Ein modernes Fahrzeug, ausgestattet mit zahlreichen Assistenzsystemen, ist in einen Verkehrsunfall verwickelt. Trotz vieler elektronischer Helfer gibt es physikalische Grenzen. So etwas passiert jeden Tag und weltweit. Vision Zero wird auf absehbare Zeit eine Vision bleiben. Betrachtet man die Situation in Europa und damit auch in Deutschland, so ist es derzeit für eine unfallbeteiligte Partei, selbst wenn für diese der Unfall unvermeidbar war, sehr schwierig bis unmöglich, den Unfallhergang rechtssicher nachzuweisen.
Hersteller künftig mitverantwortlich
Durch deutsche Gerichte werden häufig unfallanalytische Sachverständige mit der Verkehrsunfallrekonstruktion beauftragt, die jedoch mit klassischen Rekonstruktionsmethoden, unter zu Hilfenahme von fahr- und kollisionsdynamischen Analyse-Tools und teilweise ungenauen Schätzmethoden, im seriösen Fall sehr große Lösungsbandbreiten angeben und in unseriösem Fall falsche Ergebnisse liefern. Digitale Spuren, die in solchen Fahrzeugen in großer Komplexität zweifellos vorhanden sind, stehen dem Sachverständigen in der Regel nicht zur Verfügung und sind oft nicht belastbar oder nachvollziehbar. Die Qualität der Rekonstruktion leidet darunter stark, während die Gerechtigkeit vielfach auf der Strecke bleibt.
In Bezug auf Produkthaftungsfälle ist diese Situation für Fahrzeughersteller bislang ausgesprochen komfortabel, da dies auch mit sich führt, dass Fehlfunktionen aktiv eingreifender Systeme praktisch nicht nachweisbar sind. Die Fahrt im hochautomatisierten Modus wird jedoch absehbar zu einer Beweislastumkehr führen. Bislang galt: Ist kein technischer Mangel nachweisbar, so steht der Fahrer in voller Verantwortung. Spätestens ab SAE-Autonomie-Level 3 würde bei einem Unfall im automatisierten Fahrzustand diese Verantwortung denklogisch auf den Hersteller übergehen (Bild 1).
Beispielsweise läuft ein Kind unvermittelt auf die Straße vor ein automatisiert fahrendes Fahrzeug. Physikalisch ist ein Unfall, mit eventuell tödlichen Folgen, nicht mehr vermeidbar. Die sich im Rahmen einer Unfallrekonstruktion ergebenden Toleranzen sollten, im Eigeninteresse der Fahrzeughersteller, so klein sein, dass auch eine Unvermeidbarkeit des Unfalls für das System sicher und unabhängig nachweisbar ist. Ansonsten könnte ein derartiger Fall die ohnehin in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende Skepsis gegenüber automatisierten Systemen befeuern und im Extremfall die gesamte Technologie ins Wanken bringen oder zumindest verzögern.
Akzeptanz für vollautomatisiertes Fahren ist kritisch
Damit hoch- und vollautomatisiertes Fahren von der Gesellschaft dauerhaft Akzeptanz findet, müssen Unfälle mit diesen Fahrzeugen zwingend ohne Verbleib von Restzweifeln durch neutrale Stellen aufklärbar sein. Öffentliche Stellen müssen in der Lage sein, die Sicherheit der automatisierten Systeme unabhängig beobachten und bewerten zu können. Auch als Lehre aus dem Abgasskandal empfiehlt es sich, strukturelle Schwächen bei der gesetzlichen Überwachung zu beseitigen.
Eckdaten
Insbesondere beim autonomen Fahren genügen die Daten des Fahrmodusspeichers (DSSAD) nicht aus, um Unfallursachen belastbar und rechtlich sicher aufzuklären. Ein zusätzlicher Datenrecorder (EDR) zeichnet in außergewöhnlichen Ereignisfällen zusätzliche Fahrzeugdaten auf und verbessert die Unfallanlyse wie auch die Rechtslage zur Verantwortung. Damit unüberschaubare, schwer zu interpretierende Datenmengen durch Fehlinterpretationen nicht zu fehlerhafter Unfallaufklärung führen und damit negativ auf das Vertrauen ins automatisierte Fahren wirken, ist die Arbeitsgruppe AHEAD engagiert, hier eine möglichst internationale Standardisierung zu schaffen.
Deshalb wäre eine Kompetenzbündelung bei einer unabhängigen, zentralen Stelle für die Aufklärung von Unfällen mit automatisierten und vernetzten Systemen zielführend. Die Aufgabe sollte zum einen in der fachlichen Unterstützung regionaler Stellen bestehen. Zum anderen müssen Verkehrsunfälle unter Beteiligung hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge konsequent auf Besonderheiten, die sich aus der Automatisierungstechnik (vielleicht auch in Verbindung mit künstlicher Intelligenz) ergeben, ausgewertet werden, um bei Fehlentwicklungen frühzeitig gegensteuern zu können.
Der Ausweg aus dem Dilemma von nicht vollumfänglich aufklärbaren Verkehrsunfällen ist das Speichern standardisierter Datensätze, also das Aufzeichnen von digitalen Spuren, die vom Fahrzeug ohnehin selbst generiert werden.
Status quo für den Fahrzeug-Datenlogger
In Deutschland ist nach § 63a StVG für hoch- und vollautomatisierte Fahrzeuge bislang nur die Ausstattung mit einem Fahrmodusspeicher (DSSAD) vorgeschrieben. Dieser dient nicht der Verkehrsunfallaufklärung, sondern lediglich der Möglichkeit retrograd nachvollziehen zu können, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt die Verantwortung für die Fahrzeugsteuerung trug: Mensch oder System. Aus unfallanalytischer Sicht ist der sehr schlanke Fahrmodusdatensatz nicht ausreichend. Er ist, im Falle detektierter Auslöseereignisse, wie beispielsweise (Beinahe-) Kollisionen, durch fahrdynamische Werte aus einem EDR zu ergänzen. Der Ereignisdatensatz aus dem EDR muss alle relevanten Daten, die zu einer beweissicheren Verkehrsunfallaufklärung notwendig sind, aufzeichnen. Obgleich er damit deutlich mehr Daten beinhaltet als der Fahrmodusdatensatz, dürfte er datenschutzrechtlich als recht unproblematisch zu bewerten sein, da er ausschließlich anlassbezogen eine Speicherung auslöst.
Ein DSSAD im Sinne des § 63a StVG muss hingegen per Gesetz permanent jeglichen Wechsel der Fahrzeugführerverantwortung zwischen Mensch und Maschine, jede systemseitige Aufforderung an den Fahrzeugführer, die Verantwortung zu übernehmen sowie Systemstörungen aufzeichnen. Ein weiterer datenschutzrechtlicher Vorteil liegt darin, dass ereignisbasierte Daten sinnhaft nur für die Aufklärung des jeweiligen Ereignisses, sprich zweckgebunden verwendbar sind. Der Speicherprozess des EDR erfüllt damit eine regelmäßig wiederkehrende Forderung des Bundesverfassungsgerichts, nämlich die strikt anlassbezogene und zweckgebundene Datenspeicherung und -nutzung.
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass, wenn man eine beweissichere Differenzierung der Fahrzeugführerverantwortung gesetzlich regeln will, dies nur durch die Kombination von Fahrmodus-und Ereignisdatenspeicher gelingen wird. Diese dürfte aus den genannten Gründen auch aus datenschutzrechtlicher Perspektive heraus durchsetzbar sein.
Problem: fehlende Standardisierung und unüberschaubare Datenmengen
Die Notwendigkeit eines EDR schon für Fahrzeuge unter SAE-Level 3 besteht international. Dass in den USA im Vergleich zu Europa, teilweise bei baugleichen Fahrzeugen desselben Herstellers, deutlich mehr digitale Spuren für Analytiker zur Aufklärung eines Unfalls zur Verfügung stehen, ist aus Sicht des Verbraucherschutzes und der Rechtssicherheit nicht nachvollziehbar. Zahlreiche asiatische OEMs differenzieren bezüglich des diskriminierungsfreien Zugangs zu EDR-Daten bereits seit Langem nicht mehr zwischen den unterschiedlichen Absatzmärkten. Auch der VW-Konzern, als einer der ersten europäischen Hersteller, beschreitet seit dem Modelljahr 2018 mit einigen Baureihen diesen Weg.
Im Hinblick auf das assistierte oder hoch- und vollautomatisierte Fahren ist tendenziell zu beobachten, dass immer mehr Fahrzeughersteller dazu übergehen, zusätzliche Daten aufzuzeichnen, auf die zunächst nur sie zugreifen können (Tesla, Assistenz System Monitor (ASM) bei Audi). Die Daten werden dabei zum Teil im Fahrzeug selbst und zum anderen Teil auf Backend-Servern der Hersteller gespeichert, wobei bis dato jeder Hersteller seinen eigenen Weg geht. Die nicht standardisierte Speicherung der relevanten Unfalldaten wirkt sich im Sinne der beweissicheren Unfallaufklärung kontraproduktiv aus. Wo vor wenigen Jahren für gerichtlich bestellte Sachverständige noch überhaupt keine digitalen Unfallspuren zur Verfügung standen, ist man mittlerweile mit einem wahren Datenwust konfrontiert.
Neben den OEM-spezifischen Daten, die nur über diesen und damit nicht unabhängig zur Verfügung stehen, werden zunehmend Daten aus Smartphones, Überwachungs- und Dashboard-Kameras, sowie von intelligenter Infrastruktur in den Gerichtsprozess eingeführt. Dieser schier unüberschaubare Daten-Wald, mit sich teilweise widersprechenden, schwer zu interpretierenden Daten, öffnet Fehlinterpretationen und damit fehlerhafter Unfallaufklärung Tür und Tor. Zudem führt dies zu finanziell und zeitlich unkalkulierbaren Endlos-Gerichtsverfahren. Auch um verloren gegangenes Vertrauen in die Automobilindustrie wiederaufzubauen, dürfte es zielführend sein, wenn Fahrzeughersteller beim Thema sicheres automatisiertes Fahren auf einen standardisierten EDR mit erweiterter Datenbasis zum Zwecke der unabhängigen Unfallaufklärung setzen würden.
Internationale Abstimmungsprozesse sind dringend notwendig
Es ist zudem evident, dass die Länder, die als erste einen praktikablen und rechtssicheren, regulatorischen Rahmen zum automatisierten Fahren schaffen, einen erheblichen Standortvorteil für die heimische Automobilindustrie generieren. Deshalb sind die Bestrebungen, vor allem der deutschen Gesetzgebung, ein modernes Straßenverkehrsrecht auf den Weg zu bringen, nur zu begrüßen. Letztendlich muss dieses Problem jedoch mindestens im europäischen Maßstab angegangen werden. Notwendige internationale Abstimmungsprozesse müssen dabei effektiv und in gebotener Eile erfolgen, denn auch der Rest der Welt und vor allem China schläft auf diesem Gebiet nicht.
Vor diesem Hintergrund wurde die Arbeitsgruppe AHEAD (Aggregated Homologation-proposal for Event-Recorder-Data for Automated Driving), bestehend aus wesentlichen Stakeholdern bezüglich der Thematik „EDR für automatisierte Fahrzeuge“ ins Leben gerufen. Die bei dieser Arbeitsgruppe beteiligten Organisationen sowie der Vorschlag einer Gruppierung der gespeicherten Daten in vier standardisierten Datenkategorien (driving data, driver activity, surroundings and object recognition, crash) sind in Bild 3 visualisiert. Diese Datenbasis wird mittlerweile durch namhafte Persönlichkeiten und Organisationen in einem erweiterten Beraterkreis vorangetrieben.
Basierend auf den Vorarbeiten der VERONICA-Projekte wurde durch AHEAD mittlerweile eine detaillierte Datenliste mit Angaben zur Zeitdauer der Speicherung, der Aufnahmefrequenz, -Genauigkeit und -Auflösung erarbeitet. Diese Liste soll in 2019 durch den Abgleich mit realen Unfällen unter Beteiligung von automatisierten Fahrzeugen und passend designten Laborversuchen evaluiert werden. Auch interessierte Fahrzeughersteller werden die Gelegenheit erhalten, diese Datenliste vor der Veröffentlichung konstruktiv zu begleiten. AHEAD engagiert sich bereits jetzt im Gesetzgebungsprozess zur General Safety Regulation (GSR) auf EU-Ebene und in den Gremien der UNECE.
Bild- und Videodaten als Schlüssel zur Aufklärung
Die bisherigen Untersuchungen zeigen unter anderem, dass der Speicherung von Fotos oder Videos, die durch die Systeme selbst generiert werden, ein erhebliches Potenzial zur Unfallaufklärung zukommt. Dabei gilt das Motto „Ein Bild sagt mehr als tausend Terabyte“.
Das reale Bild könnte dabei durch virtuelle, perspektivische Einblendung der Objekt- und Sensorfusionsdaten, die im Datenmodell nach AHEAD aufgezeichnet werden, eine Kontrollinstanz darstellen. Damit ließe sich, in Verbindung mit einer genauen Vermessung der Unfallörtlichkeit und der dort vorgefunden klassischen Kollisionsspuren (zum Beispiel Schlagmarken, Reifenspuren oder ähnliches) überprüfen, ob das Bild, dass das Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt intern von sich, der Umgebung und allen beteiligten Verkehrsteilnehmern hatte, mit der Realität übereinstimmt oder ob Hinweise auf fehlerhaft eingestellte Sensoren oder Systemfehler gegeben sind. Zudem stellt ein derart aufbereitetes Mixed-Reality-Bild eine optimale Möglichkeit dar, einem Laien, wie es in der Regel beispielsweise ein Richter ist, einen technisch komplexen Sachverhalt anschaulich darzustellen (Bild 4).
Da diese Bilddaten nur ereignisbezogen gespeichert werden, ist nach Ansicht von AHEAD dies datenrechtlich zulässig und notwendig. Die Datenaufzeichnung sollte in guter Bildqualität erfolgen, um möglichst geringe Toleranzen bei der Rekonstruktion zu erzielen. AHEAD ist mit dem Anspruch angetreten, ein Datenkonzept zu entwickeln, dass Rechtssicherheit und gelebten Datenschutz für alle bringt.
(jwa)