„Wieviel bekommt man heute für ein Kilo Lötzinn?“
Würde man, jedes Mal, wenn diese Frage gestellt wird, einen Euro in die Kaffeekasse stecken, hätte die Kaffeekasse wahrscheinlich die Dimension des Geldspeichers von Dagobert Duck. Was zunächst witzig erscheint und zu Gedankenspielen einlädt, ist bei näherer Betrachtung ein ernst zu nehmendes Problem für die Kreislaufwirtschaft und das Ziel der CO2-Reduzierung. Aber Schritt für Schritt.
Wo Zinn überall eingesetzt wird
Zinn wird natürlich nicht nur in der Löttechnik eingesetzt, sondern auch für Anwendungen in der Lebensmittel-, Kosmetik-, Glas- und Verpackungsindustrie, u.v.m. Und doch wird Zinn laut der “International Tin Association (ITA)“ weltweit rund 49% für die Lötmittelherstellung verwendet. Allein die Löttechnik lässt sich bereits in diverse Anwendungsfelder unterteilen: von Produkten für den klassischen Handwerker in der Bedachung, der Sanitärinstallation, dem Karosserie- oder Metallbau, bis hin zu der Oberflächentechnik oder verschiedenen Hightech-Elektronikanwendungen. Die unterschiedlichen Anwendungen erfordern unterschiedliche Zusammensetzungen und Aggregatzustände. Ganz konkret nennt das Deutsche Institut für Normung (DIN) unter ISO 9453:2020 allein 62 Standardzusammensetzungen für Weichlote, die in der Elektronikfertigung Anwendung finden. Veränderungen der Weichlote in der Zusammensetzung und Mikrolegierungen, je nach Hersteller, durch Zusatz von Nickel, Germanium, Wismut, Phosphor, Indium und vielen weiteren Elementen, werden dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Was macht die ITA?
Die International Tin Association (ITA) ist eine internationale Non-Profit-Organisation, die sich auf die Förderung und den Schutz der nachhaltigen Zinnindustrie konzentriert. Sie wurde im Jahr 1932 gegründet und vertritt die Interessen der weltweiten Zinnproduzenten, -verbraucher und -händler.
Die ITA hat ihren Hauptsitz in London, Vereinigtes Königreich, und arbeitet eng mit Unternehmen, Regierungen und anderen Interessengruppen zusammen, um die Entwicklung und den Einsatz von verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verfahren in der Zinnindustrie zu fördern. Ihre Mitglieder umfassen Zinnproduzenten, Verarbeitungsunternehmen, Händler, Hersteller von Zinndienstleistungen sowie andere Organisationen, die mit dem Zinnsektor verbunden sind.
Die ITA setzt sich für die Förderung von sozialen und ökologischen Standards in der Zinnindustrie ein. Dazu gehören Maßnahmen zur Reduzierung von Umweltauswirkungen, zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zur Einhaltung von Menschenrechten und zur Förderung von Transparenz in der Lieferkette. Die ITA unterstützt auch Forschung und Entwicklung im Bereich des Zinnsektors und arbeitet an der Förderung von Innovationen und Technologien, die die Nachhaltigkeit der Zinnindustrie verbessern können.
Ein wichtiger Aspekt der Arbeit der ITA ist die Förderung verantwortungsvoller Beschaffung von Zinn, insbesondere im Hinblick auf Konfliktmineralien. Die ITA unterstützt die Umsetzung von internationalen Standards wie dem "Conflict-Free Smelter Program" (CFSP), das sicherstellt, dass Zinn ohne Beteiligung von bewaffneten Konflikten gewonnen wird.
Die ITA spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung von bewusstem Verbrauch und Recycling von Zinn sowie bei der Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Zinnindustrie insgesamt.
Lohnt es sich, Zinn zu recyclen?
Der Recyclingprozess von Zinn kann mehrere Vorteile bieten. Er reduziert die Notwendigkeit, neues Zinn aus Primärquellen abzubauen, was den Energieverbrauch und die Umweltauswirkungen verringert. Außerdem ist es bei den bekannten Lieferkettenproblemen sicher nicht die schlechteste Idee, Abfälle die Rohstoffe enthalten, in den eigenen Reihen zu halten. Es ist auch wichtig zu beachten, dass das Recycling von Zinn dazu beiträgt, den Bedarf an Zinn aus Konfliktgebieten zu verringern, da recyceltes Zinn als ethischere Option gilt.
Bezüglich einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft stehen aber noch viele Fragen im Raum. Sollen die Abfälle und Rückstände wieder zurück in den Kreislauf, kommen weitere Qualitätsmerkmale hinzu, welche die Bewertung und Bestimmung des Materialwertes, aber auch der notwendigen Recyclingprozesse, nicht einfacher machen: Handelt es sich um rein metallische Abfälle? Ist das Material oxydisch, trocken oder eventuell mit Flussmittel versehen?
„Wieviel bekommt man heute für ein Kilo Lötzinn?“ ist also weit mehr als eine rein ökonomische Frage, die sich durch einige wenige Rückfragen zumindest mit einem Richtwert beantworten lässt. Vielmehr ist es auch ein Hinweis, dass Kreislaufwirtschaft noch nicht in dem Maße gedacht, geschweige denn gelebt wird, wie vielleicht angenommen. „Die Kreislaufwirtschaft dient (…) der Schonung der Ressourcen (…). Darüber hinaus zielt sie auf die Rohstoffsicherung ab“, so das Umweltbundesamt. Um dies bestmöglich umzusetzen, regelt das KrWG (Kreislaufwirtschaftsgesetz) die Abfallhierarchie: Abfälle müssen idealerweise für die Wiederverwendung vorbereitet werden, anstatt diese einfach ins Recycling zu geben.
Die Elektronikfertiger sind bemüht
Die Auswertung von Kundenumfragen sowie Geschäftsberichte aus der Elektronikbranche lassen Rückschlüsse zu Entscheidungen in Bezug auf den Einsatz von Sekundärrohstoffen in der Produktion zu. Zudem bemüht man sich um CO2-Hebel wie Elektrifizierung des Fuhrparks und Strom aus regenerativen Quellen. Beides sind Hebel, die einen hohen finanziellen Aufwand erfordern, während Abfallmanagement einen mindestens genauso großen Impact in Sachen CO2-Reduktion hat und keine Investition erfordert.
Wieso die Lötzinn-Zusammensetzung so wichtig ist
Bei Lötzinnabfällen bedeutet dies: In Produkten denken! Einfach erklärt: Lässt sich eine Zinn-Silber-Zusammensetzung separat von einer Zinn-Blei-Legierung aufbereiten, führt das dazu, dass die daraus gewonnene Metallzusammensetzung wieder für die Herstellung desselben Produktes genutzt werden kann. Die Raffination der einzelnen Elemente entfällt, in diesem Fall zu Reinzinn und Feinsilber, genauso wie das darauffolgende erneute Legieren. Dies spart Energie und damit CO2.
Etwas weiter ausgeholt: Nur mit dem Wissen über die Produktzusammensetzung und vorheriger exakter Bestimmung der Inhalte der Zinnabfälle ist es möglich, unnötige Raffinationsschritte zu eliminieren und nachhaltige sowie energieeffiziente Stoffströme sicherzustellen. Dies gestaltet sich im Alltag durch die Vielzahl der unterschiedlichen Zusammensetzungen und Qualitäten als große Herausforderung. Dabei ist diese Vorarbeit gerade für die Reduktion von CO2 extrem wichtig, denn sind unterschiedliche Legierungen und Zusammensetzungen erstmal miteinander vermischt, speziell wenn die Abfälle oxydisch oder pastös sind, ist es unmöglich, energieintensive Raffinationsschritte zu vermeiden. Laut der ITA liegt der weltweite Durchschnitt an CO2-Emissionen für recyceltes Zinn bei 6.632 kg CO2 pro recycelter Tonne Zinn. Das dies deutlich besser geht, zeigt die MTM Ruhrzinn mit einem vom TÜV Rheinland zertifiziertem PCF (Product Carbon Footprint), der weniger als die Hälfte an CO2 Emissionen bestätigt. Während eine Tonne Zinn aus Erzen rund 16.191 kg CO2 (Durchschnitt aus Literaturwerten*) emittiert, lässt sich somit, durch korrekte Vorarbeit in der Sortierung von Zinnabfällen, rund 80 % an CO2e /Tonne einsparen.
Was sind CO₂-Äquivalente?
CO2e steht für "CO2-Äquivalent" und ist eine Maßeinheit, die verwendet wird, um den Beitrag verschiedener Treibhausgase zum Klimawandel zu vergleichen. Da es verschiedene Treibhausgase gibt, die zur globalen Erwärmung beitragen, wird CO2e verwendet, um diese Gase in einem einheitlichen Maßstab zu messen.
Was haben Mallorca-Flüge mit Recyling-Zinn zu tun?
Was das genau bedeutet, wird vielleicht etwas griffiger, wenn man die Zukunftswährung “CO2“ anders rechnet: Die Einsparungen entsprechen in etwa den Pro-Kopf-Emissionen in Deutschland oder 19 Flügen von Düsseldorf nach Mallorca. Eine Tonne recyceltes Zinn neutralisiert so viel CO2 wie eine Mercedes G-Klasse AMG nach rund 32.500 km ausstößt! Eine Kilowattstunde Photovoltaikstrom vermeidet laut Umweltbundesamt 627g CO2. Es bedarf also einer größeren Photovoltaikanlage auf einem Einfamilienhaus mit mehr als 16 Kilowatt installierter Leistung, um innerhalb eines Jahres annähernd so viel CO2 einzusparen, wie es bereits mit einer einzigen Tonne recyceltem Zinn möglich ist.
Tatsächlich ist damit aber noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Was wäre, wenn Recyclingprozesse nicht nur das erneute Legieren verhindern, sondern auch die bereits erfolgte Transformation erhalten würden? Um spezielle Produkte aus Zinn wie z.B. Lötzinnpasten herzustellen, muss das Zinn im Flüssigzustand zu Pulver verdüst werden. Das typische Einschmelzen oder Behandeln von Lotpastenabfällen in Veraschungsöfen macht die bereits erfolgte Transformation zu Pulver wieder rückgängig. Neue und innovative Recyclingverfahren, wie u.a. das von MTM Ruhrzinn erarbeitete und im Rahmen der REACT-EU Förderung erforschte, trennen die Flussmittelanteile vom Metallpulver ganz ohne thermische Verfahren. Damit wird Energie gespart und die Transformation, also das Lotpulver, bleibt erhalten. Spätere Siebverfahren sorgen dafür, dass das Pulver wieder nach Korngrößen sortiert und für die Lotpastenherstellung brauchbar ist. Als Recyclingbetrieb schon in Produkten zu denken, lässt echte Kreisläufe erst zu.
Fazit
Unsere Rohstoffe von morgen können nur aus zwei Quellen kommen: Aus dem Boden oder aus Abfallstoffen. Offensichtlich ist Entscheidern der Zusammenhang zwischen nachhaltigen Lieferketten/Sekundärrohstoffen und Abfallmanagement nicht bewusst. „Wieviel bekommt man heute für ein Kilo Lötzinn“ lässt sich also nicht nur mit einem Preis pro Kilogramm, sondern aus Sicht von Umweltaktivisten und Fridays-For-Future-Jüngern eigentlich umfangreicher beantworten: Wenn korrekt ausgeführt, ist 1 kg Lötzinn mehr wert als jeder Klimakleber.
* Quellen:
UBA, 2007; TNO, 2009; Wuppertal Institut, 2007; Ecofys, Fraunhofer, Ökoinstitut, 2009; BIR, 2008; Tost et al 2018; Norgate et al., 2006; Northey, 2013; Rankin, 2012; Rötzer & Schmidt, 2020; BAFA, 2021; Classen et al., 2009; Fernandez, 2019; Mai, 2020