Die Transformation von reinen Fahrzeugbauern zu Mobilitätsanbietern hält die Automobilindustrie gegenwärtig mächtig auf Trab. Der 26. Automobil-Elektronik-Kongress (oft „AEK“ abgekürzt) spiegelte diese breitgefächerte Thematik; Vordenker und Top-Performer aus der Auto- und der Elektronikbranche hielten das zahlreich angereiste Fachpublikum in Atem und gaben ihnen zahlreiche Denkanstöße.
Denkanstöße für die Transformation der Automobilbranche
Dass das Auto als solches, als reines Fortbewegungsmittel mit mehr oder weniger PS unter der Haube und mehr oder weniger Komfort in der Passagierzelle, mittlerweile nicht mehr ausreicht, um sich im weltweiten Wettbewerb zu profilieren, schwant sicher jedem, der mit der Entwicklung dieser Produkte zu tun hat. Ricky Hudi, Urgestein der Branche und nimmermüder Mahner, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, brachte zwei der wichtigsten Entwicklungstreiber auf den Punkt. Erstens, „die Kunden wollen ihr digitales Leben in das Auto integriert haben“, sagte Hudi in seiner Ansprache. Und zweitens, „wir müssen global denken.“ Global denken, das ist die deutsche Autoindustrie ja bereits gewohnt, insofern also nichts Neues, aber Hudi zielte höher: Das globale Denken darf nicht bei Bau und Vermarktung der Fahrzeuge stehenbleiben, sondern muss auch das digitale Ökosystem umfassen – und ebenso, im Blick auf die sich zuspitzende Situation am Markt für Fachkräfte, den „War on Talents.“ Die aktuellen Rahmenbedingungen – Halbleiterknappheit, geopolitische Spannungen, der Krieg in der Ukraine und zu guter Letzt die steigenden Kapitalkosten – kommen als erschwerende Faktoren hinzu.
Video-Rückblick auf den 26. Automobil-Elektronik Kongress
Annäherung an das Software-defined Car
Ein Kernelement der anstehenden Transformation ist das Software-defined Car (SDC) – das Auto, dessen Funktionen sich auch nach der Übergabe an den Kunden aktualisieren und ausweiten lassen, das die nötigen Daten für bessere Verkehrskonzepte liefert. Das SDC steht aber auch dafür, die Bedürfnisse des Kunden immer besser zu verstehen. Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen aber die Entwickler neue Wege gehen. Stand heute ist nämlich die Software noch an herstellerspezifischen Hardwaresystemen orientiert, speziell an den SoCs, die den Kern der Hochleistungsrechner der Autos bilden. Mathias Pilin von Bosch wies in seinem Vortrag auf die Notwendigkeit hin, diese Verbindung aufzulösen. Nach der Überzeugung des Bosch-Experten müssen die per Software definierten Funktionen auf jeder Hardware lauffähig sein. Diese Trennung sei „höchst nicht-trivial, aber machbar“, so Pilin.
Save the date: 27. Automobil-Elektronik Kongress
Am 27. und 28. Juni 2023 findet zum 27. Mal der Internationale Automobil-Elektronik Kongress in Ludwigsburg statt. Dieser Netzwerkkongress ist bereits seit vielen Jahren der Treffpunkt für die Top-Entscheider der Elektro-/Elektronik-Branche und bringt nun zusätzlich die Automotive-Verantwortlichen und die relevanten High-Level-Manager der Tech-Industrie zusammen, um gemeinsam das ganzheitliche Kundenerlebnis zu ermöglichen, das für die Fahrzeuge der Zukunft benötigt wird. Trotz dieser stark zunehmenden Internationalisierung wird der Automobil-Elektronik Kongress von den Teilnehmern immer noch als eine Art "automobiles Familientreffen" bezeichnet.
Geschäftsmodelle für das Software-defined Car
Sein Konkurrenz-Kollege Dirk Walliser vom Wettbewerber ZF lenkte den Blick auf einen anderen Aspekt: „Software und das Software-definierte Fahrzeug sind eine Frage der Geschäftsmodelle“, sagte Walliser: In Abo-Modellen mit ihren höheren Take Rates seien die zusätzlichen Kosten für softwaregestützte Funktionen für den Kunden viel leichter zu tragen. Das würde es OEMs ermöglichen, entsprechende Hardware einzubauen. „Und plötzlich haben wir einen neuen Use Case“, erklärte Walliser.
Das konzeptionelle Umfeld des Software-defined Car
Auf das ideelle Umfeld des Software-definierten Fahrzeugs ging Christoph Hartung von der Bosch-Tochter ETAS ein. Der Kunde erwarte heutzutage, dass „sein“ Auto voll und ganz in sein digitales Leben integriert sei – mit kontinuierlichen Updates per Funk und neuen Funktionen zum Nachrüsten. Um diesem Ziel näher zu kommen, fordert Hartung die Schaffung eines Ökosystems eines Netzwerks von Unternehmen, die zusammen, aber mit verteilten Kompetenzen die Orchestrierung dieses Vorhabens in Angriff nehmen. Dazu, so Hartung, müsse sich die Branche über ihre gemeinsamen Ziele einig werden.
Nicht über das „Software-defined Car“ sprechen!
Und sie sollten aufhören, über das „Software-defined Car“ zu reden, schlug Christian Sobottka von Harman International vor. Denn dem Kunden – das ist derjenige, der das Auto dann auch kaufen oder sharen soll – bringe dieser techniklastige Begriff nämlich gar nichts. Stattdessen sollte die Branche auf die Wünsche ihrer potenziellen Kundschaft hören – und herausstellen, welche Vorteile der Kunde unter dem Strich davon hat. Und da sind wir erneut bei deren digitalen Lebenswelt: „Was sie gestern auf dem Smartphone hatten, wollen sie heute auch im Auto haben“, so Sobottka.
Bereit, die Versprechen des Software-defined Car zu liefern?
Die Defizite bei der bevorstehenden großen Transformation der Autoindustrie sprach Christof Horn von der Accenture-Geschäftseinheit umlaut an. Stand heute sei die Industrie noch nicht in der Lage, die drei großen Versprechen des Software-definierten Autos einzulösen. Diese umfassen, erstens, die Fähigkeit der OEMs, offene Plattformen und digitale Ökosysteme anzubieten, zweitens Skalierbarkeit der Angebote und Geschäftsmodelle, und drittens die Erschließung digitaler Einnahmekanäle. Den ersten Punkt, die Fähigkeit zum Aufbau offener Plattformen, sieht Horn in der Branche noch nicht vorhanden. Nummer, zwei, die Skalierbarkeit, werde nur zum Teil erreicht, und zwar mit Hilfe der großen Tech-Player, denn die fahrzeugseitigen Gegenstücke zu den digitalen Plattformen seien erst im Entstehen begriffen. Und auch die Nummer drei, die Etablierung digitalen Einnahmequellen sei noch Zukunftsmusik.
Um die notwendige Transformation meistern zu können, gab Horn den Kongressbesuchern einen recht detaillierten Katalog aus sieben Maßnahmen auf den Weg. Einfach ist sein Rezeptbuch nicht – die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von der Umgestaltung des Architekturparadigmas in Richtung auf ein horizontal geschichtetes, skalierbares Modell bis zur Umstellung des Wasserfall-Entwicklungsmodells auf Continuous Delivery. Eine besondere Betonung legte Horn auf den Aspekt, der User Experience Vorrang vor den heute vorherrschenden technologiegetriebenen Aspekten und Denkweisen der Fahrzeughersteller zu geben.
Podiumsdiskussion: Halbleiter für das Software-defined Car
Ein besonderes Highlight der Veranstaltung war die Panel-Diskussion zum Thema „Semiconductors: The Base of the Software-defined Car“. Schon die Besetzung des Panels – Lars Reger von NXP, Dipti Vachani von ARM, Jens Fabrowsky von Bosch, Magnus Östberg von Mercedes-Benz und Calista Redmond von RISC-V International – ließ eine angeregte und anregende Diskussion erwarten. Und so war es auch. Dipti Vachani räumte mit der Vorstellung auf, die Pademie habe einen negativen Einfluss auf die Innovation in der Branche gehab: „Covid hat niemanden gebremst. Die Branche ist in Bewegung wie nie zuvor.“ Dennoch: Die Widrigkeiten der letzten Zeit, zu denen auch die Pandemie gehört, haben der Autobranche zugesetzt. „Wir müssen viel professioneller werden, wenn es um den Umgang mit Risiken geht“, erkannte Östberg vor diesem Hintergrund. Calista Redmond von RISC-V trat Bedenken gegen eine offene Prozessorarchitektur entgegen, indem sie einen Vergleich zu Linux zog: „Als IBM Linux in sein Programm übernahm – kannibalisierte das ihr eigenes Geschäft? Mitnichten!“ Und Lars Reger brachte Licht in den Branchenmythos, Tesla baue seine Chips allesamt selbst. Richtig sei fast das genaue Gegenteil: „Tesla bezieht 99 % seiner Chips von Unternehmen wie uns“, bekräftigt Reger. „Sie (Tesla) haben nur einen KI-Beschleuniger entwickelt. Das sehen wir auch bei einer Reihe von Auto-OEMs. Für alle anderen: Skalierung ist das Gebot der Stunde.“