen werden. Der Fokus sollte darauf liegen, welche Produkte und Services das Unternehmen digitalisieren und zur Marktreife bringen kann.

Der Autor: Dr. Martin Large

Martin Large
(Bild: Hüthig)

Aus dem Schoß einer Lehrerfamilie entsprungen (Vater, Großvater, Bruder und Onkel), war es Martin Large schon immer ein Anliegen, Wissen an andere aufzubereiten und zu vermitteln. Ob in der Schule oder im (Biologie)-Studium, er versuchte immer, seine Mitmenschen mitzunehmen und ihr Leben angenehmer zu gestalten. Diese Leidenschaft kann er nun als Redakteur ausleben. Zudem kümmert er sich um die Themen SEO und alles was dazu gehört bei all-electronics.de.

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