Silizium-Wafer mit Halbleiterchips, Halbleiterengpass bei Automotive

Für die Elektronik-Lieferketten sind Engpässe nichts Neues, für die Fahrzeugelektronik aber schon. Die Branche muss die Halbleiter-Lieferkette umdenken. (Bild: Adobe Stock 208879405, I'm Thongchai)

Die Ursache für die aktuelle Situation bei Automotive-Halbleitern reicht bis ins Jahr 1970 zurück, als die Just-in-Time-Produktion (JIT) eingeführt wurde. Ursprünglich konzentrierte sich diese Management-Philosophie auf eine nachfrageorientierte Fertigung. Mit der Zeit hat sie sich jedoch auf die Minimierung von Verschwendungen in der Produktion verlagert. Die Philosophie wurde in den japanischen Produktionsstätten von Toyota entwickelt und perfektioniert und hat sich im Laufe der Jahrzehnte zum Standard für die gesamte Automobilindustrie entwickelt. Das Problem bei diesem Ansatz ist allerdings, dass er von einer konstanten und zuverlässigen Belieferung abhängig ist.

Just-in-Time-Logistik ist von einer konstanten und zuverlässigen Belieferung abhängig.

Aufgrund des starken Einflusses, den die Automobilindustrie auf ihre Lieferkette hat, kam sie jahrzehntelang mit nur sehr wenig Lagerbestand aus und konzentrierte sich kontinuierlich auf Kosteneffizienz. Neue Herausforderungen ergaben sich jedoch, als sich dieses Lieferkettenmodell auf elektronische Bauteile wie Standard-ICs ausweitete. Diese haben einen viel größeren Kreis von Abnehmern, zu denen auch Unterhaltungselektronik-Giganten und Smartphone-Hersteller gehören.

Was Branchenüberschneidung, Politik und Naturkatastrophen mit dem Chipmangel zu tun haben

Die Telekommunikationsbranche und die Einführung von 5G wirken sich indirekt ebenfalls auf die Lieferketten aus und treiben die Nachfrage für überschneidende Komponenten. Hinzu kommt, dass die jüngsten geopolitischen Spannungen und die Neuausrichtung von Handelsabkommen die Unsicherheit vergrößert und zu Lieferausfällen geführt haben. Dazu gehören Vergeltungszölle zwischen den USA und China sowie spezifische Handelsbeschränkungen mit Unternehmen wie Huawei während der Trump-Regierung. Da Biden erst kürzlich sein Amt angetreten hat, bleibt das Fortbestehen der Regelungen vorerst ungeklärt.

Zusätzlich zur turbulenten Handelspolitik, haben unvorhersehbare Ereignisse zu Produktionsverzögerungen oder Unterbrechungen in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie geführt. Erst kürzlich war das zehnjährige Jubiläum von „3-11“, wie es in Japan bekannt ist. Das schwere Erdbeben vor der Küste von Sendai löste einen Tsunami aus und damit eine Katastrophe im Kernkraftwerk in Fukushima. Das hatte unter anderem weitreichende Auswirkungen auf Lieferanten von Toyota und weitere Automobilhersteller.

Neuwagen in großer Menge auf Halde.
Überschneidungen mit der Unterhaltungselektronik, politische Entscheidungen und Naturkatastrophen haben der Lieferkette auch in der Vergangenheit zugesetzt. 2020 kam erschwerend die Corona-Pandemie hinzu. . (Bild: Supplyframe)

Halbleitermangel und Pandemie – wo die Zusammenhänge sind

Über die drastischen Engpässe infolge der Pandemie wurde viel diskutiert. So gab eine starke Nachfrage in der Unterhaltungselektronik, denn schließlich verbringt die Bevölkerung nun deutlich mehr Zeit zu Hause. Besonders waren neue Smartphones und Spielkonsolen gefragt – sowie neue Hardware, um von Zuhause zu arbeiten. Durch die Einschränkung der Mobilität ging gleichzeitig die Nachfrage nach Autos zurück. Doch entgegen der Erwartungen stieg die Nachfrage im vierten Quartal 2020 wieder.

Die aktuellen Engpässe zeigen, dass das System in den letzten vierzig Jahren nie an die Schwankungen und Vorlaufzeiten des Halbleitermarktes angepasst wurden.

Mike Hogan, Senior Vice President und General Manager Automotive, Industrial & Multi-Market bei Globalfoundries, sagte, dass der Just-in-Time-Ansatz bisher nur funktionierte, weil es in der Automobilindustrie stets eine stabile Nachfrage gab. Die aktuellen Engpässe zeigen jedoch, dass das System in den letzten vierzig Jahren nie an die Schwankungen und Vorlaufzeiten des Halbleitermarktes angepasst wurde.

Die Unterhaltungselektronik konkurriert um die Chips

Das eigentliche Problem, so Hogan, sei nicht die Gesamtkapazität, sondern die Kapazität über zahlreiche Schlüsselkomponenten hinweg, die auch in anderen Branchen – zum Beispiel in der Unterhaltungselektronik – Verwendung finden. Automobilhersteller beziehen die Elektronik von ihren Zulieferern, die wiederum bei mehreren anderen Lieferanten einkaufen. Diese Lieferanten stellen möglicherweise ihre eigenen Chips her, aber kaufen sie eventuell auch nur ein. Letztlich weiß der Produzent nicht, in welches Produkt die produzierten Chips eingebaut werden.

Darüber hinaus haben Automobilhersteller durch verschiedenste Konfigurationen und Modelle eine breite Produktvielfalt. Gleichzeitig beziehen sie ihre Teile bei verschiedenen Zulieferern, so dass es ihnen am Ende schwerfällt, die Priorität der einzelnen Halbleiter richtig einzuordnen. Hogan erwähnt außerdem zwei wichtige Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten für Automobilhersteller ergeben haben:

  • Die Differenzierung von aktuellen Autos liegt mittlerweile in der Halbleitertechnologie. Die gesamte Benutzererfahrung basiert auf Elektronik. „Es geht nicht mehr nur um elektrische Fensterheber", sagt Hogan.
  • Die Branche hat weder die gesamte Lieferkette im Griff noch ein genaues Verständnis dafür, auf welche Lieferungen sie sich verlassen können. Bis vor kurzem waren die Vorlaufzeiten für das Angebot relativ stabil, aber die Pandemie hat die Nachfrage und das Angebot dramatisch verändert. Dabei wurden plötzlich Lücken in Bezug auf die Transparenz und das nötige Verständnis über die Lieferkette aufgedeckt. Hogan fasst dies so zusammen: „Jeder wollte mehr, konnte aber nicht artikulieren, welche Komponenten genau gebraucht werden.”

OEMs sollten sich wie Smartphone-Hersteller verhalten

Die Branche lässt sich als umgekehrte Pyramide betrachten. Jeder ist auf die jeweils nächste Pyramidenstufe angewiesen, von der Elektronik- über die Halbleiterindustrie bis hin zur Fertigung. Ganz unten angekommen, gibt es nur eine Handvoll Akteure, die die Halbleiter herstellen können, die in der Automobilindustrie und anderen Branchen benötigt werden.

Weil die Lieferketten vollständig ausgelastet waren, konnte in dieser Struktur niemand die Probleme erkennen. Üblicherweise wird die Verantwortung in der Pyramide immer weiter nach unten geschoben – häufig zulasten wichtiger Halbleiterlieferanten. Automobilhersteller gingen davon aus, dass ein Teil der Halbleiterproduktion für sie reserviert war, was allerdings nicht der Fall war.

Automobilhersteller sollten sich daher wie Smartphone-Hersteller verhalten. Sie wissen, wohin ihr Bestand geht, woher er kommt, und haben somit einen genauen Überblick über ihre Lieferketten.

Diese 3 Strategien sollten Automobilhersteller bei Chipmangel verfolgen sollten

Während dieses Problem auf einige unmittelbare Faktoren zurückzuführen ist, werden andere Trends im Laufe der Zeit weiterhin Druck auf die Automobilproduktion ausüben. Statistiken zeigen, dass die Automobilelektronik bis 2030 die Hälfte der gesamten Fahrzeugkosten ausmachen wird. Das entspricht einem Anstieg von 15 Prozent gegenüber 2010. Gleichzeitig steht das im Einklang mit dem Aufstieg autonomer Fahrzeuge und der damit zunehmenden Komplexität der Elektronik.

Letztlich sind Automobilhersteller für Ihre Lieferketten verantwortlich. Sie können diese Gelegenheit jetzt nutzen, um sich auf die Zukunft vorzubereiten. Hier sind drei wichtige Strategien, die Automobilhersteller implementieren können, um ihre Abhängigkeit zu reduzieren:

Belastbares Design entwickeln

Wenn ein neues Design entwickelt wird oder es sich ändert, dann sollten immer alternative Lieferanten oder andere Komponentenoptionen von Anfang an in Betracht gezogen werden. Auf diese Weise lässt sich das Risiko für spätere kostspielige Neuentwicklungen mit anderen Komponenten verhindern, falls deren Beschaffung schwierig oder unmöglich wird.

Tesla ist hier ein gutes Beispiel. Der Hersteller entwirft schon seit Beginn eigene Chips und Architekturen. Dies hat zwei Vorteile: Einen eigenen Bestand und keine Notwendigkeit, diesen mit anderen Wettbewerbern oder Branchen zu teilen. Bei Mikrocontrollern kaufen Automobilhersteller zum Beispiel Standardbauteile. Zwar sind die Kosten dank des Gesamtvolumens niedriger, aber hier besteht das Risiko, dass das Angebot auf die gesamte Nachfrage aufgeteilt wird und die Teile letztlich woanders eingesetzt werden.

Flexible Lieferantenvereinbarungen treffen

Lieferantenvereinbarungen müssen die Marktschwankungen und politischen Veränderungen in der Welt widerspiegeln. Vereinbarungen sollten potenzielle Engpässe, Überschüsse und andere Änderungen des Lagerbestands berücksichtigen. Daher sollten die Vereinbarungen mit Lieferanten ein flexibles Erhöhen und Reduzieren des Bestandes erlauben.

Informationen und Einblick in die Lieferkette erweitern

Der Einsatz umfassender Echtzeit-Informationen über die Lieferkette hat große Vorteile – besonders wenn diese kombiniert wird mit einer intelligenten Auswertung. Schließlich gibt es neben den unternehmenseigenen Daten eine Fülle von Informationen, die dazu beitragen können, Engpässe zu überwinden oder andere Arten von Risiken zu mindern und gleichzeitig entstehende Chancen zu nutzen.

Autor

Richard Barnett

Richard Barnett ist CMO bei Supplyframe

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