Modernes Auto-Cockpit mit Lenkrad und Mittelkonsole, im Vordergrund ein Mikrocontroller

Im Fahrzeug steigen durch autonomes Fahren und verschiedene Infotainment-Anwendungen die Datenmenge und damit auch die Anforderungen an das Automotive-Ethernet. Vor allem ESD-Schutz ist dann gefragt.

Neue Trends und Technologien haben zur Folge, dass elektronische Systeme immer mehr Daten im Auto verarbeiten und übertragen müssen. Entwickler und Entscheider befürchten, dass die Kosten für den Kabelbaum und die Elektronik steigen werden und schon bald 40 Prozent der Produktionskosten eines Autos ausmachen könnten. Die Umstellung vom Kabelbaum zu einem hierarchischen, homogenen Netzwerk und einer Zonen-Architektur soll einerseits die Kosten und das Gewicht der Verkabelung reduzieren, andererseits aber auch die steigenden Anforderungen hinsichtlich hoher Datenraten, Datensicherheit und Flexibilität erfüllen. Um zukünftige Herausforderungen, die mit diesem neuen Netzwerkdesign einhergehen, zu bewältigen, ist Automotive Ethernet unverzichtbar.

SEED-Simulation und ESD-Schutzsysteme für das Automotive-Ethernet

Neue Trends in der Automobilindustrie erhöhen die Informationsverarbeitung in den Autos der Zukunft enorm. Das hat zur Folge, dass zu den klassischen Protokollen eine Ergänzung notwendig ist. Mit Automotive Ethernet ist eine adäquate Protokoll-Lösung verfügbar, die auf der Hardware-Ebene aber zusätzliche Herausforderungen mit sich bringt. Unter anderem sind zur Gewährleistung der Hardwaresicherheit neuartige ESD-Schutzbauteile erforderlich. System-Efficient ESD Design (SEED) ist ein neuer Ansatz zur ESD-Simulation auf der Systemebene, der es ermöglicht, neue Schutzbauteile zu entwickeln. Erstmalig ist es jetzt auch möglich eine ESD-Simulation auf Systemebene durchzuführen, die eine Anpassung aller Schaltungskomponenten aufeinander bereits in der Konzeptphase der Entwicklung erlaubt und somit den strengen Anforderungen der Automobilindustrie genügt.

An der flächendeckenden Einführung und Standardisierung von Ethernet-basierten Netzwerken im Automobil arbeiten große Autohersteller und Zulieferern in der gemeinnützigen OPEN (One-Pair Ether-Net) Alliance Special Interest Group (SIG) zusammen. Darüber hinaus gewinnen die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Netzwerkbetriebs zunehmend an Bedeutung. Wenn es um die Robustheit auf Systemebene geht, spielen sowohl diskrete ESD-Schutzbauteile als auch das Systemdesign eine entscheidende Rolle. Dabei müssen Autohersteller die Anforderungen, die in den OPEN Alliance Standards festgelegt sind, berücksichtigen. Eine grundlegende Herausforderung beim ESD-Design ist die Vorhersage der Robustheit auf Systemebene. Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass die Robustheit auf Systemebene von der Robustheit einzelner Komponenten abhängt. Tatsächlich ist sie von mehreren Faktoren abhängig:

  • Robustheit des schwächsten Bauteils im System (meistens ein zu schützendes PHY).
  • Eigenschaften des Schutzbauteils.
  • Eigenschaften anderer Elemente im Signalpfad.
  • Von der Leiterplatte und der Verkabelung ausgehende Parasitäreffekte.
Anordnung des ESD-Schutzbauteils
Bild 1: Die von der OPEN Alliance SIG (2019) empfohlene Anordnung des ESD-Schutzbauteils vor der 100BASE-T1-MDI-Schnittstelle. (Quelle: Nexperia)

Das SEED-Konzept betrachtet alle diese Faktoren in ihrer Gesamtheit und fasst sie in einer Ersatzschaltung zusammen, die sich wie eine gewöhnliche Schaltung simulieren lässt. Dadurch ist eine Vorhersage der Robustheit auf Systemebene möglich. Zur Simulation der Schutzwirkung verbinden Entwickler die Ersatzschaltungsdarstellung des Systems einschließlich des PHY (Physical Layer Interface, Bitübertragungsschicht des Transceivers) mit einem Modell des Schutzbauteils. Für die Systemsimulation lassen sich neben SPICE auch andere Simula-tionstools wie Verilog-A oder kundenspezifische Modelle auf der Basis von Netzwerk-Parameterblöcken kombinieren.

Schaltbild eines SEED-Modells
Bild 2: Ersatzschaltbild des SEED-Modells der Referenzschaltung für den ESD-Discharge-Current-Measurement-Test. (Quelle: Nexperia)

Konformität mit anderen PHY-Spezifikationen

Ein Hauptziel der OPEN Alliance SIG ist die breite Anwendung der bestehenden IEEE-100BASE-T1- und 1000BASE-T1-Physical-Layer-Spezifikationen, ergänzt durch zusätzliche Spezifikationen für Konformität und Interoperabilität. Bei früheren Automotive-Ethernet-Implementierungen wurde den PHY-Anbietern empfohlen, alle erforderlichen diskreten ESD-Schutzvorrichtungen zwischen CMC (Common-Mode-Choke, Gleich­takt­drossel) und PHY zu platzieren. In der von der OPEN Alliance vorgeschlagenen Anordnung der ESD-Schutzbauteile innerhalb des 100BASE-T1-MDI-Netzwerks (Bild 1) ist das ESD-Schutzbauteil unmittelbar hinter dem Steckverbinder platziert, wodurch nicht nur der PHY, sondern auch die Gleichtaktdrossel (CMC) und alle vorgeschalteten passiven Bauteile geschützt werden. Diese Schaltungsanordnung leitet elektrostatische Entladungen fernab der Hauptbeschaltung direkt nach Masse ab.

Simulierte Stromverläufe
Bild 3: Simulierte (rot) und gemessene (schwarz) Stromverläufe. (Quelle: Nexperia)

ESD-Test mit dem SEED-Verfahren

In dem Dokument „IEEE 1000BASE-T1 EMC Test Specification for ESD Suppression Devices“ schlägt die OPEN Alliance unter anderem einen als „ESD Discharge Current Measurement“ bezeichneten Test vor, der eine Abschätzung der ESD-Robustheit auf Systemebene erlaubt. Der Test misst den in PHY1 hineinfließenden Reststrom und ermittelt die ESD-Robustheitsklasse gemäß den Testbedingungen des Human-Body-Modells.

Im Rahmen der Entwicklung des branchenweit ersten OPEN-Alliance-konformen, Silizium-basierten ESD-Schutzes für 100/1000BAASE-T1-Automotive-Ethernet-Systeme simulierte Nexperia den ESD-Entladestrom-Test mit dem SEED-Verfahren. Mithilfe dieser Simulation konnte Nexperia untersuchen, wie diverse Parameter, darunter die parasitäre Induktivität des externen ESD-Schutzbauteils sowie dessen Ansprech- und Snap-Back-Verhalten, die ESD-Robustheit auf Systemebene beeinflussen. Dieser Ansatz ermöglicht es Entwicklern auch das elektromagnetische Stress-Niveau vorherzusagen, dem andere passive Bauteile während eines ESD-Ereignisses ausgesetzt sind.

Verhalten des ESD-Schutzes
Bild 4: Simuliertes und gemessenes Verhalten (Spitzenspannung und Strom) des ESD-Schutzbauteils. (Quelle: Nexperia)

Bild 2 zeigt das Ersatzschaltbild des SEED-Modells der Referenzschaltung für den ESD-Discharge-Current-Measurement-Test. Es umfasst ein externes ESD-Schutzbauteil, die Bauteile zur Gleichtakt-Terminierung (CMT), ein Entkopplungsnetzwerk, eine Gleichtaktdrossel und ein 100BASE-T1-PHY (IC). Bild 6 zeigt das ausgeführte Test-Board.

Die Gleichtaktdrossel (CMC) enthält zwei gekoppelte Induktivitäten (hier 200 µH @ 100kHz) in einem gemeinsamen Gehäuse. Auch das ESD-Schutzbauteil kann zwei gepaarte Schutzbauteile für beide Leitungen in einem gemeinsamen Gehäuse vereinen. Alternativ lassen sich auch separate Schutzbauteile verwendet, die jeweils nur eine Leitung schützen. Ein 2-Ω-Widerstand dient als Ersatzschaltung für das PHY und der 50-Ω-Widerstand minimiert den Aufwand für die Messung des IC-Stroms. Das zwischen der CMC und den externen ESD-Schutzbauteilen angeordnete CMT-Netzwerk besteht aus vier diskreten Bauteilen plus zwei 100-nF-Entkopplungskondensatoren. Der Eingang des Test-Boards ist direkt mit dem ESD-Schutzbauteil verbunden.

Das auf die typischen statischen und dynamischen Eigenschaften des Bauteils abgestimmte Modell ist als eine Ersatzschaltung implementiert, bestehend aus diskreten Elementen, kontrollierten Quellen und Regelkreisen sowie S-Parameter-Blöcken.

Bild 3 zeigt die Übereinstimmung zwischen den simulierten und den gemessenen Stromverläufen eines 2-kV-ESD-Pulses sowohl im Bereich des ersten als auch des zweiten Peaks. Mit diesem Ergebniss können Entwickler nun jedes einzelne Element des SEED-Models – Entkopplungs- und Terminierungs-Netzwerk, CMC und ESD-Schutzbauteile – auf das elektrische Verhalten individuell evaluieren. Bild 4 zeigt dies am Beispiel des ESD-Schutzbauteils. Hier sind das gemessene und das simulierte Verhalten der Spitzenspannung und des Stroms des externen, Silizium-basierten ESD-Schutzbauteils bei TLP-Pulsen (Transmission Line Pulse) mit einer Anstiegszeit von 1 ns simuliert. Danach wurde das vollständige Modell (Bild 2) anhand von Messdaten validiert, die ein Referenz-Board mittels TLP mit und ohne externes ESD-Schutzbauteil erfasst. Das TLP-Diagramm des Referenz-Boards mit externem ESD-Schutz (Bild 5) zeigt die Mess- und SEED-Simulationsergebnisse im Vergleich. Es ist eine Übereinstimmung zu sehen, die beweist, dass das zugrundeliegende SEED-Modell nicht nur zur qualitativen, sondern auch zur quantitativen Vorhersage der Robustheit auf Systemebene geeignet ist.

Vergleich Referenz-Board und SEED-Simulation
Bild 5: Messdaten aus dem Referenz-Board und SEED-Simulationsergebnisse im Vergleich. (Quelle: Nexperia)

OPEN-Alliance-konforme ESD-Schutzbauteile

Eine elektrostatische Entladung kann überall dort auftreten, wo eine Person oder Bauteile ein elektrostatisch aufgeladenes Objekt berührt. Dies können Entwickler testen, indem sie einen ESD-Pulse nach IEC61000-4-2 in das System injizieren. Auch hier liefert die SEED-Simulation eine hervorragende Übereinstimmung mit den Messdaten. Nach diesem Konzept hat Nexperia die erste uneingeschränkt OPEN-Alliance-konforme ESD-Schutzlösung für 100/1000BASE-T1-Ethernet entwickelt. Silizium-basierte Schutzbauteile bieten einen besseren ESD-Schutz – bis 30 kV – als ältere Technologien wie Varistoren, deren Eigenschaften sich im Laufe der Zeit verschlechtern. Sie tragen dadurch zu einer signifikant höheren Robustheit auf Systemebene bei. Die ESD-Schutzbauteile im kompakten SOT23-Gehäuse PESD2ETH1G-T und PESD2ETH100-T sind ausgelegt für aktuelle Ethernet-Schnittstellen im Automobil. Zusätzlich arbeitet Nexperia an weiteren ESD-Produkte für Multigigabit-Ethernet Anwendungen. Hier rücken neben den ESD auch Signalintegritätsanforderungen in den Vordergrund. Dies hat zufolge, dass beispielsweise das Package eine zentrale Rolle einnimmt. Mit DFN-Packages (Discretes Flat No-leads) bietet Nexperia auch hier Lösungen. Diese kompakten Packages haben kleinere Streueinduktivitäten und -kapazitäten und bieten großen Vorteil bei der Signalintegrität.

Test-Board
Bild 6: Test-Board entsprechend dem Ersatzschaltbild des SEED-Modells zum ESD-Discharge-Current-Measurement-Test aus Bild 2. (Quelle: Nexperia)

Autoren

Sergej Bub

System Level ESD Expert bei Nexperia

Lukas Droemer

Product Manager bei Nexperia

Andreas Hardock

Application Marketing Manager bei Nexperia

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