Seile zum Bersten gespannt

Auf dem EMS-Markt gibt es Probleme. Seit 2018 kommen neue hinzu oder es wiederholen sich sogar welche. (Bild: tiero_AdobeStock_)

Es begann in 2018 und wirklich geendet hat es noch nicht: der Markt für  Electronics Manufacturing Services (EMS) steckt in einer Krise. Scheint ein Problem gelöst, so tritt ein neues auf. Hier ein Rückblick auf die letzten Jahre und welche Herausforderungen es zu lösen gab beziehungsweise welche noch bevorstehen.

Krise Nummer 1: Allokations­probleme in 2018

Die Allokationsprobleme starteten 2018 mit einer Verknappung von MLCC Bauteilen, also Keramik-Kondensatoren, insbesondere die größeren Bauformen. Nachdem sich dies in der Branche herumgesprochen hatte, passierte genau das, was wir im März 2020 bei Toilettenpapier und im September 2021 in UK beim Benzin gesehen haben: Die Menschen legen Vorräte an, so auch in der Elektronikindustrie. Weitere Komponenten folgten, insbesondere passive Bauelemente und Stecker.

Plötzlich gibt es nicht nur Bestellungen, die den normalen Bedarf decken, sondern zusätzliche Bestellungen zum Lageraufbau. Dadurch bekommt die gleichförmige Bedarfskurve plötzlich eine Amplitude – die Bestellungen steigen sprunghaft an. Dieser Effekt ist hinreichend als Peitschenhiebeffekt bekannt.

Die erhöhten Bestellmengen sind von den Lieferanten nicht mehr zu bewerkstelligen, also steigen die Lieferzeiten. Der nächste Schritt ist, dass Liefertermine vorgezogen werden. Das ist zwar ein unvernünftiges Verhalten – aber so funktioniert hamstern. Die Hoffnung ist, dass man dann die Ware zwar offiziell zu spät, aber noch zum richtigen Bedarfszeitpunkt geliefert bekommt. Teilweise werden zudem Doppelbestellungen bei unterschiedlichen Lieferanten platziert, in der Hoffnung, überhaupt etwas zu bekommen. Die Amplitude steigt also weiter an und das System bricht komplett zusammen. Es wird nicht mehr mit Logik, sondern mit animalischen Instinkten (hamstern) gearbeitet. Neben den Preiserhöhungen waren die Konsequenzen insbesondere der Lageraufbau, wie Bild 1 zeigt.

Bild 1: Entwicklung der Vorräte bei großen EMS Unternehmen
Bild 1: Entwicklung der Vorräte bei großen EMS Unternehmen (Bild: Weiss Engineering)

Während börsennotierte Unternehmen nach der Krise relativ schnell wieder zu einem Vorkrisenzustand kamen, taten sich selbst die großen Auftragsfertiger von elektronischen Baugruppen relativ schwer und hatten 2020 noch immer nicht die alten Zahlen der Roh- , Hilfs- und Betriebsstoffe (RHB) erreicht. Weitere Untersuchungen zeigten zudem, dass kleinere Unternehmen ihre RHB-Bestände sogar noch um ca. 3% (vom Umsatz) stärker aufbauten. Hochgerechnet wurden 2018 über 2 Mrd. Euro in RHB-Beständen bei den EMS-Unternehmen in Europa zusätzlich aufgebaut. Davon waren 2020 noch über ca. 800 Mio. Euro nicht abgebaut.

Krise Nummer 2: Die kleinen EMS müssen in 2019 leiden

Mitte 2019 meldeten viele Unternehmen plötzliche Auftragsrückgänge. Ab August kursierte das Gerücht, die Elektronikindustrie steuere auf eine Rezession zu. Das Gerücht wurde dadurch bestärkt, dass im 2. Quartal ein negatives Bruttoinlandsprodukt (BIP) vermeldet wurde. Erst am zweiten Tag der productronica dann die offizielle Meldung, dass das BIP im 3. Quartal nicht negativ war, sondern sogar ein minimales Plus ausgewiesen wurde.

War es ein unberechtigter Sturm im Wasserglas? Nein, denn es gab einen deutlich höheren Anteil von EMS-Firmen, die kein Umsatzwachstum hatten, sondern einen Umsatzrückgang verzeichnen mussten. Dabei kann man eine Quote von 20% mit Umsatzrückgang als normal bezeichnen, in 2019 hatte sich das aber bereits verdoppelt (siehe Bild 2). Während die großen EMS (>50 Mio. Euro) weiter wuchsen, verursachte eine schwächere Industrieproduktion bei vielen kleineren Unternehmen (<50 Mio. Euro) Probleme. Damals war noch keinem bewusst, dass es noch viel schlimmer kommen würde.

Krise Nummer 3: 2020, das Übel hat einen Namen

Die Pandemie hatte ihren Beginn bereits im Dezember 2019 in China und traf in Europa im Februar 2020 ein. Ab März kam es zu drakonischen Maßnahmen, um das Ausbreiten der Pandemie zu verlangsamen. Alle nicht unbedingt vor Ort erforderlichen Mitarbeiter gingen ins Homeoffice, in der Produktion wurden neue Hygienemaßnahmen eingeführt und versucht, die Mitarbeiter so in Gruppen einzuteilen, dass beim Ausfall einer Gruppe nicht alle angesteckt wurden. Teilweise wurden Grenzen geschlossen und Pendler kamen nicht mehr an ihren Arbeitsplatz. Neben Kurzarbeit in ca. 30-40% der Betriebe kam es zu vorübergehenden Schließungen, verstärkt insbesondere in den romanischen Ländern wie Frankreich und Italien, aber auch in Osteuropa. Während die Automobilindustrie komplett runterfuhr, stieg der Bedarf an Elektronik für die Medizintechnik drastisch an. War ursprünglich bei den großen Unternehmen von einem V-förmigen Verlauf der Umsatzentwicklung die Rede, zog sich der Verlauf der Umsatzverbesserung eher in Wannenform hin, so wie bei den kleineren Unternehmen (Bild 3).

Erst mit dem 2. Quartal kamen die Unternehmen aus der Wanne raus und zeigten bessere Umsätze als im 2. Quartal des Vorjahres, was aber keine Kunst war, waren die Firmen im 2. Quartal des Vorjahres doch schon stark ins Minus gerutscht. Am schlimmsten traf die Coronakrise Firmen mit weniger als 10 Millionen Euro Umsatz. Hier zeigte der Umsatz des 2. Quartals 2020 bereits ein Minus von fast 24% im Vergleich zum gleichen Quartal des Vorjahres. Spitzenwerte lagen bei minus 38%.

Die Zukunftsprognosen, die die Firmen mit der Jahresstatistik (IPC/in4ma EMS Europe annual survey) abgaben, waren dahingehend interessant, dass die Prognosen für die nächsten zwei Jahre umso höher ausfielen, je höher die Umsatzverluste in 2020 waren. Lediglich die ganz kleinen Unternehmen (<5 Mio. Euro) gaben sich zwei Jahre Zeit, um wieder auf 2019er Umsätze zu gelangen. In Summe hat die EMS-Branche in Europa 2020 5,4% Umsatz verloren und lag bei 41,3 Mrd. Euro Umsatz (2019 43,7 Mrd. Euro) (Bild 4). Westeuropa war dabei stärker betroffen als Osteuropa.

Krise Nummer 4: (Erneutes) Allokationsproblem in 2021

Anfang Februar 2021 kristallisierte sich ein neues Allokationsproblem heraus: Zuerst waren es Mikrocontroller, dann Halbleiter für das Powermanagement, weitere Bauteile folgten. Da die Lieferzeiten für Bauteile rasant anstiegen, musste – schon wieder – längerfristig bestellt werden, was einen massiven Anstieg im Auftragseingang zur Folge hatte. In der Halbjahresstatistik ließ sich dies insbesondere bei großen EMS in Deutschland beobachten.

Wer die Produktionszahlen der Automobilindustrie verfolgt hat, hat gesehen, dass sowohl 2017 als auch 2018 die Produktion deutlich gestiegen war. Parallel gab es bedingt durch die Diesel-Affäre aber auch durch die allgemeine Unsicherheit der Konsumenten ob E-Auto oder Verbrenner, eine rückläufige Nachfrage. Mitte 2018 musste VW sogar 8.000 Parkplätze auf dem unfertigen Berliner Flughafen anmieten, um die Neuwagen dort zu deponieren. Zwangsläufig wurden die Bauprogramme bereits 2019 reduziert. 2020 verschlechterte sich die Lage weiter, denn durch die Pandemie, Lockdown, Homeoffice und allgemeiner Verunsicherung sank die Nachfrage weiter und es wurden ca. 17% weniger Fahrzeuge produziert als 2019. Die zurückgehende Nachfrage, nicht erst bedingt durch Corona, war also der Startpunkt.

Bei der Automobilproduktion war die Amplitude des Peitschenhiebeffektes deutlich langwelliger und dauerte fast das komplette Jahr 2020 an. Erst Ende 2020/Anfang 2021 wurde die Produktion wieder hochgefahren. Und das löste eine Kettenreaktion aus, denn damit stiegen die vorher nach hinten geschobenen Abrufe der Automobilindustrie bei ihren Zulieferern. Diese erhöhten wiederum die Abrufe bei EMS-Dienstleistern.

Die EMS-Unternehmen erhöhten ihrerseits die Bestellungen bei den Distributoren und diese wiederum bei den Halbleiterherstellern. Die Halbleiterhersteller hatten 2020 jedoch bei weitem nicht so einen großen Einbruch wie die Automobilindustrie. Mit dem Beginn der Pandemie stieg der Bedarf nach PCs und Laptops, aber auch von Spiele-Konsolen, steil an, denn viele Menschen arbeiteten im Homeoffice und brauchten dort einen Arbeitsplatz. Insbesondere Memory Halbleiter und CPUs stiegen rapide im Bedarf an und die Halbleiterindustrie reagierte entsprechend. Als die Automobilindustrie die Produktion wieder hochfuhr, wurden insbesondere Halbleiter für das Powermanagement und Mikrocontroller benötigt. Hier entstand plötzlich ein Engpass. Dieser wurde noch dadurch vergrößert, dass in Texas durch Winterstürme im Februar 2021 massive Stromausfälle passierten und mehrere NXP-Werke stilllegten. Zu dem Übel gesellte sich im März 2021 der Brand in einem Renesas-Werk in Japan. Dies führte zu einer Verschärfung der Lieferproblematik und damit zum Anstieg der Lieferzeiten.

Bild 6: Entwicklung der Vorräte von EMS in Deutschland 2015 – 2020
Bild 6: Entwicklung der Vorräte von EMS in Deutschland 2015 – 2020
(Bild: Weiss Engineering)

Wie sieht die nächste EMS-Generation aus?

Was steht uns bevor? In den letzten Jahren hat es einen massiven Anstieg der Mergers & Acquisitions (M&A) Aktivitäten gegeben. Es gibt eine hohe Nachfrage, aber ein immer geringer werdendes Angebot. Das lässt die Preise steigen. In den letzten sieben Jahren ist die Anzahl der EMS-Unternehmen konstant gesunken (Bild 5), es findet eine Konsolidierung statt.

Parallel wird es teilweise Rückführungen von Produkten aus Fernost geben. Auslöser sind neben der teilweisen Verzehnfachung der Transportkosten, der Unsicherheiten bei den Transporten durch Hafenschließungen und fehlende Hafenkapazitäten, das zunehmende Umweltbewusstsein durch den hohen CO2-Ausstoß bei den Transporten. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Verunsicherung über die politischen Aktivitäten in China, wie die plötzliche Schließung sämtlicher Produktionen in mehreren Provinzen für vier Tage Ende September 2021 zur Verbesserung der Luftqualität beziehungsweise wegen Elektrizitätsengpässen. in4ma rechnet mit einem Rückgang von Importen aus Fernost um 30% bis 2030, Produkte die zu gleichen und teilweise sogar geringeren Kosten in Osteuropa produziert werden können.

Zudem wird der Anteil der EMS-Umsätze zu OEM-Umsätzen sich zugunsten der EMS-Industrie weiter verschieben und bis 2030 40% EMS erreichen. Das ist auch bedingt durch viele neue Startups mit kreativen Ideen und limitierten Finanz-Ressourcen, die eine Vergabe der Produkte an einen EMS-Dienstleister zur besten Lösung werden lassen.

Aber bitte, es werden nicht alles 5G- oder 6G-Produkte sein, das ist einfach phantasielos. Sowohl die Medizintechnik als auch die Agrartechnik werden wichtige Wachstumsmärkte der Zukunft sein.

Der Autor

Dieter G. Weiss, in4ma Marktforschung

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