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Bild 1: Implementierungsphasen eines modernen digitalen Zwillings. Das virtuelle Modell nimmt während des Entwicklungszyklus mehrere Darstellungen an. (Bild: Siemens)

Die Automobilindustrie ist ein Paradebeispiel für eine Branche, in der Halbleiter Veränderungen in allen Aspekten der Entwicklung vorantreiben. Neue Geschäftsmodelle, Umweltauflagen und die Entwicklung hin zu vollautonomen, softwaredefinierten Fahrzeugen forcieren diese Entwicklung.

Die Nachfrage nach voll- und teilautonomen Systemen hat besonders großen Einfluss auf die Methoden und Abläufe für die Verifizierung und Prüfung auf Systemebene. Um eine adäquate Prüfung des gesamten Zustandsraums zu erreichen, müssen Original Equipment Manufacturer (OEM) alle Phasen des Produktlebenszyklus virtualisieren. Dies schließt die Prüfung mit einer virtuellen Darstellung des Fahrzeugs, dessen Systeme und der Umgebung ein.

Was ist ein dynamischer digitaler Zwilling?

Die virtuelle Darstellung wird oft als digitaler Zwilling bezeichnet. Aber weder Branchenexperten noch Anbieter sind sich einig, was das eigentlich ist. Bei Siemens ist die Definition eines modernen digitalen Zwillings umfassender als traditionelle Sichtweisen: Es gibt nur einen dynamischen digitalen Zwilling eines Produkts. Dieser digitale Zwilling repräsentiert das Produkt, während es die zahlreichen Entwurfsphasen und Modelle des physikalischen Verhaltens über den gesamten Entwicklungslebenszyklus hinweg durchläuft.

Die wichtigsten Merkmale des digitalen Zwillings sind:

  • Eine hochpräzise virtuelle Darstellung des realen Produkts.
  • Ein virtuelles Modell, auf das während des gesamten Lebenszyklus zurückgegriffen wird, um das Produkt zu simulieren, vorherzusagen und zu optimieren.
  • Ein virtuelles Modell, das während des gesamten Entwicklungslebenszyklus mehrere Darstellungen annimmt.
  • Ein virtuelles Modell, das sich weiterentwickelt und während des gesamten Lebenszyklus verwaltet werden muss.
  • Ein geschlossener Lebenszyklus, der bidirektionale Konnektivität und Feedback zwischen der realen und der virtuellen Welt ermöglicht.

Halbleiterunternehmen müssen Entwicklungsprozesse und -aktivitäten neu bewerten

Auf den ersten Blick scheint es, als ob Halbleiterunternehmen schon seit Jahren digitale Zwillinge integrierter Schaltungen (integrated circuit, IC) verwenden, und das ist nicht weit von der Wahrheit entfernt. Die Komplexität und die Kosten von Fehlern (z. B. Siliziumfehler, die zu mehreren Tapeouts führen) sind einfach zu hoch, um auf eine gründliche Entwicklung und Verifizierung in einer virtuellen Umgebung zu verzichten.

Die gute Nachricht ist, dass die aktuellen Best Practices bereits Aspekte der Kerngedanken eines digitalen Zwillings umgesetzt haben. Die schlechte, dass neue Herausforderungen und grundlegende Lücken aufgetaucht sind, die Halbleiteranbieter dazu zwingen, Entwicklungsprozesse und -aktivitäten neu zu bewerten. Denn der Weg zur vollständigen Autonomie erfordert einen digitalen Zwilling, der Systeme virtuell modelliert und die virtuelle und reale Welt miteinander verbindet. Dieses Umdenken stellt Halbleiterlieferanten vor neue Aufgaben, unter anderem:

  • Erstellen und Liefern von Modellen
  • Engere Kopplung von Verifizierungstechnologien zwischen Integratoren und Lieferanten
  • Feedback aus realen Daten
  • Rückverfolgbarkeit über das traditionelle V-Modell (Bild 3)

Modelle bereitstellen

Die erfolgreiche Entwicklung und Überprüfung eines Fahrzeugs in einer virtuellen Umgebung hängen von der Genauigkeit der verfügbaren Modelle ab. In der Branche besteht bereits eine Nachfrage nach genauen Modellen dieser ICs. Die Erstellung und Bereitstellung dieser Modelle wird schnell zu einer Lieferantenaufgabe, da Hersteller nicht in der Lage sind, die in komplexen Halbleitern implementierten Funktionen genau zu modellieren.

Verifizierungstechnologien enger koppeln

Unternehmen sind stets bestrebt, schnell und dabei genau zu arbeiten. Auf den ersten Blick zwei gegensätzliche Ziele, aber das muss nicht sein. Denn Verifizierungstechnologien ermöglichen es OEMs und Lieferanten, während der jeweiligen Entwicklungszyklen zusammenzuarbeiten.

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Bild 2: Über die Feedbackschleife gelangen die realen Daten in die virtuelle Welt. (Bild: Siemens)

Automatisiertes Feedback aus der Praxis muss gängige Praxis werden

Derzeit sind die automatische Erfassung und Rückmeldung von Daten aus der realen Welt noch nicht gängige Praxis, insbesondere von Daten, die an den IC-Schnittstellen erhoben werden. Die Komplexität von SoCs, die Konfigurierbarkeit und die Migration zu softwaredefinierten Plattformen machen das Testen des gesamten Zustandsraums über alle Anwendungen hinweg zu einer großen Herausforderung. Daher ist es unerlässlich, die in der realen Welt erfassten Daten in den Entwicklungslebenszyklus zurückzuführen. Diese Fähigkeit dient sowohl reaktiven als auch prädiktiven Szenarien.

Rückverfolgbarkeit innerhalb des digitalen Prozesses

Die Rückverfolgbarkeit ist ein zentraler Bestandteil des digitalen Prozesses. Grundsätzlich müssen Halbleiterhersteller zwei Arten der Rückverfolgbarkeit berücksichtigen:

  • Interne Rückverfolgbarkeit umfasst die Rückverfolgbarkeit über die Lebenszyklusaktivitäten und die in jeder Lebenszyklusphase generierten Daten.
  • Externe Rückverfolgbarkeit ist die Rückverfolgbarkeit zwischen Lieferanten und Integratoren.
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Bild 3: V-Modell der Rückverfolgbarkeit von den Anforderungen bis zur Umsetzung und Überprüfung. (Bild: Siemens)

Bislang haben Automobilzulieferer die Rückverfolgbarkeit durch manuelle Prozesse und/oder eine selbst entwickelte Infrastruktur gehandhabt. Unternehmen, die neu in der Automobilbranche und in sicherheitskritischen Abläufen tätig sind, mussten bei früheren Projekten möglicherweise noch keine Rückverfolgbarkeit nachweisen. Siemens hat direkt mit Halbleiterzulieferern zusammengearbeitet, um eine Lebenszyklusanalyse durchzuführen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass diese bestehenden Prozesse erheblichen Mehraufwand verursachen und nicht skalierbar sind, um die Anforderungen an die interne und externe Rückverfolgbarkeit zu erfüllen.

Unternehmen sollten deshalb in eine moderne digitale Rückverfolgbarkeit investieren, um gut positioniert zu sein, wenn die Komplexität von ICs in komprimierten Marktfenstern zunimmt. Glücklicherweise ist der Weg zu einem modernen digitalen Zwilling keine All-or-Nothing-Entscheidung. Unternehmen können eine digitale Transformation mit geringen, schrittweisen Investitionen umsetzen.

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(Bild: Siemens EDA)

Jacob Wiltgen

Manager Automotive und Functional Safety Solutions, Siemens EDA

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